| # taz.de -- Start der Opernsaison in Berlin: Erlösung ist nur zu hören | |
| > In Berlin startet die Opernsaison als antiker Mythos. Zu hören sind: | |
| > Opern über Ödipus von Mark-Anthony Turnage und Georges Enescu. | |
| Bild: Ödipus Eddy (Dean Murphy) fährt mit seiner Neueroberung (Irene Roberts)… | |
| Im Theater des antiken Athen war es üblich, die Tragödien mit einem | |
| Satyrspiel abzuschließen, das den reinigenden Schrecken ins Lachen auflöst. | |
| In Berlin war es letztes Wochenende umgekehrt. Ödipus, die Legende, an der | |
| Aristoteles seine Ästhetik des Tragischen entwickelt, begann mit dem | |
| Satyrspiel. Die [1][Regisseurin Pınar Karabulut] und die Dirigentin Yi-Chen | |
| Lin haben das 1988 in München uraufgeführte Stück „Greek“ von Mark-Antho… | |
| Turnage neu einstudiert. | |
| Gespielt wird auf dem Parkdeck hinter der Deutschen Oper, ein Unort von | |
| ebenjener Brutalität, in der Eddy lebt. Dean Murphy, Bariton, beginnt mit | |
| seiner Zeugung im „Tufnell-Park, ’nen Affenfurz weg von Tottenham“. Könn… | |
| auch hier passiert sein. Später haben Heidi Stober als „Mum“ und Seth | |
| Carico als „Dad“ auf der Kirmes einen Wahrsager besucht. Es wird nicht gut | |
| ausgehen mit dem Jungen. | |
| Die Kostümbildnerin Teresa Vergho hat ihn wie fast alle anderen Figuren in | |
| hellblaue, hautenge Ganzkörper-Unterwäsche gesteckt. Blondes Kraushaar und | |
| Bart vollenden die antike Popstatue aus dem Comicheft. „Greek Style“ heißt | |
| es später im Text, wenn Eddy sich die Augen ausstechen soll, weil er so | |
| furchtbare Dinge gemacht hat. | |
| ## Mit britischem Witz | |
| Hat er gar nicht, jedenfalls nicht mehr als ortsüblich. Den Manager der | |
| Kneipe, in der er einen Kaffee zum Käsekuchen haben will, aber nicht | |
| bekommt, erschlägt er mit Sprechblasen und die plötzliche Witwe nimmt den | |
| schönen Eddy nach kurzer Trauer gerne in die Arme. Er erinnert sie an Tony, | |
| ihren Sohn, der verloren ging, als der Ausflugsdampfer nach Southend auf | |
| eine Mine fuhr. Traurig, aber jetzt wird alles gut. Aus der Spelunke wird | |
| ein Café der Mittelklasse. Teatime mit Mum und Dad, die der schönen | |
| Schwiegertochter gestehen müssen, dass Eddy eigentlich nicht ihr leibliches | |
| Kind sei. Dad hat ihn aus der Themse gefischt … | |
| Steven Berkoff, Schauspieler in zahllosen Filmen, unter anderem | |
| „Octopussy“, hat diesen Text geschrieben, der schon als Theaterstück ein | |
| reines Vergnügen wäre. Turnage hat dazu eine Musik erfunden, die den | |
| britischen Witz auf die Spitze treibt. | |
| ## Feministische Brandreden | |
| Stampfende Rhythmen von Fußball-Hooligans stehen neben sehnsüchtigen | |
| Liebesliedern, minutiös auf die Silbe genau instrumentiert von sehr viel | |
| Schlagwerk, Blechbläsern, Saxofon, Bratsche, Cellis und Kontrabass. Es geht | |
| pausenlos zur Sache, die thebanische Sphynx tritt gleich vierfach als | |
| aufgeblasenes Monster auf und hält feministische Brandreden: „Männer muss | |
| man töten!“ Eddy kommt trotzdem davon, weil er die Frau wirklich liebt, die | |
| hier einfach „Wife“ heißt, gesungen und gesprochen von Irene Roberts. Kein | |
