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# taz.de -- Mythos Mutterschaft: Ach, Mutter
> Die eine bereut, Mutter geworden zu sein. Die andere hat ihre Kinder nach
> der Trennung beim Vater gelassen. Wie Frauen eine alte Rolle neu
> interpretieren.
Bild: Darf eine Mutter ihrem alten Leben nachtrauern? Darf sie ihre Mutterschaf…
Leipzig/Berlin taz | Mit 14 oder 15 Jahren, so genau weiß sie das nicht
mehr, hatte Karo Weber einen Traum. Es war Sommer, sie trug die Haare offen
und lief in einem weißen langen Kleid barfuß über die Wiese. Unter dem
luftigen Kleid steckte ein dicker Bauch. „Ich hab mich so glücklich gefühlt
in diesem Traum, es war so ein tiefes Gefühl, endlich komplett zu sein. Und
dieses Gefühl wirkte auch nach dem Aufwachen nach“, erzählt die 33-Jährige
auf ihrem Balkon im Leipziger Stadtteil Connewitz. Am Geländer dreht sich
ein buntes Windrad, sie zieht an ihrer Zigarette, Marke Davidoff. Sie bläst
den Rauch in die Luft und sagt: „Ich wollte immer Mutter werden.“
Frau sein.
Schwanger sein.
Komplett sein.
Jetzt, gegen ein Uhr an diesem warmen Tag im Mai, sitzt Weber eine Stunde
lang entspannt da, mit einem Kaffee in der Hand, isst ein Stück Schokolade
und erzählt. Mit 27 Jahren, mehr als ein Jahrzehnt nach ihrem Traum, wurde
Karo Weber wirklich schwanger. Sie empfand das tatsächlich als etwas
Erfüllendes. Bis zur Geburt. Bis zu dem Septembertag im Jahr 2010, als sie
im Krankenhaus lag, nackt, mit gespreizten Beinen.
Wenn sie über die Geburt ihres Sohnes spricht und die Zeit danach, macht
sie oft Pausen zwischen dem Reden. Dann schweift Karo Webers Blick über die
Wiese mit den Ahornbäumen, in denen Vögel zwitschern. Und weil es in dieser
Geschichte nicht nur um sie, sondern auch um ihr Kind geht, hat sie darum
gebeten, dass sie beide nicht mit ihren richtigen Namen darin auftauchen.
Es ist eine Geschichte über das Leben als Mutter. Über das Hadern damit.
## Am Ende Kaiserschnitt
„Der Geburtsprozess hat mich traumatisiert“, erzählt Karo Weber. „Ich kam
mir vor wie beim Fleischer. Ab und zu kommt jemand rein, zack, greift dir
zwischen die Beine und guckt, wie weit dein Muttermund schon geöffnet ist.“
Am Ende wurde es ein Kaiserschnitt. Weber erinnert sich an diesen Moment
nach dem Aufwachen: Ein Baby lag neben ihr. Ihr Baby. Aber bevor sie
glücklich darüber war, war da die Panik: „Oh Gott, was soll ich jetzt
machen.“
Es ließe sich sagen, dass zwar nicht alles planmäßig lief, es aber mit
einem Happy End ausging. Karo Weber war gesund, ihr Sohn auch. Aber ihre
Geschichte ließe sich auch so erzählen, dass die Idee, wie eine gute Mutter
zu sein hat, schon früh in uns verankert ist. Dass es erschreckend sein
kann, wenn das eigene Gefühl vom Ideal abweicht. Wenn man eben nicht
intuitiv weiß, was man mit einem Baby anfangen soll. Und Webers Geschichte
erzählt davon, wie eine Frau die Kontrolle verliert. Über ihren Körper, ihr
Leben.
Blauäugig sei sie gewesen, sagt Karo Weber. „Ich dachte, ich werde mein
Baby haben, wir werden uns lieb haben, alles wird gut.“ Sie hat ihr Kind
lieb. Aber es wurde nicht alles gut.
