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# taz.de -- Märchen und Geschichten: Riesenfreund unserer Kinder
> Kinder brauchen Märchen und Geschichten, um sich vor uns Eltern zu
> schützen: gegen die Herrschaft der Eltern, für Selbstständigkeit und
> freie Emotion.
Bild: Gut behütet ist nicht immer gut begleitet
„Mami, geh mal weg“, sagt mein sechsjähriger Sohn, „Ich will Conni gucke…
Er weiß, wie wütend mich die Geschichten um das blonde Vorstadtmädchen
machen. Und ich verstehe, warum „Meine Freundin Conni“ ihn beruhigt wie
mich die Krimis von Agatha Christie. Es sind Nachrichten aus einer
stabileren Welt, wo die Ordnung jeder Krise trotzt und alles Störende
restlos beseitigt.
Die Struktur der Conni-Geschichten ist simpel wie die Zeichnungen: Klare
Linien, keine Schatten. Ein behütetes Kind verhandelt scheinbar alltägliche
Sorgen und Wünsche. Harmlos ist das nur auf den ersten Blick. Conni ist
völlig unselbständig. Kaum je ohne erwachsene Begleitung, führt jede
Eigeninitiative ins Unglück, dem das Kind hilflos gegenübersteht, worauf es
mit Emotionen wie Angst und Wut reagiert, die es ebenfalls nicht selbst
regulieren kann. Die Mutter löst, herbeigerufen, die Konflikte des Kindes,
benennt seine Fehler und behebt den entstandenen Schaden. „Meine Freundin
Conni“ ist die Wiedergeburt der moralischen Erziehungsschriften des 18.
Jahrhunderts.
Kindheit ist wie [1][das Konzept Mutterliebe] eine Erfindung des
bürgerlichen Zeitalters. Und weil neue Gesellschaftsformen stets neue
Medienformen hervorbringen, entstanden ab Mitte des 18. Jahrhunderts die
literarischen Gattungen Frauenroman und Kinderliteratur parallel zu den
zwanghaften Vorstellungen mütterlicher wie kindlicher Gefühlswelten, unter
denen wir bis heute leiden.
## „Du bist eine schlechte Mutter!“
„Die Mutterliebe ist so häufig als etwas Instinkthaftes bezeichnet worden,
dass wir gern glauben, ein solches Verhalten sei unabhängig von Zeit und
Raum in der Natur der Frau verankert“, analysierte Elisabeth Badinter schon
1980. Ich glaubte vor sechs Jahren noch, die Geburt meines Kindes würde
mich zu einem besseren Menschen machen, einer [2][bedingungslos liebenden
Mutter], die die Antworten auf alle Fragen in sich selbst gefunden hätte.
Dann war das Kind geboren und ich fand mich verwandelt in ein kopfloses
Ungeheuer, das einer Maus eine Windel anlegen sollte. Nie zuvor hatte ich
mich so mächtig gefühlt, so zerstörerisch, so überfordert. Mein Baby war
winzig, blind, bewegungsunfähig. Sein einziges Kommunikationsmittel war das
Schreien und jedes Schreien die Anklage: Du bist eine schlechte Mutter!
Sechs Jahre später haben Ideal und Wirklichkeit einander angeglichen, aber
noch heute begleitet mich die Angst, meinem Kind zu schaden, indem ich es
als Fortsetzung meiner selbst betrachte.
## Lehrhafte Schriften vernünftigen Handelns
Kinderliteratur wird selten als Kunst angesehen, eher als pädagogisches
Instrument, um moralische Werte in die Bürgerliche Familie zu
implementieren, einschließlich Handlungs-, Denk- und Gefühlsanweisungen wie
1795 der „Morgenwunsch des Kindes“ von Johann David Büchling:
Vergnügt erwach' ich heut aufs neu',
Gottlob! noch bin ich fehlerfrei;
O möcht' ich abends noch so rein
Von Fehlern als des Morgens sein.
Um 1800 galt das Triebhafte, Spielerische als Gefahr, die durch Vernunft
zurückgedrängt werden musste. In lehrhaften Schriften folgte dem
„unvernünftigen“ Handeln stets die umgehende Züchtigung des Kindes, nicht
durch Erwachsene, sondern als natürliches Resultat des Fehlverhaltens.
Sprang das Kind über einen Graben, brach es sich das Bein; aß es verbotene
Speisen, wurde es krank usw.
In Conni lernt backen will das Kind heimlich Plätzchen backen. Als die
Mutter einschreitet, sind zwei Eier zerschlagen und die Milch ist
verschüttet. Denn Erfolg ohne Erlaubnis ist bei Conni unmöglich. Schlimmer
als physischer Schmerz peinigt die moralische Vergeltung – die Enttäuschung
der Mutter und der daraus resultierende Selbsthass – die Scham.
