# taz.de -- Mythos Mutterschaft: Ach, Mutter | |
> Die eine bereut, Mutter geworden zu sein. Die andere hat ihre Kinder nach | |
> der Trennung beim Vater gelassen. Wie Frauen eine alte Rolle neu | |
> interpretieren. | |
Bild: Darf eine Mutter ihrem alten Leben nachtrauern? Darf sie ihre Mutterschaf… | |
LEIPZIG/BERLIN taz | Mit 14 oder 15 Jahren, so genau weiß sie das nicht | |
mehr, hatte Karo Weber einen Traum. Es war Sommer, sie trug die Haare offen | |
und lief in einem weißen langen Kleid barfuß über die Wiese. Unter dem | |
luftigen Kleid steckte ein dicker Bauch. „Ich hab mich so glücklich gefühlt | |
in diesem Traum, es war so ein tiefes Gefühl, endlich komplett zu sein. Und | |
dieses Gefühl wirkte auch nach dem Aufwachen nach“, erzählt die 33-Jährige | |
auf ihrem Balkon im Leipziger Stadtteil Connewitz. Am Geländer dreht sich | |
ein buntes Windrad, sie zieht an ihrer Zigarette, Marke Davidoff. Sie bläst | |
den Rauch in die Luft und sagt: „Ich wollte immer Mutter werden.“ | |
Frau sein. | |
Schwanger sein. | |
Komplett sein. | |
Jetzt, gegen ein Uhr an diesem warmen Tag im Mai, sitzt Weber eine Stunde | |
lang entspannt da, mit einem Kaffee in der Hand, isst ein Stück Schokolade | |
und erzählt. Mit 27 Jahren, mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Traum, wurde | |
Karo Weber wirklich schwanger. Sie empfand das tatsächlich als etwas | |
Erfüllendes. Bis zur Geburt. Bis zu dem Septembertag im Jahr 2010, als sie | |
im Krankenhaus lag, nackt, mit gespreizten Beinen. | |
Wenn sie über die Geburt ihres Sohnes spricht und die Zeit danach, macht | |
sie oft Pausen zwischen dem Reden. Dann schweift Karo Webers Blick über die | |
Wiese mit den Ahornbäumen, in denen Vögel zwitschern. Und weil es in dieser | |
Geschichte nicht nur um sie, sondern auch um ihr Kind geht, hat sie darum | |
gebeten, dass sie beide nicht mit ihren richtigen Namen darin auftauchen. | |
Es ist eine Geschichte über das Leben als Mutter. Über das Hadern damit. | |
## Am Ende Kaiserschnitt | |
„Der Geburtsprozess hat mich traumatisiert“, erzählt Karo Weber. „Ich kam | |
mir vor wie beim Fleischer. Ab und zu kommt jemand rein, zack, greift dir | |
zwischen die Beine und guckt, wie weit dein Muttermund schon geöffnet ist.“ | |
Am Ende wurde es ein Kaiserschnitt. Weber erinnert sich an diesen Moment | |
nach dem Aufwachen: Ein Baby lag neben ihr. Ihr Baby. Aber bevor sie | |
glücklich darüber war, war da die Panik: „Oh Gott, was soll ich jetzt | |
machen.“ | |
Es ließe sich sagen, dass zwar nicht alles planmäßig lief, es aber mit | |
einem Happy End ausging. Karo Weber war gesund, ihr Sohn auch. Aber ihre | |
Geschichte ließe sich auch so erzählen, dass die Idee, wie eine gute Mutter | |
zu sein hat, schon früh in uns verankert ist. Dass es erschreckend sein | |
kann, wenn das eigene Gefühl vom Ideal abweicht. Wenn man eben nicht | |
intuitiv weiß, was man mit einem Baby anfangen soll. Und Webers Geschichte | |
erzählt davon, wie eine Frau die Kontrolle verliert. Über ihren Körper, ihr | |
Leben. | |
Blauäugig sei sie gewesen, sagt Karo Weber. „Ich dachte, ich werde mein | |
Baby haben, wir werden uns lieb haben, alles wird gut.“ Sie hat ihr Kind | |
lieb. Aber es wurde nicht alles gut. | |
Karo Weber sagt: „Wenn ich die Wahl hätte, unter den gleichen Umständen, | |
dann würde ich das Kind nicht noch einmal bekommen.“ | |
Die ersten anderthalb Jahre hat Weber genossen, doch mit der Zeit verlor | |