Karo Weber sagt: „Wenn ich die Wahl hätte, unter den gleichen Umständen,
dann würde ich das Kind nicht noch einmal bekommen.“
Die ersten anderthalb Jahre hat Weber genossen, doch mit der Zeit verlor
sie ihren Freundeskreis, in dem noch niemand Kinder hatte. Sie zog aus
Berlin weg, zurück in ihre Heimatstadt Leipzig, um ihre Eltern in der Nähe
zu haben. Der Vater des Kindes verließ sie. Er kümmert sich nicht, zahlt
keinen Unterhalt. Sie rechnet im Supermarkt, ob sie Geld für das
Küchenpapier mit dem eingestanzten Muster hat. Details sind ihr wichtig. In
ihrem Wohnzimmer sind die Farben von Gardine, Teppich und Teelicht
aufeinander abgestimmt – Lila und Fliedertöne.
Wieder ein Zug an der Zigarette. Sie hat ein schlechtes Gewissen, wenn sie
ungeduldig ist, laut wird. Sie möchte eine gute Mutter sein.
## Wer ist im Jahr 2016 eine gute Mutter?
Karo Weber muss nicht lange überlegen. „Eine gute Mutter ist immer
präsent“, sagt sie. „Sie ist immer ein gutes Vorbild. Sie ist immer
glücklich. Sie trinkt keinen Prosecco um vier. Und sie benutzt nie das böse
S-Wort.“ Eine gute Mutter ist eine, die nicht „Scheiße“ sagt.
„Wenn ich mit meiner Freundin am Rand des Spielplatzes sitze, mit meiner
Zigarette und einem Piccolo in der Hand und keine Lust habe, Sandburgen zu
bauen“, sagt Karo Weber, „dann scherzen wir immer: Wir schlechten Mütter.�…
Gute Mutter, schlechte Mutter. Gibt es nichts dazwischen? In unseren Mythen
symbolisieren zwei Figuren recht gut das schwarz-weiß gezeichnete
Mutterbild in Westeuropa: Maria und Medea. Medea, die Königstochter aus der
Argonautensage, bringt aus Eifersucht ihren Exmann um und ihre Kinder. Sie,
manchmal dargestellt mit zwei Kindern und einem Dolch, ist das
Worst-Case-Szenario der Mutterschaft: rachsüchtig, impulsiv, mörderisch.
Mit Maria beginnt das Neue Testament, die Grundlage des Christentums, sie
gebiert Jesus, ohne vorher Geschlechtsverkehr zu haben. Unbefleckt. Rein.
Maria wird oft mit einem langen Mantel dargestellt, unter dem sie eine
Schar von Gläubigen schützt, die Kinder Gottes.
## Der Sonne entgegen
Heute holen Lucas Großeltern ihn von der Kita ab. Nur deshalb hat Weber
Zeit, über ihr Leben mit ihrem 5-jährigen Sohn zu reden. Der Morgen fing
rasant an. Zehn vor sieben trällerte noch eine Frauenstimme aus dem Radio,
da rief Karo Weber aus der Küche: „Komm Schatz, jetzt anziehen.“ Dann
huscht sie in türkiser Jogginghose und pinken Pantoffeln ins Kinderzimmer.
Luca sitzt in Unterhose mit halb hochgezogener blauer Jeans auf seinem
Hochbett und brabbelt vor sich hin. Beim Anblick seiner Mutter zieht er
sofort seine Hose hoch. Es muss jetzt schnell gehen. Während Luca ins Bad
geht und sich langsam die Zähne putzt, kämmt sich Karo Weber rasch die
langen blondierten Haare, dann läuft sie ins Schlafzimmer, Luca tippelt
hinterher, schmeißt sich mit Schwung aufs Bett. Die sorgsam gefaltete Decke
neben ihm plustert sich auf. Er rollt sich auf den Rücken und macht
Babygeräusche.
„Hör auf damit. Du bist kein Baby. Und ich bin auch kein Baby.“
Karo Weber zieht sich um. Luca will spielen.
„Hör, bitte auf damit. Kannst du nicht etwas anderes machen? Etwas
spielen?“, ruft Weber. Luca rennt ins Kinderzimmer, schnappt sich ein
Comicheft mit Robotern, ruck, zuck hat er es durchgeblättert. Er greift
nach seinem Plastikgewehr, lädt es und schießt orange Bälle durch den Raum.