## Die Mutter als Über-Ich
Freuds Strukturmodell der Psyche mit seinen drei Instanzen Ich, Es und
Über-Ich zeigt, wenig überraschend, Connis Mutter als Über-Ich, das dem
kindlichen Ich Conni seinen moralischen Stempel aufdrückt. Laut Freud ist
eine Handlung des Ichs aber nur dann korrekt, „wenn sie gleichzeitig den
Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren
Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß.“ Doch wo bleibt bei Conni das Es?
In Grimms Märchen vom Rotkäppchen wird das triebhafte Es personifiziert
durch den Wolf, der erst die Großmutter verschlingt – das Über-Ich des
Über-Ichs! – und danach das Ich – Rotkäppchen. Dann erscheint der Jäger,
die Gesellschaft dringt ins Private, schneidet sie alle wieder raus und
zieht dem Wolf den Pelz ab.
Bei Conni repräsentiert das Tierische, Triebhafte, die Unvernunft, den Spaß
ein winziger Kater namens Mau, der am zerschlagenen Ei schnuppern darf,
mehr Chaos ist in Connis Welt nicht integrierbar.
Literatur sollte unsere Vorstellungswelt erweitern, utopische Denkräume
eröffnen und Strukturen aus der Peripherie heraus infrage stellen, statt
Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren.
## Kindliche Wut ist kein Problem
Die virulenteste Herrschaft über das Kind sind die Eltern. Der Begriff
Liebe ist nur ein Euphemismus für die Verklärung der
Abhängigkeitskonstruktionen, auf denen wir unsere Gesellschaft stützen,
weil Verantwortung unsexy bürokratisch klingt und Abhängigkeit hilflos.
Conni könnte sich von ihrer übergriffigen Mutter befreien. Doch von allen
unerwünschten Emotionen ist Wut die wohl verpönteste. Erst letztes
Wochenende konstatierte Caren Miosga zu Beginn ihrer Sendung: „Deutschland
hat ein Wutproblem.“ Wutbürger, Wutbauern und wütende Studierende scheinen
die These zu untermauern. Zu keinem Thema gibt es mehr Elternratgeber und
Kinderbücher.
In Der kleine Trotzdrache ist die Wut ein tennisballgroßer Dämon, der eines
Tages in einen kindlichen Drachen fährt und ihm „böse“ Gedanken
einflüstert, woraufhin das Drachen-Ich auf einen Baum klettert, wo der
Wut-Dämon von der Angst zersetzt wird, die den Drachen rettet. Die Angst
ist Teil der kindlichen Gefühlswelt, die Wut ein gefährlicher Fremdkörper.
Das Problem mit der Entsorgung unerwünschter Affekte durch Verdrängung ist
bekanntlich ihre geringe Nachhaltigkeit.
Die Begründer der Literaturwissenschaft Jacob und Wilhelm Grimm haben das
problematisiert. In der Ausgabe letzter Hand ihrer Kinder und Hausmärchen
von 1857 taucht am Ende ein neuer Wolf auf, der getötet werden muss,
diesmal von Rotkäppchen selbst, die Großmutter steht beratend zur Seite.
## Verdrängung macht anfällig für Massenbewegungen
Emotionalität ist heute ins Internet verlagert. In sozialen Medien werden
Gefühle inszeniert oder als Triebabfuhr in Kommentaren geäußert. Im Alltag
allerdings sind emotionale Impulse zu „undenkbaren“ Schwächen entwertet,
mündiger Bürger*innen unwürdig. Allein die Möglichkeit unvernünftiger
Gefühle bedroht unser Selbstbild. Schafft eine Emotion es doch einmal an
die Oberfläche unseres Bewusstseins, wird sie rationalisiert und zur
objektiven Tatsache umgedeutet, nach dem Motto: Ich fühle das, also muss es
stimmen.
Eine Verdrängungsleistung jedoch, die so potent ist, sogar unsere Wut zu
generalisieren, macht uns anfällig für Verschwörungstheorien und autoritäre
Massenbewegungen, deren Lustgewinn nach Horkheimer/Adorno bekanntlich in
der „Sanktionierung der Wut“ des Einzelnen durch das Kollektiv liegt.
## Den Kindern etwas zumuten
Mein Sohn wird dieses Jahr eingeschult, darum lesen wir jetzt Harry Potter.
