# taz.de -- Impulstanzfestival in Wien: Intimität dank eines „Matches“ | |
> Performerin Samira Elagoz unternahm eine Expedition in die bizarre „Mitte | |
> der Gesellschaft“. Ihr Publikum formuliert indes Reinheitsgebote. | |
Bild: In ihrer Performance sitzt Samira Elagoz allein vor der überlebensgroße… | |
Eines Tages packte eine junge Frau ihre Kamera und zog hinaus in die Welt – | |
das Wundern zu lernen und das Fürchten zu verlernen. Aber Samira Elagoz, | |
eine in Amsterdam lebende finnische Performerin, begab sich nicht direkt | |
dorthin, sondern nahm den Umweg über diverse digitale Tausch- und | |
Kuppelbörsen. Dort fand sie die 15 durchweg männlichen „Craigslist | |
Allstars“, wie ihr erster Film heißt. | |
Wo jeder erdenkliche Wunsch eine Rubrik hat, erfüllbar erscheint und | |
darüber hinaus Erfüllung geradezu einfordert – „Looking for Strangers, Fr… | |
(24)“ –, machte sie einen Dokumentarfilm. Das Konzept: Wir treffen uns bei | |
dir, lernen uns kennen, Ende offen, Kamera läuft. Es folgt die Expedition | |
ins Fremde, Ungeahnte und Bizarre, aus dem sich die viel zitierte „Mitte | |
der Gesellschaft“ offenbar zusammensetzt. | |
Samira Elagoz’ Debüt ist mittlerweile auf vielen Dokumentarfilmfestivals | |
international gut vertreten. Beim Wiener Impulstanzfestival zeigt die | |
26-Jährige den Film „Craigslist Allstars“ parallel zu ihrer Bühnenarbeit | |
„Cock, Cock. Who’s There?“ in der Nachwuchsreihe „8:tension“. Ihre Bi… | |
fördern lauter gesellschaftslose Monaden zutage. In der Isolation spitzt | |
sich deren jeweils sehnlichste Wünsche mit der Gewalt eines Fetischs zu. | |
So erläutert in den „Craigslist Allstars“ der großbürgerliche Sadist im | |
feinen Zwirn beiläufig zum flotten Klaviervortrag sein Konzept der | |
Menschheitsbeglückung. Der sanfte (europäische) Greis im Kimono sondert | |
beim Fesseln einer jungen Frau esoterisches Geschwafel aus der | |
S/M-Abteilung ab. Der Typus „netter Bursche“, mit dem eine Frau Mitte | |
zwanzig durchaus eine gute Zeit haben kann, kommt vor, macht aber dennoch | |
nicht froh. Auch nicht, dass Elagoz’ diszipliniertem Cinéma-vérité-Stil | |
gelegentlich der Gaul durchgeht und bei den Freakshowelementen einschlägig | |
televisionärer Kuppelshows landet. | |
## Herumvögeln „als Feministin“ | |
Ihre Eins-zu-eins-Konfrontationen bewahren ein Unbehagen, das schnelle | |
Schnittfolgen nicht wegunterhalten. Es irritiert das Verschwinden | |
konventioneller Präliminarien, die die Gesellschaft nahen persönlichen | |
Begegnungen einst voranstellte, um Vertrauen zu bilden oder Disparitäten zu | |
mildern. Das ganze Flirten, Balzen und Charmieren zwischen jedweden | |
Geschlechtern sollte einst Erwartungshorizonte klären und die Gefahr | |
unerwünschter Handlungsfolgen minimieren. | |
Der Suche/Finde-Mechanismus dagegen öffnet das Paradox einer postsozialen | |
Sozialisation, die intime Begegnungen nicht im spielerischen Erproben | |
sondern im „Match“ der Kategorien herstellt. Die Begegnungen mit | |
Unbekannten in ungewohnter Umgebung beinhaltet Gefährdungen bis hin zu | |
sexueller Gewalt. Der „Craigslist Killer“ (2011) hat es als Typus unserer | |
Zeit schließlich schon zum Spielfilmsujet gebracht. | |
Die pragmatische Reaktion wäre, die latente Gewalt der Situation „als Frau“ | |
lieber zu umgehen. Als Künstlerin will sich Samira Elagoz diesem | |
paternalistischen Rat nicht fügen und weigert sich in ihrer Arbeit, den | |
digitalen Raum den Allmachtsfantasien männlicher Delinquenz zu überlassen. | |
Sie fragt im Gegenteil, ob das Versprechen unkomplizierter Wunscherfüllung | |
nicht auch ihr gelten könne. Das kommt nicht immer gut an. | |
In einem Publikumsgespräch, so heißt es, sei moniert worden, dass sie in 3 | |
der 15 Fälle die Gelegenheit wahrgenommen habe, mit den Probanden in | |
Verkehr zu treten. Ins Konzept politischer Korrektheit schleichen sich | |
anachronistische Reinheitsvorstellungen, wenn diskutiert wird, in welchem | |
Umfang frau „als Feministin“ herumvögeln dürfe. Das Vordringen des | |
antifeministischen Rollbacks bis in ein vorwiegend junges Festivalpublikum | |
erschreckt jedenfalls. | |
## Irgendwas muss schiefgelaufen sein | |
In der Theaterversion „Cock, Cock. Who’s There?“ sitzt Elagoz ganz allein | |
auf der leeren Bühne vor der überlebensgroßen Leinwand, unterbricht, | |
kommentiert und kontrastiert mit persönlichen Erzählungen das Bildmaterial, | |
und geht noch einen Schritt weiter. Ihr Interesse an den Projektionen | |
anderer sei Resultat von sexueller Gewalt in einer Beziehung. Ihre | |