Dann die Autos, brumm, brumm fahren sie über den Teppich, ein Propeller
surrt in die Höhe. Das aufgeräumte Zimmer versinkt im Chaos.
## Sie taucht nie ab
Karo Weber trägt jetzt einen Jeansminirock, Stulpen und Chucks, ein T-Shirt
mit einem Peacezeichen. Sie wirft einen Blick ins Kinderzimmer, und
schüttelt den Kopf: „Das waren keine fünf Minuten.“ Aber für Aufräumen
bleibt keine Zeit. Um 7.15 Uhr müssen beide das Haus verlassen. Luca
versucht sich im Flur die Jacke zuzumachen. „Dieser blöde Reißverschluss“,
sagt er und zerrt daran. Karo Weber hilft ihm, sagt „ach, Männer“ und
drückt ihm eine Sonnenbrille in die Hand.
„Komm Hase, wir fahren der Sonne entgegen“, sagt sie und schließt die
Wohnungstür.
Bevor es los zur Kita geht, muss Luca einen Fahrradhelm aufsetzen, blau mit
Rennautos, er steigt aufs gelbe Fahrrad und düst los. Weber schwingt sich
auch aufs Rad und überholt ihn. Routine. Im Fahren gibt sie Anweisungen:
„Komm, die Ampel kriegen wir noch.“ „Nein, halt, hier stehen bleiben.“
Meist sieht Luca seine Mutter von hinten, wie ihre langen Haare über die
Jacke wehen. Manchmal tritt er in die Pedale, überholt sie kurz. Aber mit
der Geschwindigkeit von Karo Weber mitzuhalten, ist nicht leicht. Kaum bei
der Kita angekommen, geht sie mit schnellen Schritten zur Glastür, an der
steht: 6 Fälle Windpocken 1 Fall Influenza B. Dann eilt sie den langen Gang
entlang, während Luca hinterherschlurft und die rechte Hand über die Wände
zieht. Karo Weber dreht sich um: „Komm jetzt.“
In der Umkleide plaudert Karo Weber nebenbei mit einem Vater, Hausschuhe
an, Küsschen Hase, viel Spaß und kaum ist Luca verschwunden, schwingt sich
Karo Weber wieder aufs Rad, zur Schule, sie überfährt mindestens drei rote
Ampeln. Sie macht eine Umschulung zur Kauffrau für Büromanagement. Mit
ihrem Bachelor in Interkulturellen Europa- und Amerikastudien fand sie
keinen Job. Heute ist der letzte Tag vor den Prüfungen. Sie besprechen
Übungen, gleichen Ergebnisse ab. Karo Weber dreht sich zu ihren Mitschülern
um, sitzt kaum still, scherzt. Sie taucht nie ab. Sie spielt an ihrem
Computer Solitär und ruft dabei Lösungen in den Raum.
## Überhöhtes Bild
Frauen können in Deutschland heute selbst bestimmen, ob, wann und wie sie
Mutter werden wollen. Sie haben sich auch das Recht erkämpft, ein Kind
nicht zu wollen. Am 6. Juni 1971 titelte das Magazin Stern „Wir haben
abgetrieben“. 374 Frauen bekannten sich öffentlich zu ihrer Abtreibung,
damals war das noch illegal. Heute haben Frauen in Deutschland die
Kontrolle über ihren Körper. Eigentlich.
Das Bild der guten Mutter ist in Deutschland besonders überhöht. Auch weil
die Nationalsozialisten die Idee von der Frau als Gebärende und
Kinderkümmerin mit ihrem Mutterkult noch einmal richtig groß machten und
diese Vorstellung in der Nachkriegsrepublik lange überlebte. Bis heute
müssen sich Frauen erklären, wenn sie keine Kinder haben wollen.
Oder schlimmer noch, wenn sie bereuen, welche bekommen zu haben. Am
vergangenen Mittwoch veröffentlichte das amerikanische Netzmagazin Slate
wieder eine Geschichte darüber, die Autorin fordert: „Germany, Set Free the
Rabenmutter!“. Und es war Deutschland, wo eine Studie über bereuende Mütter
besonders großen Aufruhr auslöste.
