| # taz.de -- Konzert-Performance in Hitzacker: „Selbstvergessen den Klang erfo… | |
| > Höhepunkt der Sommerlichen Musiktage Hitzacker ist „Myriad“, eine | |
| > Spieldosen-Installation der Komponistin Rebecca Saunders. Nach der | |
| > Eröffnungs darf jeder selbst drauf spielen. | |
| Bild: Weiße Wand wird Klang: Rebecca Saunders mit Spieldosen | |
| taz: Frau Saunders, warum haben Sie „Myriad“ ausgerechnet mit Spieldosen | |
| bestückt? | |
| Rebecca Saunders: Einerseits, weil mich Spieldosen-Klänge schon lange | |
| interessieren und ich sie immer wieder in Kompositionen einbaue. Die | |
| Spieldosen-Wand, die – nach einer Station im Mai in Schwetzingen – mit | |
| Hitzacker zum zweiten Mal in Europa erklingt, habe ich mit Martin Rein-Cano | |
| und seinem Landschaftsarchitekturbüro Topotek 1 ursprünglich für die | |
| Architekturbiennale 2015 im chinesischen Shenzen erstellt. Eine Bedingung | |
| war, dass man sich auf die Industrie der Region bezog, daher die 2.464 | |
| Spieldosen. | |
| Welche Melodien erklingen? | |
| Ich habe Dosen mit 60 nicht urheberrechtlich geschützten Melodien aus aller | |
| Welt gewählt. Das reicht von Kindermelodien bis zu Puccini, Beethoven, | |
| Mozart, Haydn. Wir haben moderne chinesische und japanische Stücke, | |
| Nationalhymnen, das israelische „Hawa Nagila“ – alle möglichen Melodien, | |
| die für viele einen Bezug zur Kindheit, zur Vergangenheit, zum Heimatland | |
| herstellen. | |
| Und wie wird das Konzert ablaufen? | |
| Für die Vernissage-Performances werden die jungen Musiker der | |
| Festival-Akademie und ich uns drei Tage lang mit den Spieldosen-Klängen | |
| befassen. Wir werden sie mit Instrumenten nachahmen und Bezugspunkte | |
| suchen. Am Ende soll ein Stück stehen, in dem Spieldosen und Orchester | |
| zusammenwirken. | |
| Danach darf das Publikum spielen. | |
| Ja. Nach der Vernissage-Performance bleibt die Installation bis zum Ende | |
| der Musiktage stehen, sodass jeder die Dosen aufziehen und sein eigenes | |
| Stück spielen oder komponieren kann. | |
| Das klingt sehr partizipativ. | |
| So politisch sehe ich es gar nicht. Ich will einen Raum öffnen, in dem der | |
| Zuhörer der Musik begegnet. Wo er einen Bezug zum Klang entwickeln und | |
| diesen Moment des Zuhörens außerhalb der Realität mitgestalten kann. | |
| „Myriad“ birgt außerdem einen interessanten Widerspruch: Die Spieldosen | |
| sind aufgereiht auf einer brutalistisch weißen Wand. Die ist eigentlich | |
| überdimensioniert. Trotzdem fühlt man sich sofort hingezogen und hat Lust, | |
| das Ohr an die Spieldose zu legen und selbstvergessen den Klang zu | |
| erforschen. Jeder einzelne kann in voller Achtsamkeit die Klänge | |
| ausprobieren. | |
| Ist auch die Unvollkommenheit Teil Ihres Konzepts? | |
| Ja, und ein sehr wichtiger. Wenn man mit Ensembles arbeitet, merkt man, | |
| dass jedes Konzert anders klingt. Jede Aufführungssituation ist anders, | |
| jede Akustik, jeder Fehler. Es ist unmöglich, etwas perfekt zu spielen. Das | |
| wirft die Frage auf: Was ist ein Fehler? | |
| Die Antwort? | |
| Es ist ein Moment in der Zeit. Eine jedes Mal neue Situation. Ich finde es | |
| sehr schön, dass uns Musik diese Spontanität schenkt. Auf der anderen Seite | |
| untersuche ich unglaublich gern Klänge am Rand der Stille. Diesen | |
| Zwischenmoment zu untersuchen und auf ihn aufmerksam zu machen, finde ich | |
| spannend. | |
| Wo verläuft die Grenze zwischen Stille und Geräusch? | |
| Das auszuloten, ist etwas sehr Poetisches. Wenn ein Geiger langsam anfängt, | |
| den Bogen zu bewegen, ist das erst mal nur eine Geste. Irgendwann wächst | |
| ein Geräusch aus dem Nichts, wird zu einem konkreten Klang. Diese Schwelle | |
| zwischen dem Nichts und dem Klang fasziniert mich. Denn als Komponist | |