Recherche gerät unter diesen Auspizien zur Wiederherstellung von | |
Souveränität. | |
Selfies aus der Vorzeit der Pubertät erzählen von der Zumutung, vor der | |
Entdeckung der eigenen sich mit der Sexualität anderer auseinandersetzen zu | |
müssen. Den Abschluss der Performance bildet das Standbild vom Plakat eines | |
bekannten Fotografen, der im Ruf steht, in der Nutzung des symbolischen | |
Kapitals seiner Kunst mit den meisten seiner Modelle zu schlafen. Ihm könne | |
allenfalls Zurückweisung widerfahren, sagt Elagoz. Wo sie so handle, | |
riskiere sie Leib und Leben. Irgendetwas muss schiefgelaufen sein mit der | |
sexuellen Befreiung. | |
Den Paukenschlag dieser Performance hätte wohl das Showcase-Format eines | |
jeden gut sortierten Festivals, Theater- oder Tanzhauses gerne im Programm | |
gehabt. In der „8:tension“-Reihe des Wiener Impulstanzfestivals bleibt | |
diese Arbeit in ihrem Einsatz und ihrer Wirkungsmacht singulär, versucht | |
das Festival in seiner „Nachwuchsschiene“ doch auch leiseren und subtileren | |
Arbeiten Aufmerksamkeit zu verschaffen. | |
Überhaupt scheinen sich die Rekrutierungsroutinen der umherschweifenden | |
Talentscouts ein wenig totzulaufen, in einem Abschlusspanel der Reihe wird | |
von Krise die Rede sein. Die Ausschau nach dem „next big thing“ zeigt nicht | |
mehr die erwarteten Ergebnisse, geht sie doch von einem im Grunde | |
darwinistischen Modell aus, in dem ein naturwüchsiges Kunstwollen mit aller | |
Gewalt ans Licht drängt. | |
## Am Hype hängt doch (nicht) alles | |
Die kuratorischen Sammler und Jäger müssten demnach das frühreife Talent | |
nur pflücken und als Trophäe zum beiderseitigen Distinktionsgewinn in die | |
Auslage stellen. Die Sache ist komplizierter. Auf schnelle Effekte setzende | |
Förderpolitik lassen ein Arbeiten, dass über die schnelle Hervorbringung | |
eines Markenkerns hinausgehen will, kaum mehr zu. Der Mechanismus der | |
Frischfleisch verzehrenden Kuratorenkunst droht zu überhitzen. | |
Das Wiener Impulstanzfestival scheint hier anders aufgestellt. Mit seinem | |
international ausgerichteten Stipendienprogramm „Dance WEB“ ist es selbst | |
eine Art von saisonaler Postgraduiertenanstalt. „8:tension“ könnte man auch | |
als dessen logische Fortsetzung verstehen. | |
Die teilnehmenden Arbeiten spielen nicht nur in zumeist größeren Sälen als | |
die, an denen sie bislang zu sehen waren, sondern bieten auch Gelegenheit, | |
über zwei Wochen lang im eigenen Studio weiter zu proben an laufenden | |
Arbeiten und einen Austausch im professionellen Umfeld zu erfahren. Am Hype | |
hängt doch (nicht) alles. | |
Von Feldforschung ist die Rede, aber auf welchen Feldern forschen die | |
Performer? Das in Wien ansässige Trio Costas Kekis, Anna Prokopová & Petr | |
Ochvat lotet in „It beats soft in the veins“ die körperlichen Qualitäten | |
der Stimmerzeugungen aus und begreift choreografische Arbeit vermehrt | |
wieder als etwas, das in der Interaktion eines Ensembles stattfindet. | |
## Mal im Eisbärenkostüm, mal im Gestus der Operndiva | |
Interesse gilt dem Widerstand, den der Körper in seiner Materialität der | |
choreografischen Idee entgegensetzt. Claire Vivianne Sobottke strapaziert | |
ihn in „Strange Songs“ mal im Eisbärenkostüm, mal im Gestus der Operndiva, | |
mal in frontaler Nacktheit auf der Showtreppe – aber immer wieder | |
publikumsbeschimpfend, bis die auf dem weiblichen Körper lastenden | |
Bildentwürfe ziemlich in Verwirrung geraten. | |
Bei Rachel Young und Dwayne Anthony wiegen und schlängeln sich zunächst | |
schwitzende Körper unter Netzstrumpftexturen im Halbdunkel. Aus den Boxen | |
wummern Dancehall-Nummern, die die beiden BritInnen mit jamaikanischem | |
Hintergrund aus ihrer musikalischen Sozialisation mitgebracht haben und in | |
ihre Performance „Out“ einspeisen. | |
Der Trockeneisnebel verfliegt, beide steigen in High Heels, in die | |
Soundcollage mischt sich die schnarrende Stimme eines | |
christlich-fundamentalistischen Predigers und steigert sich bis in einen | |
quälenden Loop. | |
Die Homophobie karibischer Communities ist diesen Körpern mehr als ein | |
Sprachproblem für die genderqueere Mittelschicht. Ihre Waffe ist die | |
Entwaffnung. Sie schälen Orangen, verteilen sie im überheißen Saal ans | |
dürstende Publikum und klatschen die Früchte gegen ihre Haut, wie Körper, | |
die im gemeinsamen Schweiß eins werden. | |
7 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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