## Darf man Kinder bereuen?
23 Frauen hat die israelische Soziologin Orna Donath für ihre Doktorarbeit
interviewt. Diese Frauen, egal ob 26 oder 73 Jahre alt, ob Arbeiterklasse
oder Mittelschicht, ob verheiratet oder getrennt, beantworteten alle eine
Frage gleich: „Wenn Sie in der Zeit zurückgehen könnten, mit den
Erfahrungen die Sie heute haben, wären Sie dann Mutter geworden?“
Die Antwort: Nein.
„Wir können so vieles bereuen, sagt Orna Donath bei der Vorstellung ihres
Buches „Wenn Mütter bereuen“ im März in Berlin. „Einen Job. Eine
Schönheits-OP. Eine Ehe. Ein Tattoo. Warum nicht auch die Mutterschaft?“
Nachdem die Studie veröffentlicht war, folgte in Deutschland eine
emotionale Debatte. Inklusive neuen Büchern wie „Die Mutterglück-Lüge“,
„Die falsche Wahl“ und „Wenn Mutter sein nicht glücklich macht“. Unter…
Hashtag #regrettingmotherhood stritten sich in den Foren des Internets
Frauen und Männer, die sich solidarisierten mit solchen, die den bereuenden
Müttern eine Entwertung der Mutterschaft und Gefühlskälte vorwarfen.
Könnte nicht beides zugleich existieren? Dass Frauen bereuen, Mutter
geworden zu sein, und ihr Kind trotzdem lieben?
„Ich liebe mein Kind, aber ich habe mich selbst geopfert“, sagt Karo Weber
auf ihrem Balkon. „Ich bin das übrig gebliebene Elternteil, eingeschränkt
in meinen Handlungsoptionen, auch in der Jobwahl, selbst meinem Bedürfnis,
mit jemanden persönlich zu sprechen, kann ich nicht immer nachkommen. Ja,
klar, ich kann telefonieren, aber das ist nicht das Gleiche.“
Weber bereut nicht, dass es Luca gibt. Aber sie würde gern anders leben.
Sie sagt: „Womit ich nach wie vor nicht klarkomme, ist, dass ich meinen
Impulsen nicht nachkommen kann. Dass dieses Zwanglose, Unkomplizierte
verloren gegangen ist.“
Sie hat gern getrunken und gefeiert. Aber es gehe ihr nicht darum, jede
Woche in einer Bar abzuhängen. Ihr macht das Gehetzte und Pausenlose zu
schaffen: Kind anziehen, Kita, Schule, abwaschen, saugen, ihre Hausaufgaben
machen, Spielplatz, zum fünften und sechsten Mal ermahnen, nein, das darfst
du nicht. Das dauernde Warten auf Luca, wenn sie viel zu tun hat. „Ich
mache das alles allein“, sagt Karo Weber. „Ich fühle mich manchmal allein.…
Dass es nicht nur ihr so geht, weiß sie. Wissen schließlich alle. Nahezu
jede dritte Ehe wird geschieden, Frauen verdienen weniger, arbeiten öfter
in Teilzeit, übernehmen den Großteil der Erziehung und der Hausarbeit.
Seit zwei Jahren hat sie einen neuen Partner. Der überlasse die Erziehung
von Luca vollständig ihr. Sie habe ihn bisher auch nicht um Hilfe gebeten.
„Aber er sieht doch, wie ich lebe“, sagt Karo Weber.
## Wie sähe eine Welt aus, in der sie gern Mutter wäre?
„Es gibt doch eine Idealsituation: Man hat einen Partner, der sich kümmert,
einen Job, Sicherheit. Und die Mutter macht nicht alles allein. Die
Großeltern, die Geschwister oder gute Freunde wirken bei der Erziehung
mit.“
Wenn die Umstände besser wären, dann wären auch die Mütter glücklicher?
Einige sicher. Nicht alle.
In ihrer Untersuchung befragte Orna Donath Frauen die generell lieber kein
Kind geboren hätten. Als sie ihr Buch in Berlin vorstellt, sagt Donath, es
sei wichtig, dass auch Frauen, die es mühsam finden, Mütter zu sein, sich
äußern. Frauen wie Karo Weber. Sie alle sollen Reue ausdrücken können,
Bedauern.