sie ihren Freundeskreis, in dem noch niemand Kinder hatte. Sie zog aus | |
Berlin weg, zurück in ihre Heimatstadt Leipzig, um ihre Eltern in der Nähe | |
zu haben. Der Vater des Kindes verließ sie. Er kümmert sich nicht, zahlt | |
keinen Unterhalt. Sie rechnet im Supermarkt, ob sie Geld für das | |
Küchenpapier mit dem eingestanzten Muster hat. Details sind ihr wichtig. In | |
ihrem Wohnzimmer sind die Farben von Gardine, Teppich und Teelicht | |
aufeinander abgestimmt – Lila und Fliedertöne. | |
Wieder ein Zug an der Zigarette. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie | |
ungeduldig ist, laut wird. Sie möchte eine gute Mutter sein. | |
## Wer ist im Jahr 2016 eine gute Mutter? | |
Karo Weber muss nicht lange überlegen. „Eine gute Mutter ist immer | |
präsent“, sagt sie. „Sie ist immer ein gutes Vorbild. Sie ist immer | |
glücklich. Sie trinkt keinen Prosecco um vier. Und sie benutzt nie das böse | |
S-Wort.“ Eine gute Mutter ist eine, die nicht „Scheiße“ sagt. | |
„Wenn ich mit meiner Freundin am Rand des Spielplatzes sitze, mit meiner | |
Zigarette und einem Piccolo in der Hand und keine Lust habe, Sandburgen zu | |
bauen“, sagt Karo Weber, „dann scherzen wir immer: Wir schlechten Mütter.�… | |
Gute Mutter, schlechte Mutter. Gibt es nichts dazwischen? In unseren Mythen | |
symbolisieren zwei Figuren recht gut das schwarz-weiß gezeichnete | |
Mutterbild in Westeuropa: Maria und Medea. Medea, die Königstochter aus der | |
Argonautensage, bringt aus Eifersucht ihren Exmann um und ihre Kinder. Sie, | |
manchmal dargestellt mit zwei Kindern und einem Dolch, ist das | |
Worst-Case-Szenario der Mutterschaft: rachsüchtig, impulsiv, mörderisch. | |
Mit Maria beginnt das Neue Testament, die Grundlage des Christentums, sie | |
gebiert Jesus, ohne vorher Geschlechtsverkehr zu haben. Unbefleckt. Rein. | |
Maria wird oft mit einem langen Mantel dargestellt, unter dem sie eine | |
Schar von Gläubigen schützt, die Kinder Gottes. | |
## Der Sonne entgegen | |
Heute holen Lucas Großeltern ihn von der Kita ab. Nur deshalb hat Weber | |
Zeit, über ihr Leben mit ihrem 5-jährigen Sohn zu reden. Der Morgen fing | |
rasant an. Zehn vor sieben trällerte noch eine Frauenstimme aus dem Radio, | |
da rief Karo Weber aus der Küche: „Komm Schatz, jetzt anziehen.“ Dann | |
huscht sie in türkiser Jogginghose und pinken Pantoffeln ins Kinderzimmer. | |
Luca sitzt in Unterhose mit halb hochgezogener blauer Jeans auf seinem | |
Hochbett und brabbelt vor sich hin. Beim Anblick seiner Mutter zieht er | |
sofort seine Hose hoch. Es muss jetzt schnell gehen. Während Luca ins Bad | |
geht und sich langsam die Zähne putzt, kämmt sich Karo Weber rasch die | |
langen blondierten Haare, dann läuft sie ins Schlafzimmer, Luca tippelt | |
hinterher, schmeißt sich mit Schwung aufs Bett. Die sorgsam gefaltete Decke | |
neben ihm plustert sich auf. Er rollt sich auf den Rücken und macht | |
Babygeräusche. | |
„Hör auf damit. Du bist kein Baby. Und ich bin auch kein Baby.“ | |
Karo Weber zieht sich um. Luca will spielen. | |
„Hör, bitte auf damit. Kannst du nicht etwas anderes machen? Etwas | |
spielen?“, ruft Weber. Luca rennt ins Kinderzimmer, schnappt sich ein | |
Comicheft mit Robotern, ruck, zuck hat er es durchgeblättert. Er greift | |
nach seinem Plastikgewehr, lädt es und schießt orange Bälle durch den Raum. | |
Dann die Autos, brumm, brumm fahren sie über den Teppich, ein Propeller | |