| Greek-Style mehr, er kehrt ins Bett zurück in den Schoß der Frau, der | |
| „Ausgang des Paradieses und Tor zum Himmel“ sei. | |
| Noch eine Männerfantasie also. In den bunten Kulissen, die Michaela Flück | |
| in die Bauwüste des Parkdecks gestellt hat, konnte man darüber noch lachen. | |
| Die Tragödie dieses Mannes jedoch, [2][„Oidipous Thyrannos“, wie er bei | |
| Sophokles heißt], kam schon am Sonntag auf die Bühne zurück mit einer | |
| Gewalt, die an die Grenzen des Erträglichen ging. [3][Evgeny Titov] hat an | |
| der Komischen Oper „Oedipe“ inszeniert, die einzige Oper des Komponisten, | |
| Geigen- und Klaviervirtuosen George Enescu. Sie ist 1936 in Paris | |
| uraufgeführt worden und steht als einsamer Findling in der Geschichte der | |
| Moderne. | |
| Zu hören sind unter anderem neoklassische Formstrenge, modale Erweiterungen | |
| der Tonalität, mikrotonale Elemente aus der Volksmusik der rumänischen | |
| Heimat des Komponisten, impressionistisch verfeinerte Klangfarben, | |
| kammermusikalische Solopassagen und massive Akkordgebirge des romantischen | |
| Symphonieorchesters. Dazu Gesangslinien von einfacher und klarer | |
| Ausdruckskraft. Ainars Rubikis, der Chefdirigent der Komischen Oper, gibt | |
| im Programmheft zu, dass er einige Zeit brauchte, um sich in diese Partitur | |
| hineinzufinden. | |
| Seine Mühe hat sich gelohnt. Das Orchester spielt mit makelloser | |
| Konzentration eine Musik von kaum fassbarem Reichtum an Schönheit und | |
| Tiefe. Den Text dazu hat Edmond Fleg geschrieben, ein jüdischer Literat, | |
| der sich auf beide Ödipus-Texte von Sophokles gestützt hat, auch auf | |
| „Oidipous epi Kolonos“. Die Eumeniden sprechen darin den Tyrannen von | |
| seiner Schuld frei, weil er sein Schicksal akzeptiert. So endet jetzt das | |
| Muster aller Tragik in einer Erlösung, die sehr christlich aussieht, „Seine | |
| Seele ist rein“, singt der Chor. | |
| Aber offenbar wollte schon Sophokles das Grauen nicht so stehen lassen, das | |
| auch bei Enescu und Fleg entsteht. Der Bühnenbildner Rufus Didwiszus hat | |
| die Bühne in einen ausweglosen Betonsarg verwandelt. Leigh Melrose in der | |
| Titelrolle schaut zu, wie Karolina Gumos als Jokaste ein Kind gebiert. | |
| Unter Schmerzen, das Volk feiert, bis Jens Larsen als blinder Seher | |
| Tiresias auftritt. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, der Regisseur erlaubt | |
| keine Abschweifung bis hin zur aristotelischen Wiedererkennung. Jokastes | |
| Blut spritzt, Ödipus blendet sich. | |
| Danach ist man froh, noch eine ganze Weile Enescus Musik zuhören zu dürfen, | |
| die Melroses Oedipe und Mirka Wagner als Antigone, seine Tochter und | |
| Schwester, nach Kolonos begleitet. Der Betonsarg bleibt. Der Hain des | |
| Friedens und der Erlösung ist nur zu hören. Zu sehen ist er nicht. Große | |
| Oper wäre dafür zu wenig gesagt, es ist antikes Elementartheater an einem | |
| christlichen Sonntag im verregneten Berliner Sommer. | |
| 30 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Niklaus Hablützel | |
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