| # taz.de -- Performerin über Schubert und Migration: „Ein stummer Schrei“ | |
| > Das Ensemble „Nico and the Navigators“ deutet Schuberts Musik neu: Die | |
| > Performance „Silent Songs“ in Hitzacker sucht Bezüge zur | |
| > „Flüchtlingskrise“. | |
| Bild: Puristisch und intim: Yui Kawaguchi und Ted Schmitz in „Silent Songs“ | |
| taz: Frau Hümpel, warum eignet sich Schubert für Ihr „Staged Concert“ – | |
| eine Performance zur „Flüchtlingskrise“? | |
| Nicola Hümpel: Ganz so tagesaktuell ist es nicht gemeint – und wird er | |
| nicht gedacht! Schubert ist zeitlos! Ich bin in meinem Leben immer wieder | |
| auf ihn gestoßen, er spielt in fast jeder Produktion eine Rolle. Jetzt, für | |
| die Wiederaufnahme des Stücks „Silent Songs“, die erstmals mit dem von | |
| Oliver Wille geleiteten Kuss-Quartett in Hitzacker gespielt wird, ist mir | |
| neu bewusst geworden, wie aktuell die von Schubert vertonten Texte von | |
| Wilhelm Müller, Heine und Goethe sind. Deshalb haben wir – das Team der | |
| [1][Navigators –] beschlossen, die Texte ins Zeitgefühl von heute zu holen | |
| und assoziativ mit aktuellen Themen zu verbinden. | |
| Welche Texte wären das zum Beispiel? | |
| Im „Wanderer“ etwa heißt es: „Wo bist du, mein geliebtes Land – gesuch… | |
| geahnt, ungekannt, das Land, das Land so hoffnungsgrün, das Land, wo meine | |
| Rosen blühn?“ Das ist hoch aktuell. Wir wollten aber auf keinen Fall eine | |
| illustrative Flüchtlingsgeschichte zeigen. Deshalb haben wir die | |
| Inszenierung ganz puristisch gehalten. Die AkteurInnen tragen alltägliche, | |
| fast monochrome Kostüme und versetzen sich in eine innere Welt, die sehr | |
| schlicht und assoziativ ist. | |
| Wie begegnen die SängerInnen und TänzerInnen Schuberts Liedern? | |
| Sie versuchen, die Texte fast biografisch zu singen. Das ist sehr | |
| facettenreich, denn die AkteurInnen kommen aus sieben Nationen, haben fast | |
| alle signifikante Erfahrungen mit Abschieden und flechten kurze | |
| biografische Texte ein. Manchmal gibt es kleine Ausflüge: Was passiert, | |
| wenn man sich heute ganz auf Schubert einlässt? Dann kann es passieren, | |
| dass man in Lachen ausbricht, ein Weinen, einen Schrei oder Tanz oder eine | |
| kurze eigene Interpretation passieren. | |
| Verfremden Sie die Lieder? | |
| Nein. Wir arbeiten immer zunächst mit dem Original, singen die Lieder meist | |
| eins zu eins, aber en passant entstehen zeitgenössische Bilder und | |
| Beziehungen zwischen den AkteurInnen. Oder die Begleitung einer E-Gitarre | |
| lässt das Ganze auf einmal sehr zeitgenössisch klingen. Wir nehmen auch | |
| nicht alles extrem ernst. „Im Frühling“ zum Beispiel wird fast persifliert. | |
| „Wanderer“ oder „Meeresstille“ dagegen vertragen solche Zwischentöne n… | |
| Aus den Zyklen „Die schöne Müllerin“, „Winterreise“ und „Schwanenge… | |
| haben wir Lieder gewählt, in denen Motive wie „Wandern“, „Abschied“, | |
| „Heimatsuche“, „Fremdsein“, „Einsamkeit“ zu finden sind. Diese Them… | |
| sowohl den roten Faden Schuberts als auch den für unser Staged Concert vor. | |
| Sie konfrontieren uns auch mit der anhaltenden Flüchtlingssituation. | |
| Es geht Ihnen weniger um Schuberts mutmaßliche Ideen als um das, was er | |
| auslöst? | |
| Ja, genau! Wobei ich glaube, dass unsere Gedanken und Gefühle angesichts | |
| seiner Musik den damaligen Inspirationen durchaus ähneln können – aus einer | |
| anderen, heutigen Sicht. Das ist ja gerade das Spannende an der Arbeit mit | |
| Schuberts Musik: dass sich Lebenserfahrung und Weltwahrnehmung nicht | |
| wirklich verändert haben. | |
| Thematisiert der Abend auch den Ökozid – Hochwasser, Hitzewellen, | |
| Flächenbrände? | |
| Wir denken das auf jeden Fall mit, denn auch hier geht es um Heimatverlust | |
| und Flucht: Wo gehen wir hin, wenn wir nicht mehr da sein können, wo wir | |