surrt in die Höhe. Das aufgeräumte Zimmer versinkt im Chaos. | |
## Sie taucht nie ab | |
Karo Weber trägt jetzt einen Jeansminirock, Stulpen und Chucks, ein T-Shirt | |
mit einem Peacezeichen. Sie wirft einen Blick ins Kinderzimmer, und | |
schüttelt den Kopf: „Das waren keine fünf Minuten.“ Aber für Aufräumen | |
bleibt keine Zeit. Um 7.15 Uhr müssen beide das Haus verlassen. Luca | |
versucht sich im Flur die Jacke zuzumachen. „Dieser blöde Reißverschluss“, | |
sagt er und zerrt daran. Karo Weber hilft ihm, sagt „ach, Männer“ und | |
drückt ihm eine Sonnenbrille in die Hand. | |
„Komm Hase, wir fahren der Sonne entgegen“, sagt sie und schließt die | |
Wohnungstür. | |
Bevor es los zur Kita geht, muss Luca einen Fahrradhelm aufsetzen, blau mit | |
Rennautos, er steigt aufs gelbe Fahrrad und düst los. Weber schwingt sich | |
auch aufs Rad und überholt ihn. Routine. Im Fahren gibt sie Anweisungen: | |
„Komm, die Ampel kriegen wir noch.“ „Nein, halt, hier stehen bleiben.“ | |
Meist sieht Luca seine Mutter von hinten, wie ihre langen Haare über die | |
Jacke wehen. Manchmal tritt er in die Pedale, überholt sie kurz. Aber mit | |
der Geschwindigkeit von Karo Weber mitzuhalten, ist nicht leicht. Kaum bei | |
der Kita angekommen, geht sie mit schnellen Schritten zur Glastür, an der | |
steht: 6 Fälle Windpocken 1 Fall Influenza B. Dann eilt sie den langen Gang | |
entlang, während Luca hinterherschlurft und die rechte Hand über die Wände | |
zieht. Karo Weber dreht sich um: „Komm jetzt.“ | |
In der Umkleide plaudert Karo Weber nebenbei mit einem Vater, Hausschuhe | |
an, Küsschen Hase, viel Spaß und kaum ist Luca verschwunden, schwingt sich | |
Karo Weber wieder aufs Rad, zur Schule, sie überfährt mindestens drei rote | |
Ampeln. Sie macht eine Umschulung zur Kauffrau für Büromanagement. Mit | |
ihrem Bachelor in Interkulturellen Europa- und Amerikastudien fand sie | |
keinen Job. Heute ist der letzte Tag vor den Prüfungen. Sie besprechen | |
Übungen, gleichen Ergebnisse ab. Karo Weber dreht sich zu ihren Mitschülern | |
um, sitzt kaum still, scherzt. Sie taucht nie ab. Sie spielt an ihrem | |
Computer Solitär und ruft dabei Lösungen in den Raum. | |
## Überhöhtes Bild | |
Frauen können in Deutschland heute selbst bestimmen, ob, wann und wie sie | |
Mutter werden wollen. Sie haben sich auch das Recht erkämpft, ein Kind | |
nicht zu wollen. Am 6. Juni 1971 titelte das Magazin Stern „Wir haben | |
abgetrieben“. 374 Frauen bekannten sich öffentlich zu ihrer Abtreibung, | |
damals war das noch illegal. Heute haben Frauen in Deutschland die | |
Kontrolle über ihren Körper. Eigentlich. | |
Das Bild der guten Mutter ist in Deutschland besonders überhöht. Auch weil | |
die Nationalsozialisten die Idee von der Frau als Gebärende und | |
Kinderkümmerin mit ihrem Mutterkult noch einmal richtig groß machten und | |
diese Vorstellung in der Nachkriegsrepublik lange überlebte. Bis heute | |
müssen sich Frauen erklären, wenn sie keine Kinder haben wollen. | |
Oder schlimmer noch, wenn sie bereuen, welche bekommen zu haben. Am | |
vergangenen Mittwoch veröffentlichte das amerikanische Netzmagazin Slate | |
wieder eine Geschichte darüber, die Autorin fordert: „Germany, Set Free the | |
Rabenmutter!“. Und es war Deutschland, wo eine Studie über bereuende Mütter | |
besonders großen Aufruhr auslöste. | |
## Darf man Kinder bereuen? | |
23 Frauen hat die israelische Soziologin Orna Donath für ihre Doktorarbeit | |