Ich habe meinem Kind auch von klein auf Grimms Märchen erzählt, die
Originale von 1857. [3][„Das kann ich meinem Kind nicht zumuten“], erklären
mir andere Eltern, „da kriegt es Albträume!“ Albträume gehören zur
kindlichen Entwicklung. Die im Traum durchlebten Ängste helfen bei der
Verarbeitung realer Verluste und Enttäuschungen.
Ein Kind, das nur mit Conni aufwächst, lernt, dass es ohne seine Mutter
nicht überleben kann, daher eigene Bedürfnisse zurückzustecken und
Verantwortung für die Erwachsenen zu übernehmen hat. In Conni hilft Mama
wird die Parentifizierung explizit. „Eine Drehscheibe auf dem Spielplatz
ist schuld daran, dass sich Connis Mama den Fuß verknackst hat.“ Das
Spielerische Es hat das Über-Ich angegriffen! Die „vernünftige“ Care-Arbe…
wird nicht vom Vater übernommen, sondern als Buße vom Kind. Die Übertragung
ist vollendet.
Mit drei Jahren ist das menschliche Gehirn fähig zur Imagination, erst dann
entstehen Phantasien, Ängste und Selbsterkenntnis, die mit der ersten
Ablösung von den Eltern einhergeht. Mit Geschichten von bösen Wölfen und
misshandelten Zauberlehrlingen lernt ein Kind, wie sich Grusel anfühlt. Es
erfährt, dass Angst, Kummer und Hilflosigkeit, ja sogar Hass und Gefahr ihm
schuldlos begegnen können, dass Unvorhergesehenes geschehen kann,
Großmütter können zu Monstern werden, Bezugspersonen sterben.
„Verlusterfahrungen widersprechen dem Fortschrittsdenken“, erklärt Andreas
Reckwitz. Der Tod als ultimativer Verlust gelte seit der an ständiger
Erneuerung und Überbietung orientierten Moderne nur noch als „peinliche
Tatsache“, die als „undenkbar“ verdrängt werden müsse.
## The next great adventure
Literatur aber kann und muss das Undenkbare verhandeln.
„To the well organised mind“, sagt Albus Dumbledore, Leiter der
Zauberschule von Harry Potter, „death is nothing but the next great
adventure.“
Grimms Märchen liefern die Erlösung aus der Krise stets anbei. Was tun,
wenn der Wolf dich im Traum verschlingt? Schneide dem Wolf den Bauch auf!
Deshalb lag auf dem Nachttisch meines Sohnes vor drei Jahren eine
Plastik-Schere.
In der Harry-Potter-Heptalogie steht jede Figur für einen Aspekt der
kindlichen Erlebniswelt. Die Hauptfigur Harry, das Freudsche Ich, ist, wie
alle kindlichen Helden, die Personifizierung der Liebe und Herzensgüte, die
jedoch ungebremst zur Selbstaufgabe tendiert. Flankiert wird Harry deshalb
von zwei Freunden. Ron Weasley ist ein klassischer Falstaff, das
allegorische Bauchprinzip, er personifiziert Treue, Humor und Trieb, das
Es. Das Über-Ich Hermine als Muggelgeborene Pallas Athene steht für die
kopfgeborene Vernunft. Aber der erste, der in Harrys Leben in
Gefangenschaft bei den Dursleys eindringt, ist Rubeus Hagrid, ein Halbriese
mit einer Schwäche für Monster. Hagrid ist Legastheniker, Schulabbrecher,
ein mieser Zauberer und Koch, der trotzdem unbesiegt bleibt. Denn Hagrid
personifiziert die unmittelbare kindliche Emotionalität. Er schlägt die Tür
ein, um Harry aus dem Verlies der familiären Misshandlungen zu befreien.
Seine Wut rettet das Kind, nicht die Angst.
## Werkzeuge der Selbstermächtigung
Es sind unsere Kinder, die bedingungslos lieben, und zwar uns, ihre Eltern,
Erzieher, Bezugspersonen, völlig unabhängig davon, ob wir diese Liebe
verdient hätten (haben wir nicht!). Indem wir ihnen Geschichten an die Hand
geben, in welchen sich die kindlichen Helden aus autoritären
[4][Abhängigkeitsverhältnissen] lösen und selbstständig handeln, geben wir
ihnen das Werkzeug mit, als handelnde Subjekte die Gesellschaft zu
gestalten, in der sie leben wollen.
Und wenn wir die Wut unserer Kinder als Hagrid begreifen, müssen wir nicht
mehr versuchen, sie zurückzudrängen oder zu rationalisieren, sondern können
sie als Freund unserer Kinder willkommen heißen, der sie begleitet und
beschützt, sogar vor uns, ihren übergriffigen Eltern.
1 Jun 2024
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## AUTOREN
Lea Streisand
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