| wollen? Da ist es gar nicht mehr so wichtig, das [2][Eifel-Hochwasser] | |
| kurzfristig noch textlich einzubauen. Wir haben den Abend eher assoziativ | |
| gebaut, und es genügt, das Bewusstsein mit in die Szene zu nehmen. Wir | |
| arbeiten ja generell viel mit Subtext und weniger mit konkreten Bildern. | |
| Ein Beispiel? | |
| Während des Liedes „Meeresstille“ sehen wir eine kleine Gruppe, die still | |
| und eng nebeneinander an einem Ort steht – wie auf einem Floß oder Boot. | |
| Dazu hört man sehr leise, fast klirrend stille Klänge, die für die | |
| Meeresstille stehen. Dazu sieht man – durch die Kameratechnik, die das | |
| Bühnengeschehen live überträgt, stark vergrößert – die Gesichter. Wir | |
| blicken sehr intim in ihren Ausdruck, sehen jede Träne, jedes | |
| Augenbrauenzucken. Wir sehen, wie die Blicke in die Ferne gehen und | |
| vergebens nach Land suchen. Ein Mensch fängt wirklich an zu weinen, weil er | |
| nur das Nichts sieht. Die Gesichter stehen quasi allein, ohne Worte, aber | |
| die Emotionen sind da. Und sie sind authentisch. | |
| Wie zeigt sich das?? | |
| Die Tänzerin Yui Kawaguchi, die einen stummen Todesschrei ausstößt, kommt | |
| aus Tokio, hat den Tsunami und das Reaktorunglück von [3][Fukushima] | |
| erlebt. Der israelische Tänzer Michael Shapira zitiert ein hebräisches | |
| Gedicht. Und die neu hinzugekommene syrische Tänzerin Lujain Mustafa, die | |
| 2015 mit dem Schlauchboot über sieben Länder hierher [4][floh], erzählt, | |
| dass sie seither ihre Eltern nicht mehr sah und dankbar ist für das | |
| Internet, durch das sie mit ihnen kommunizieren kann. | |
| Und welche Rolle spielen die Kameras? | |
| Sie zu nutzen, war ein ganz bewusster Schritt. Jahrzehntelang hatte ich | |
| mich gegen jegliche Videotechnik gewehrt, weil ich das effekthascherisch | |
| fand. Dann habe ich in meiner Inszenierung von Philippe Boesmans „Reigen“ | |
| an der Stuttgarter Oper erstmals mit dieser Technik arbeiten dürfen. Das | |
| hat mich begeistert, weil die OpernsängerInnen, die sonst immer so klein | |
| und zappelig mit überbordenden Gesten singen müssen, jetzt natürlich | |
| agieren konnten, wahnsinnig fein und intim. Das war vor sechs Jahren, und | |
| seither habe ich diese Technik immer weiter perfektioniert. Inzwischen | |
| arbeiten wir vom ersten Probentag an mit diesem Medium. Wir zeichnen nichts | |
| auf, sondern arbeiten direkt in die Kamera hinein. | |
| Was bedeutet das für die AkteurInnen? | |
| Zum Beispiel, dass sie sich in bestimmten Momenten nicht groß bewegen | |
| dürfen. Sie müssen sich sehr ruhig verhalten, weil den ZuschauerInnen | |
| schlecht wird, wenn das Bild permanent wackelt und der Rhythmus der Musik | |
| zerstört wird. Andererseits können die AkteurInnen eine unglaubliche | |
| Intimität und einen Sog entwickeln, denn das Publikum guckt direkt in die | |
| Augen, in die Seele der SängerInnen und TänzerInnen. Dafür müssen sich die | |
| KünstlerInnen daran gewöhnen, nicht in den Zuschauerraum zu gucken, sondern | |
| in die Kamera. Irgendwann setzt der Moment ein, in dem das richtig | |
| funktioniert und die SängerInnen die Energie des Publikums spüren. Die | |
| Stille im Raum. Und man wird fast süchtig danach, dem Publikum über dieses | |
| Medium nahe zu kommen. | |
| Sieht das Publikum ausschließlich den Live-Film? | |
| Nein, es sieht auch die Bühne. Man kann sich entscheiden, den Live-Spieler | |
| anzugucken, aber man hat eben auch die „Lupe“ – ein modernes Opernglas. | |
| Zugleich – und das gefällt mir besonders – demokratisiert die Kamera die | |
| Position im Zuschauerraum. Es gibt keine billigen Plätze mehr, auf denen | |
| man weniger sieht, sondern man erlebt im ganzen Saal dasselbe. | |
| 30 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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