interviewt. Diese Frauen, egal ob 26 oder 73 Jahre alt, ob Arbeiterklasse | |
oder Mittelschicht, ob verheiratet oder getrennt, beantworteten alle eine | |
Frage gleich: „Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, mit den | |
Erfahrungen die Sie heute haben, wären Sie dann Mutter geworden?“ | |
Die Antwort: Nein. | |
„Wir können so vieles bereuen, sagt Orna Donath bei der Vorstellung ihres | |
Buches „Wenn Mütter bereuen“ im März in Berlin. „Einen Job. Eine | |
Schönheits-OP. Eine Ehe. Ein Tattoo. Warum nicht auch die Mutterschaft?“ | |
Nachdem die Studie veröffentlicht war, folgte in Deutschland eine | |
emotionale Debatte. Inklusive neuen Büchern wie „Die Mutterglück-Lüge“, | |
„Die falsche Wahl“ und „Wenn Mutter sein nicht glücklich macht“. Unter… | |
Hashtag #regrettingmotherhood stritten sich in den Foren des Internets | |
Frauen und Männer, die sich solidarisierten mit solchen, die den bereuenden | |
Müttern eine Entwertung der Mutterschaft und Gefühlskälte vorwarfen. | |
Könnte nicht beides zugleich existieren? Dass Frauen bereuen, Mutter | |
geworden zu sein, und ihr Kind trotzdem lieben? | |
„Ich liebe mein Kind, aber ich habe mich selbst geopfert“, sagt Karo Weber | |
auf ihrem Balkon. „Ich bin das übrig gebliebene Elternteil, eingeschränkt | |
in meinen Handlungsoptionen, auch in der Jobwahl, selbst meinem Bedürfnis, | |
mit jemanden persönlich zu sprechen, kann ich nicht immer nachkommen. Ja, | |
klar, ich kann telefonieren, aber das ist nicht das Gleiche.“ | |
Weber bereut nicht, dass es Luca gibt. Aber sie würde gern anders leben. | |
Sie sagt: „Womit ich nach wie vor nicht klarkomme, ist, dass ich meinen | |
Impulsen nicht nachkommen kann. Dass dieses Zwanglose, Unkomplizierte | |
verloren gegangen ist.“ | |
Sie hat gern getrunken und gefeiert. Aber es gehe ihr nicht darum, jede | |
Woche in einer Bar abzuhängen. Ihr macht das Gehetzte und Pausenlose zu | |
schaffen: Kind anziehen, Kita, Schule, abwaschen, saugen, ihre Hausaufgaben | |
machen, Spielplatz, zum fünften und sechsten Mal ermahnen, nein, das darfst | |
du nicht. Das dauernde Warten auf Luca, wenn sie viel zu tun hat. „Ich | |
mache das alles allein“, sagt Karo Weber. „Ich fühle mich manchmal allein.… | |
Dass es nicht nur ihr so geht, weiß sie. Wissen schließlich alle. Nahezu | |
jede dritte Ehe wird geschieden, Frauen verdienen weniger, arbeiten öfter | |
in Teilzeit, übernehmen den Großteil der Erziehung und der Hausarbeit. | |
Seit zwei Jahren hat sie einen neuen Partner. Der überlasse die Erziehung | |
von Luca vollständig ihr. Sie habe ihn bisher auch nicht um Hilfe gebeten. | |
„Aber er sieht doch, wie ich lebe“, sagt Karo Weber. | |
## Wie sähe eine Welt aus, in der sie gern Mutter wäre? | |
„Es gibt doch eine Idealsituation: Man hat einen Partner, der sich kümmert, | |
einen Job, Sicherheit. Und die Mutter macht nicht alles allein. Die | |
Großeltern, die Geschwister oder gute Freunde wirken bei der Erziehung | |
mit.“ | |
Wenn die Umstände besser wären, dann wären auch die Mütter glücklicher? | |
Einige sicher. Nicht alle. | |
In ihrer Untersuchung befragte Orna Donath Frauen die generell lieber kein | |
Kind geboren hätten. Als sie ihr Buch in Berlin vorstellt, sagt Donath, es | |
sei wichtig, dass auch Frauen, die es mühsam finden, Mütter zu sein, sich | |
äußern. Frauen wie Karo Weber. Sie alle sollen Reue ausdrücken können, | |
Bedauern. | |
Wenn die Aktion gegen Abtreibung 1971 im Stern gezeigt hat, dass Frauen um | |