Wenn die Aktion gegen Abtreibung 1971 im Stern gezeigt hat, dass Frauen um
die Hoheit über ihren Körper kämpfen, so demonstriert Donaths Studie
vielleicht, dass Frauen jetzt um die Hoheit über ihre Gefühle kämpfen.
Warum sollte jemand Frauen vorschreiben können, wie sie zu empfinden haben?
Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied. Die 374 Frauen im
Stern ließen sich mit Foto und Namen ablichten. Die meisten Mütter, die
bereuen, ein Kind bekommen zu haben, bleiben anonym. Wie Karo Weber. Wer
will schon als Rabenmutter gelten?
## Die Rabenmutter
Anne Bonnie Schindler hat sich genau dieses Wort geschnappt: Rabenmutter.
Das Schimpfwort für Frauen, die ihre Kinder vernachlässigen, weil die Leute
einmal glaubten, Raben würden ihre Jungen zu früh aus dem Nest jagen.
Schindler, 35 Jahre alt, will einen Verein gründen, der diesen Namen trägt:
Raben-Mütter e. V. Ihr Herzensprojekt, wie sie es nennt, soll über die
Mutterrolle und ihre Mythen aufklären. Sie sitzt mit ihrem Sohn im
linksalternativen Café Kollektiv in Berlin-Neukölln und erzählt, wie sie im
März 2015 einen Onlineaufruf startet und Unterstützung sucht.
Sie will Müttern wie Karo Weber helfen, Müttern wie sie selbst. Schindler
bekommt mit 18 Jahren ihr erstes Kind, mit 21 das zweite. Jeweils vier
Monate nach der Geburt geht sie wieder arbeiten. Mit ihrem
Hauptschulabschluss jobbt sie hier und da, in Kantinen, sie geht putzen,
steht am Fließband. Sie und ihr Mann arbeiten, teilen sich den Haushalt,
beide kümmern sich um die Kinder. Aber die Trennung verändert die
gleichberechtigte Elternschaft: Als Schindler mit 23 Jahren auszieht, sind
die Kinder zweieinhalb und fünf Jahre alt.
Anne Bonnie Schindler geht. Sie sagt ganz bewusst „gehen“. „Bei dem Wort
‚verlassen‘, kriege ich Haare auf den Zähnen“, sagte sie, während sie S…
einen Löffel vom Gläschen feines Bio-Früchtemus in den Mund schiebt. Said
ist Schindlers drittes Kind. Aber dazu später.
Sie geht aus ihrer Heimat Bayern nach Berlin, um auf dem zweiten
Bildungsweg ihr Abitur nachzuholen. Ihre beiden ersten Kinder bleiben beim
Vater. Männer tun das öfter einmal, Mütter, die nach einer Trennung nicht
bei den Kindern bleiben, gibt es weniger. Vielleicht treten sie auch nicht
so an die Öffentlichkeit. In Schindlers Nachbarschaft rumort es: Sie sei zu
jung Mutter geworden, sie sei überfordert, sie sei egoistisch. Irgendetwas,
so viel ist klar, kann mit ihr nicht stimmen. Das Jugendamt fragt sie, ob
sie drogenabhängig sei. Gewalttätig.
„Warum konnte ich nicht wie tausend andere Väter agieren?“, fragt sie.
„Warum ist eine Frau ein krankes Miststück?“ Sie kommt ins Stocken, sucht
nach Worten, fängt sich. Dann sagt sie: „Ich bereue nichts, weder dass ich
Kinder bekommen habe, noch dass es so gekommen ist.“
## Kein Kontakt mehr
Seit Anfang 2015 hat Schindler erneut keinen Kontakt mehr zu den beiden
ersten Kindern. Manchmal schmerzt das. Ihre Entscheidung bedeute doch
nicht, dass sie nicht mehr Mutter sein, ihre Verantwortung nicht wahrnehmen
wolle.
Sie verlor immer wieder den Kontakt zu ihren Kindern. Sie stritt sich mit
ihrem Exmann vor Gericht. Nach der Scheidung will auch ihre Mutter mit ihr
nichts mehr zu tun haben.