| erzeuge ich ja keine neuen Klänge. Ich nehme die vorhandenen, gebe ihnen | |
| einen Rahmen, filtere. Ich gebe dem Zuhörer die Möglichkeit zu bemerken, | |
| wie ein Klang gestaltet wird in Raum und Zeit. | |
| Und was bedeutet Ihnen die Pause? Gleicht sie dem Weißraum eines Gemäldes | |
| oder einer Kalligrafie? | |
| So könnte man es sagen. Wenn man Musik schreibt, denkt man unweigerlich | |
| irgendwann: Was ist dieses weiße Blatt, dieser weiße Raum vor mir? Was | |
| bedeutet dieses satte Nichts? Und man wird sich dessen bewusst, dass jede | |
| Note, die man auf dieses Blatt schreibt, perfekt sein sollte, damit dieses | |
| Nichts sein Gleichgewicht behält. Dieser Gedanke hat mir sehr geholfen, als | |
| ich jünger war: mir vorzustellen, dass diese Stille perfekt ist, und du | |
| setzt da einen Klang hinein. Der irgendwann zu einer Reihe von | |
| Klangereignissen wird. | |
| Wie Bilder in einem White Cube? | |
| Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Ein Musikstück funktioniert nicht | |
| wie ein zweidimensionales Ereignis, wo ein Bild auf das andere folgt. | |
| Klangereignisse sind eher wie Skulpturen, die sich einen gemeinsamen Raum | |
| teilen. | |
| Musik wäre also dreidimensional. | |
| Ja, und das stimmt ja auch physikalisch. Musik besteht aus Klangwellen. Es | |
| gibt den kurzen Augenblick, in dem sich der Klang durch den Raum bewegt, | |
| und dann ist die Welle vorbei. Zuhören bedeutet eine aktive Teilnahme an | |
| diesem physikalischen Phänomen. | |
| Sie haben mal gesagt: An der Musik meines Lehrers Wolfgang Rihm fesselt | |
| mich, dass sie nicht melodiös ist, sondern statisch. Warum? | |
| Als ich Ende der 1980er-Jahre erstmals Rihms Musik hörte, war das für mich | |
| sehr befreiend. Ich war Anfang 20, studierte in Edinburgh und hatte noch | |
| nie ein Live-Stück gehört, das ohne Melodie auskam. Es war für mich eine | |
| sehr wichtige Erfahrung, eine Musik von solcher Schönheit und | |
| Ausgewogenheit zu hören, wo der Klang in der Stille und im Echo zu hören | |
| war. Das ist eine Musik voller Farbe, voller dynamischer Klangobjekte. Ich | |
| fand sie extrem expressiv, obwohl nicht der Hauch einer Melodie erklang. | |
| Das hat mir den Mut gegeben, meinen Weg weiterzugehen. | |
| Sie haben einige Stücke nach Farben benannt – Purpur, Rot. Ist Musik für | |
| Sie Synästhesie? | |
| Nein – obwohl ich Klänge oft mit Farben assoziiere. Eigentlich habe ich die | |
| Farb-Metapher entwickelt, als ich anfing, über meine Musik zu sprechen. | |
| Farben werden genauso subjektiv wahrgenommen wie Klänge und sind genauso | |
| flüchtig. Außerdem habe ich mich lange mit der Symbolik von Farben in der | |
| Kunst befasst. Welche Wirkung hat Zinnoberrot in der Malerei, welche | |
| kulturhistorische und emotionale Bedeutung transportiert es? | |
| Welche denn? | |
| Dieses Zinnoberrot – ähnlich dem Coca-Cola-Rot – ist die erste Farbe, die | |
| das Baby wahrnimmt. Und im Sterben sehen wir als Letztes ebenfalls Rot. Rot | |
| hat etwas Dringliches und kann eine unglaubliche Energie in sich tragen. | |
| Blau assoziiere ich eher mit Ruhe und Zeitlosigkeit. Man kann einer Farbe | |
| ganze akustische Landschaften zuordnen, und einige meiner früheren | |
| Farben-Stücke können als eine Art emotionaler Zustand gehört werden. | |
| Und was bedeuten Ihnen Alltagsgeräusche? | |
| Viel. Ich liebe es, die Deutsche Bahn zu hören, den Grundton der Wagen | |
| festzulegen und die Obertonreihe, wenn sie beschleunigen. Oder wenn hier | |
| renoviert wird und die Backsteine – bing, bing, bing – in die Straße | |
| geklopft werden: Die großstädtischen Klänge sind wunderbar! Ich würde | |
| niemals auf dem Land leben wollen. | |
| 29 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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