die Hoheit über ihren Körper kämpfen, so demonstriert Donaths Studie | |
vielleicht, dass Frauen jetzt um die Hoheit über ihre Gefühle kämpfen. | |
Warum sollte jemand Frauen vorschreiben können, wie sie zu empfinden haben? | |
Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied. Die 374 Frauen im | |
Stern ließen sich mit Foto und Namen ablichten. Die meisten Mütter, die | |
bereuen, ein Kind bekommen zu haben, bleiben anonym. Wie Karo Weber. Wer | |
will schon als Rabenmutter gelten? | |
## Die Rabenmutter | |
Anne Bonnie Schindler hat sich genau dieses Wort geschnappt: Rabenmutter. | |
Das Schimpfwort für Frauen, die ihre Kinder vernachlässigen, weil die Leute | |
einmal glaubten, Raben würden ihre Jungen zu früh aus dem Nest jagen. | |
Schindler, 35 Jahre alt, will einen Verein gründen, der diesen Namen trägt: | |
Raben-Mütter e. V. Ihr Herzensprojekt, wie sie es nennt, soll über die | |
Mutterrolle und ihre Mythen aufklären. Sie sitzt mit ihrem Sohn im | |
linksalternativen Café Kollektiv in Berlin-Neukölln und erzählt, wie sie im | |
März 2015 einen Onlineaufruf startet und Unterstützung sucht. | |
Sie will Müttern wie Karo Weber helfen, Müttern wie sie selbst. Schindler | |
bekommt mit 18 Jahren ihr erstes Kind, mit 21 das zweite. Jeweils vier | |
Monate nach der Geburt geht sie wieder arbeiten. Mit ihrem | |
Hauptschulabschluss jobbt sie hier und da, in Kantinen, sie geht putzen, | |
steht am Fließband. Sie und ihr Mann arbeiten, teilen sich den Haushalt, | |
beide kümmern sich um die Kinder. Aber die Trennung verändert die | |
gleichberechtigte Elternschaft: Als Schindler mit 23 Jahren auszieht, sind | |
die Kinder zweieinhalb und fünf Jahre alt. | |
Anne Bonnie Schindler geht. Sie sagt ganz bewusst „gehen“. „Bei dem Wort | |
‚verlassen‘, kriege ich Haare auf den Zähnen“, sagte sie, während sie S… | |
einen Löffel vom Gläschen feines Bio-Früchtemus in den Mund schiebt. Said | |
ist Schindlers drittes Kind. Aber dazu später. | |
Sie geht aus ihrer Heimat Bayern nach Berlin, um auf dem zweiten | |
Bildungsweg ihr Abitur nachzuholen. Ihre beiden ersten Kinder bleiben beim | |
Vater. Männer tun das öfter einmal, Mütter, die nach einer Trennung nicht | |
bei den Kindern bleiben, gibt es weniger. Vielleicht treten sie auch nicht | |
so an die Öffentlichkeit. In Schindlers Nachbarschaft rumort es: Sie sei zu | |
jung Mutter geworden, sie sei überfordert, sie sei egoistisch. Irgendetwas, | |
so viel ist klar, kann mit ihr nicht stimmen. Das Jugendamt fragt sie, ob | |
sie drogenabhängig sei. Gewalttätig. | |
„Warum konnte ich nicht wie tausend andere Väter agieren?“, fragt sie. | |
„Warum ist eine Frau ein krankes Miststück?“ Sie kommt ins Stocken, sucht | |
nach Worten, fängt sich. Dann sagt sie: „Ich bereue nichts, weder dass ich | |
Kinder bekommen habe, noch dass es so gekommen ist.“ | |
## Kein Kontakt mehr | |
Seit Anfang 2015 hat Schindler erneut keinen Kontakt mehr zu den beiden | |
ersten Kindern. Manchmal schmerzt das. Ihre Entscheidung bedeute doch | |
nicht, dass sie nicht mehr Mutter sein, ihre Verantwortung nicht wahrnehmen | |
wolle. | |
Sie verlor immer wieder den Kontakt zu ihren Kindern. Sie stritt sich mit | |
ihrem Exmann vor Gericht. Nach der Scheidung will auch ihre Mutter mit ihr | |
nichts mehr zu tun haben. | |
„Mütter, die gehen, werden pathologisiert, weil wir davon ausgehen, dass | |
Mutterschaft etwas Intuitives ist“, sagt Schindler. Fernab von | |