„Mütter, die gehen, werden pathologisiert, weil wir davon ausgehen, dass
Mutterschaft etwas Intuitives ist“, sagt Schindler. Fernab von
gesellschaftlichen Konventionen habe sie bei der Trennung eine bewusste,
rationale Entscheidung getroffen: „Was kann er? Was kann ich? Und dann bin
ich einen großen Verlust eingegangen.“ Mehr will sie dazu jetzt nicht
sagen.
Sie holt in Berlin ihr Abitur nach, fängt eine Ausbildung zur Erzieherin
an, bricht sie ab, arbeitet als Türsteherin, eröffnet mit einer Partnerin
den alternativen Sexshop „Other Nature“ in Berlin. Sie steigt wieder aus
und beginnt eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, die sie unterbricht, als
sie erneut schwanger wird – mit Said.
## Das dritte Kind macht sie unangreifbar
Sie freut sich, sagt sie. Über das Kind. Aber auch darüber, dass sie das
mit dem Verein nun durchziehen kann. Sie sagt, sie habe diesen Schritt nur
gehen können, weil sie wieder schwanger war.
„Ich wusste, wenn Said da ist, kann mich keiner mehr treffen“, sagt Anne
Bonnie Schindler. Zweifel und Schuldgefühle seien irgendwie auch immer da
gewesen: „Hat das mit einem Mangel, mit fehlender Mutterliebe zu tun?“
Schindler muss erneut Mutter werden, um den Verein Raben-Mütter gründen zu
können, „bunt, alternativ und Freundinnen aller Familienmodelle“. Offen f�…
heterosexuelle Männer, Schwule, Lesben, Queere und Transmenschen. Der
Verein soll für die soziale Familie einstehen – Bindungen sollen mehr
zählen als Blutsverwandtschaft. Ein Ziel von Raben-Mütter e. V. ist, dass
mehr als zwei Personen in die Geburtsurkunde eines Kindes eingetragen
werden können.
Was Familie ist und was eine Mutter, hat sich schließlich nicht zum ersten
Mal verändert. Vor der industriellen Revolution arbeiteten viele Frauen
selbstverständlich auf dem Feld, im Haus, im Garten, in Geschäften mit. Die
Großfamilie produzierte, was gebraucht wurde. Geschlechterteilung gab es.
Aber zwischen unbezahlter Hausarbeit und entlohnter Erwerbsarbeit außer
Haus zu unterscheiden, etablierte sich erst mit dem Auslagern der
Produktion in Fabriken und andere Betriebe. Sich um Kinder zu kümmern,
wurde zunehmend Aufgabe der leiblichen Mutter.
Anne Bonnie Schindler scheitert. Raben-Mütter e. V. scheitert. Am 7. März
2016, einen Tag vor dem Internationalen Frauentag, postete der Verein auf
Facebook: „Nach langem Überlegen wird der Zusammenschluss, einen Verein für
alleinstehende Mütter zu gründen, nicht weiter nachgegangen. Es haben sich
trotz viel positiven Feedbacks leider nicht die nötigen Mitglieder gefunden
und die gesetzten Ziele wurden nicht erreicht.“
## Eine harte Zeit
Es hätten sich viele Frauen gemeldet, sagt Schindler, aber sie wollten nur
in einem geschützten, nicht öffentlichen Raum sprechen. „Kaum jemand war
bereit, die Probleme nach außen zu tragen.“
Anfang Juni steht sie in Leggins und buntem T-Shirt in ihrer Küche am Herd
und kocht Kaffee. Sie sagt: „Die Ideen sind im Ordner.“ Auf dem linken Arm,
der bis zu den Händen tätowiert ist, hält sie Said. Ein Jahr ist er jetzt
alt, er kränkelt. Sie stellt eine Schale Heidelbeeren auf den Tisch. Sie
scheucht den Hund hinaus, um den sie sich gerade mitkümmert. Sie hebt Said
auf seinen Kinderstuhl, dann setzt sie sich selbst.
