| # taz.de -- Fragwürdige Inobhutnahmen: Ins Heim wegen zu viel Mutterliebe | |
| > Jugendämter nehmen Alleinerziehenden die Kinder weg, wenn die Bindung | |
| > angeblich zu eng ist. Das zeigt eine Fallstudie eines Soziologen. | |
| Bild: Zuviel Mutterliebe? | |
| Hamburg taz |Weil sich viele Betroffene an ihn wandten, hat der Hamburger | |
| Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer eine kleine Studie über | |
| Kindesentziehungen durch den Staat erstellt. Eine Auswertung von 42 | |
| Fallverläufen aus sechs Bundesländern von 2014 bis 2019 weist nach, dass | |
| Alleinerziehenden die schulpflichtigen Kinder weggenommen wurden, ohne dass | |
| es Hinweise auf Gewalt oder Vernachlässigung in den Familien gab. Der Grund | |
| war ein Verdacht auf zu enge Mutter-Kind-Bindungen. | |
| Zwei Drittel der Fälle stammen aus Schleswig-Holstein, Hamburg und | |
| Niedersachsen, die übrigen aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und | |
| Baden-Württemberg. Hammer nennt die Ergebnisse „fachlich, humanitär und | |
| verfassungsrechtlich nicht tragbar“. | |
| Der studierte Soziologe war selbst bis 2013 Referatsleiter für Jugendhilfe | |
| in der Hamburger Sozialbehörde und setzt sich seither weiter für | |
| Kinderrechte ein. Nach einer Anhörung im Bundestag im Sommer 2017 seien | |
| insgesamt 167 Fälle an ihn herantragen worden. Auch Mitarbeiter von | |
| Jugendämtern versorgten ihn mit Unterlagen, mit der Bitte, die Dinge | |
| aufzubereiten und publik zu machen. | |
| ## Die Frauen wandten sich meist selbst ans Jugendamt | |
| Hammer wählte nun 42 Fälle für eine Analyse aus. Bei den Betroffenen | |
| handelt es sich um 39 Mütter und drei Omas, die Kinder sind zwischen 8 und | |
| 16 Jahren alt. Die meisten Mütter hatten Abitur, neun von ihnen hatten | |
| einen Uni-Abschluss. | |
| Die Frauen hätten sich meist von sich aus ans Jugendamt gewandt mit der | |
| Hoffnung auf eine Mutter-Kind-Kur oder andere Unterstützung für sich und | |
| ihr Kind. Sie hätten sich beim Amt „vertrauensvoll geöffnet“ und auch üb… | |
| „Erziehungsprobleme und Überlastung im Alltag“ gesprochen. „Die Hoffnung… | |
| wurden nicht erfüllt“, schreibt Hammer. Um so entsetzter seien die Frauen | |
| gewesen, als ihre Beschreibungen später Grund für eine Fremdunterbringung | |
| waren. | |
| Bei allen 39 Müttern ging die zuständige Fachkraft im Jugendamt von einer | |
| zu engen oder zu belasteten Mutter-Kind-Beziehung aus – ohne ein | |
| psychologisches oder psychiatrisches Gutachten einzuholen, sondern aufgrund | |
| von eigenen Einschätzungen sowie von Nachbarn, Ex-Partnern und deren | |
| Eltern, die „durchweg extrem zu Lasten der Mütter ausfielen“. | |
| Die Frauen seien an der „Hilfeplanung“ erst nur formal, später gar nicht | |
| beteiligt worden. Die Hälfte von ihnen habe der Fremdplatzierung des Kindes | |
| formal erst mal zugestimmt, in der Hoffnung, durch ihre | |
| „Mitwirkungsbereitschaft“ die Chancen auf eine schnelle Rückkehr zu | |
| erhöhen. Dies hätten sich die Frauen später als schweren Fehler angelastet, | |
| weil sie damit ihr Kind selbst ins Heim verbannten. Den Kindern sei gesagt | |
| worden, sie seien im Heim, weil ihre Eltern nicht mehr in der Lage seien, | |
| sie zu erziehen. | |
| Eine klassische Argumentation war, dass der Wunsch der Mutter, ihr Kind | |
| möge zu Hause leben, als „Zeichen einer Störung“ ausgelegt wurde, schreibt | |
| Hammer. Auch die Wünsche der Kinder, wieder bei der Mutter zu sein, seien | |
| als Krankheitszeichen interpretiert worden. | |
| „Er akzeptiert weder die Regeln der Einrichtung noch zeigt er Einsicht, | |
| dass er nur hier eine Chance hat, sich von der Mutter zu befreien“, heißt | |
| es im Bericht eines Heimes über einen Zwölfjährigen. Die wöchentlichen | |
| Telefonate mit ihr brächten ihn immer wieder zum Weinen. „Für die nächsten | |
| drei Monate sollten deshalb die Kontakte zur Mutter eingefroren werden.“ Da | |
| Sohn und Mutter die Einsicht fehle, sei auch die Beteiligung an der | |
| Hilfeplanung „nicht sachdienlich“, notiert das Amt. | |
| Eine zu enge Mutter-Kind-Bindung könne in der Tat dazu führen, dass das | |
| Kind zu kurz komme, sagt auch Hammer. Doch bei den Fällen gebe es dafür | |
| keine faktenbasierte Begründung, sondern nur Spekulation. Einige der von | |
| den Jugendämtern vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen seien entstanden, | |
| ohne dass diese die Mutter zu Gesicht bekommen hätten. | |
| ## Symbiose-Theorie gerade hoch im Kurs | |
| Hammer traf sich mit sechs Jugendamtsmitarbeitern, die selbst diese Praxis | |
| kritisieren. Sie klagten, dass es gegenüber früher eine „deutlich | |
| herabgesetzte Eingriffsschwelle“ gebe und die Theorie sogenannter | |
| symbiotischer Mutter-Kind-Beziehungen gerade bei jüngeren Fachkräften „hoch | |
| im Kurs“ sei. | |
| Die gute Nachricht: Bei all jenen Fällen, die vor dem Familiengericht | |
| landeten, gaben die Richter externe Gutachten in Auftrag. Und die hatten | |
| die Mütter – bis auf eine Ausnahme – so weit entlastet, dass sie entgegen | |
| der Meinung des Jugendamts die Rückkehr in die Herkunftsfamilie empfahlen. | |
| Nur lebten die Kinder in den meisten Fällen da schon mehrere Monate in den | |
| Heimen. | |
| Drei von vier dieser Fälle, die sich zum größten Teil in Norddeutschland | |
| abspielen, sind inzwischen abgeschlossen. Und 25 Kinder leben heute wieder | |
| bei ihren Müttern. Sie haben gelitten. Vor dem Eingriff des Staates waren | |
| sie gut in der Schule, keines von Versetzung bedroht. „Ihr | |
| Gesundheitszustand und das schulische Erscheinungsbild hat sich deutlich | |
| verschlechtert“, schreibt Hammer nun. Allein 17 von ihnen leiden unter | |
| Adipositas, neun von ihnen drohten mit Selbstmord, 23 wurden schlecht in | |
| der Schule, jeder zweite zeigte sich aggressiv. | |
| Hammer hat sein Papier an die Forschungsstelle problematische | |
| Kinderschutzverläufe in Mainz geschickt, die bis Jahresende im Auftrag des | |
| Bundestags untersuchen soll, ob die Jugendämter zu Unrecht Kinder aus | |
| Familien nehmen. Der Soziologe schränkt ein, dass die von ihm ehrenamtlich | |
| erstellte Studie nicht geplant und repräsentativ sei, sondern „aus der Not | |
| geboren“. | |
| 8 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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