gesellschaftlichen Konventionen habe sie bei der Trennung eine bewusste, | |
rationale Entscheidung getroffen: „Was kann er? Was kann ich? Und dann bin | |
ich einen großen Verlust eingegangen.“ Mehr will sie dazu jetzt nicht | |
sagen. | |
Sie holt in Berlin ihr Abitur nach, fängt eine Ausbildung zur Erzieherin | |
an, bricht sie ab, arbeitet als Türsteherin, eröffnet mit einer Partnerin | |
den alternativen Sexshop „Other Nature“ in Berlin. Sie steigt wieder aus | |
und beginnt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, die sie unterbricht, als | |
sie erneut schwanger wird – mit Said. | |
## Das dritte Kind macht sie unangreifbar | |
Sie freut sich, sagt sie. Über das Kind. Aber auch darüber, dass sie das | |
mit dem Verein nun durchziehen kann. Sie sagt, sie habe diesen Schritt nur | |
gehen können, weil sie wieder schwanger war. | |
„Ich wusste, wenn Said da ist, kann mich keiner mehr treffen“, sagt Anne | |
Bonnie Schindler. Zweifel und Schuldgefühle seien irgendwie auch immer da | |
gewesen: „Hat das mit einem Mangel, mit fehlender Mutterliebe zu tun?“ | |
Schindler muss erneut Mutter werden, um den Verein Raben-Mütter gründen zu | |
können, „bunt, alternativ und Freundinnen aller Familienmodelle“. Offen f�… | |
heterosexuelle Männer, Schwule, Lesben, Queere und Transmenschen. Der | |
Verein soll für die soziale Familie einstehen – Bindungen sollen mehr | |
zählen als Blutsverwandtschaft. Ein Ziel von Raben-Mütter e. V. ist, dass | |
mehr als zwei Personen in die Geburtsurkunde eines Kindes eingetragen | |
werden können. | |
Was Familie ist und was eine Mutter, hat sich schließlich nicht zum ersten | |
Mal verändert. Vor der industriellen Revolution arbeiteten viele Frauen | |
selbstverständlich auf dem Feld, im Haus, im Garten, in Geschäften mit. Die | |
Großfamilie produzierte, was gebraucht wurde. Geschlechterteilung gab es. | |
Aber zwischen unbezahlter Hausarbeit und entlohnter Erwerbsarbeit außer | |
Haus zu unterscheiden, etablierte sich erst mit dem Auslagern der | |
Produktion in Fabriken und andere Betriebe. Sich um Kinder zu kümmern, | |
wurde zunehmend Aufgabe der leiblichen Mutter. | |
Anne Bonnie Schindler scheitert. Raben-Mütter e. V. scheitert. Am 7. März | |
2016, einen Tag vor dem Internationalen Frauentag, postete der Verein auf | |
Facebook: „Nach langem Überlegen wird der Zusammenschluss, einen Verein für | |
alleinstehende Mütter zu gründen, nicht weiter nachgegangen. Es haben sich | |
trotz viel positiven Feedbacks leider nicht die nötigen Mitglieder gefunden | |
und die gesetzten Ziele wurden nicht erreicht.“ | |
## Eine harte Zeit | |
Es hätten sich viele Frauen gemeldet, sagt Schindler, aber sie wollten nur | |
in einem geschützten, nicht öffentlichen Raum sprechen. „Kaum jemand war | |
bereit, die Probleme nach außen zu tragen.“ | |
Anfang Juni steht sie in Leggins und buntem T-Shirt in ihrer Küche am Herd | |
und kocht Kaffee. Sie sagt: „Die Ideen sind im Ordner.“ Auf dem linken Arm, | |
der bis zu den Händen tätowiert ist, hält sie Said. Ein Jahr ist er jetzt | |
alt, er kränkelt. Sie stellt eine Schale Heidelbeeren auf den Tisch. Sie | |
scheucht den Hund hinaus, um den sie sich gerade mitkümmert. Sie hebt Said | |
auf seinen Kinderstuhl, dann setzt sie sich selbst. | |
„Die letzte Zeit war hart“, sagt Schindler, steht wieder auf und testet, ob | |
die H-Milch noch gut ist. Sie flockt. Seit drei Monaten klafft eine Lücke | |