„Die letzte Zeit war hart“, sagt Schindler, steht wieder auf und testet, ob
die H-Milch noch gut ist. Sie flockt. Seit drei Monaten klafft eine Lücke
unter der Arbeitsplatte. Der Kühlschrank fehlt, das Geld für einen neuen
auch. Das Jobcenter hat sie zu Rückzahlungen verpflichtet, also hat sie die
letzten Monate von 250 Euro gelebt.
Dazu das Auf und Ab mit dem Vater des Kindes, von dem sie zwar getrennt,
aber um eine gute Beziehung bemüht ist. Sie versucht wieder Kontakt zu
ihrer Mutter zu bekommen. Die Frau, mit der sie den Raben-Mütter-Verein
gründen wollte, möchte nicht mehr mitmachen. Schindler hat ihre Ausbildung,
die sie wegen Said unterbrochen hat, wieder angefangen. Sie fehlt an vielen
Tagen, Kind krank, sie krank, Tagesmutter krank.
Said nuckelt an seinem Schnuller und versucht mit einem Löffel Heidelbeeren
aus der blauen Schüssel Richtung Mund zu transportieren. Die meisten
kullern auf den Küchenboden. Sie küsst ihn überall auf den ganzen Bauch. Er
läuft ein paar wackelige Schritte zum Hund. Laufen kann er erst seit
kurzem.
Said rollt einen Ball zu seiner Mutter und lacht. Sie lacht auch und rollt
ihn zurück.
## Die Rolle abgeben
Seit ihre Tochter Streit mit ihrem Vater hat, hat Schindler wieder Kontakt
zu ihr. Schindler weint, während sie das erzählt, schnappt sich Said und
küsst ihn auf den Kopf. Sehr lange habe sie auf diesen Moment gewartet. Die
Tochter habe viele weibliche Bezugspersonen in Bayern. „Doch sie braucht
mich jetzt, als biologische Mutter.“
Mutter zu sein sei eine Rolle, sagt Anne Bonnie Schindler. Gerade für sie,
„denn eigentlich bin ja ein zorniger Mensch.“ Das müsse sie kontrollieren.
„Aber das kann ich“, sagt sie, „ich war ja auch Türsteherin und
Geschäftsfrau.“ Wenn Mutter eine Rolle ist, müsste es dann nicht auch
möglich sein, diese Rolle abzulegen? Die Feministin Simone de Beauvoir hat
in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ 1951 geschrieben: „Man wird
nicht als Frau geboren, man wird es.“ Wird eine Frau mit der Geburt eines
Kindes nicht automatisch zur Mutter?
Karo Weber schenkt sich an dem Freitagabend im Mai auf ihrem Balkon in
Leipzig ein Glas Rotwein ein. In ein paar Tagen wird sie ihre
Abschlussprüfung schreiben. Sie sagt: „Heute war es ruhig.“ Sie hat den
Kleinen fertig gemacht, zur Kita gebracht, war in der Schule, einkaufen,
hat den Kühlschrank abgetaut und sauber gemacht. Gleich nach dem Abendessen
muss Luca ins Bett. „Ach, wären wir einfach zum See gefahren“, sagt Karo
Weber. „Oder ins Café.“ Normalerweise geht die Berufsschule länger als
heute, ihre Eltern können oft nicht auf Luca aufpassen.
Dann muss sie zur Kita rennen, ihn am Dienstag zur Logopädie bringen, zum
Schwimmunterricht am Mittwoch. Heute schiebt sie Tiefkühlpizza in den Ofen
und tröstet Luca, als er erzählt, dass er seinen Propeller verloren hat.
Sie macht ihm den Fernseher an. Es läuft „Heidi“ – die Geschichte über …
Waisenkind, das nach dem Tod der Eltern zum mürrischen Großvater in die
Berge ziehen muss.
Karo Weber hat seit der Geburt ihres Kindes zwei Kleidergrößen abgenommen.
Wenn es gerade gut läuft mit ihrem Freund, in den schönen Momenten, da
denkt sie über ein neues Kind nach. „Irgendwie ist es doch immer noch so“,
sagt sie und trinkt einen Schluck Rotwein , „ein Kind ist doch die Krönung
einer Liebe.“
10 Sep 2016
## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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