unter der Arbeitsplatte. Der Kühlschrank fehlt, das Geld für einen neuen | |
auch. Das Jobcenter hat sie zu Rückzahlungen verpflichtet, also hat sie die | |
letzten Monate von 250 Euro gelebt. | |
Dazu das Auf und Ab mit dem Vater des Kindes, von dem sie zwar getrennt, | |
aber um eine gute Beziehung bemüht ist. Sie versucht wieder Kontakt zu | |
ihrer Mutter zu bekommen. Die Frau, mit der sie den Raben-Mütter-Verein | |
gründen wollte, möchte nicht mehr mitmachen. Schindler hat ihre Ausbildung, | |
die sie wegen Said unterbrochen hat, wieder angefangen. Sie fehlt an vielen | |
Tagen, Kind krank, sie krank, Tagesmutter krank. | |
Said nuckelt an seinem Schnuller und versucht mit einem Löffel Heidelbeeren | |
aus der blauen Schüssel Richtung Mund zu transportieren. Die meisten | |
kullern auf den Küchenboden. Sie küsst ihn überall auf den ganzen Bauch. Er | |
läuft ein paar wackelige Schritte zum Hund. Laufen kann er erst seit | |
kurzem. | |
Said rollt einen Ball zu seiner Mutter und lacht. Sie lacht auch und rollt | |
ihn zurück. | |
## Die Rolle abgeben | |
Seit ihre Tochter Streit mit ihrem Vater hat, hat Schindler wieder Kontakt | |
zu ihr. Schindler weint, während sie das erzählt, schnappt sich Said und | |
küsst ihn auf den Kopf. Sehr lange habe sie auf diesen Moment gewartet. Die | |
Tochter habe viele weibliche Bezugspersonen in Bayern. „Doch sie braucht | |
mich jetzt, als biologische Mutter.“ | |
Mutter zu sein sei eine Rolle, sagt Anne Bonnie Schindler. Gerade für sie, | |
„denn eigentlich bin ja ein zorniger Mensch.“ Das müsse sie kontrollieren. | |
„Aber das kann ich“, sagt sie, „ich war ja auch Türsteherin und | |
Geschäftsfrau.“ Wenn Mutter eine Rolle ist, müsste es dann nicht auch | |
möglich sein, diese Rolle abzulegen? Die Feministin Simone de Beauvoir hat | |
in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ 1951 geschrieben: „Man wird | |
nicht als Frau geboren, man wird es.“ Wird eine Frau mit der Geburt eines | |
Kindes nicht automatisch zur Mutter? | |
Karo Weber schenkt sich an dem Freitagabend im Mai auf ihrem Balkon in | |
Leipzig ein Glas Rotwein ein. In ein paar Tagen wird sie ihre | |
Abschlussprüfung schreiben. Sie sagt: „Heute war es ruhig.“ Sie hat den | |
Kleinen fertig gemacht, zur Kita gebracht, war in der Schule, einkaufen, | |
hat den Kühlschrank abgetaut und sauber gemacht. Gleich nach dem Abendessen | |
muss Luca ins Bett. „Ach, wären wir einfach zum See gefahren“, sagt Karo | |
Weber. „Oder ins Café.“ Normalerweise geht die Berufsschule länger als | |
heute, ihre Eltern können oft nicht auf Luca aufpassen. | |
Dann muss sie zur Kita rennen, ihn am Dienstag zur Logopädie bringen, zum | |
Schwimmunterricht am Mittwoch. Heute schiebt sie Tiefkühlpizza in den Ofen | |
und tröstet Luca, als er erzählt, dass er seinen Propeller verloren hat. | |
Sie macht ihm den Fernseher an. Es läuft „Heidi“ – die Geschichte über … | |
Waisenkind, das nach dem Tod der Eltern zum mürrischen Großvater in die | |
Berge ziehen muss. | |
Karo Weber hat seit der Geburt ihres Kindes zwei Kleidergrößen abgenommen. | |
Wenn es gerade gut läuft mit ihrem Freund, in den schönen Momenten, da | |
denkt sie über ein neues Kind nach. „Irgendwie ist es doch immer noch so“, | |
sagt sie und trinkt einen Schluck Rotwein , „ein Kind ist doch die Krönung | |
einer Liebe.“ | |
10 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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