# taz.de -- Folgen der Kinderschutzpolitik: Wenn die Eltern verschwinden | |
> Nehmen die Jugendämter zu viele Kinder aus Familien? Betroffen sind vor | |
> allem arme oder alleinerziehende Mütter und Väter. | |
Bild: Viele betroffene Eltern vernetzen sich im Netz | |
HAMBURG taz | Gudrun Gärtner* hat vier Kinder, doch sie darf sie nicht | |
sehen. Schon seit 2009 ist das so. Eine Familienrichterin sagte damals: | |
„Ich entziehe Ihnen jetzt Ihre Kinder“, erinnert sich die Mittfünfzigerin | |
unter Tränen. Das war in einer Stadt in Norddeutschland. „Ich war einfach | |
erschöpft“, sagt sie. „In fünfeinhalb Jahren hatte ich vier Kinder | |
bekommen.“ | |
Sie erlebte eine Trennung, die, wie offenbar häufiger üblich, damit endete, | |
dass die Mutter aus dem Leben der Kinder verschwindet. Damit ist Gärtner | |
eine von fast 400 Betroffenen, die seit Juni 2017 an den | |
CDU-Familienpolitiker Marcus Weinberg schrieben und einen schwerwiegenden | |
Vorwurf erhoben: Nimmt der Staat zu viele Kinder aus Familien? | |
Weinberg sagt: „Meines Erachtens kommt es zu oft vor, dass Kinder zu | |
schnell oder nicht ausreichend begründet aus ihrer Familie genommen | |
werden.“ Das könne „traumatische Folgen für Kinder und Eltern haben“. | |
Demnächst wolle er eine Auswertung dieser Berichte vornehmen lassen, um zu | |
prüfen, „ob Strukturen oder Gesetze geändert werden müssen“. | |
So steht es sogar im Koalitionsvertrag, den Weinberg zum Thema Familie | |
mitverhandelt hat. Im Vorfeld einer erneuten Änderung des Kinder- und | |
Jugendhilfegesetzes sollen in Zukunft auch „Erfahrungen von Beteiligten und | |
Betroffenen“ gesammelt und systematisch analysiert werden. | |
Gärtner will ihre Geschichte in der Zeitung nur grob erzählen – zum Schutz | |
der Kinder, wie sie sagt. Der Jüngste war gerade drei Jahre alt, als sie | |
ihren Mann verließ und mit den Kindern in eine neue Stadt zog. Der Vater | |
stellte beim Jugendamt daraufhin ihre Erziehungskompetenz infrage. Es kommt | |
zum Hausbesuch. | |
## Sie verweigere die Kooperation | |
Das Jugendamt konstatiert, dass die neue Wohnung zwar klein ist, die Kinder | |
bei der Mutter aber gut versorgt seien. Doch das Amt schickt eine | |
Familienhelferin, die Gärtner nicht geeignet findet. Sie informiert sich | |
über ihre Rechte und stellt die Hilfe gegenüber dem Amt infrage. Nun heißt | |
es, sie verweigere die Kooperation. Es kommt zum Richterspruch. | |
Die Kinder werden getrennt, kommen in zwei Pflegestellen und später zum | |
Vater, der sich inzwischen eine neue Partnerin gesucht hat. Gudrun Gärtner | |
darf fortan nur noch „begleiteten Umgang“ haben, das heißt, sie sieht die | |
Kinder in einem Raum des öffentlichen Trägers, zusammen mit einer Person, | |
die aufpasst und Protokoll führt. | |
So geht es eine Weile. Ende 2013 fährt Gärtner nach Süddeutschland, | |
dorthin, wo ihre Kinder jetzt leben. Vor Ort erfährt sie, dass der | |
mütterliche Umgang auf Antrag des Vaters „ausgesetzt“ sei. Seither haben | |
die Mutter und ihre Kinder sich nicht gesehen. | |
„Der Richter sagte damals, weil ich die Situation nicht einsehe, muss man | |
mir den Umgang verbieten“, sagt Gärtner. Und das soll bis 2019 so bleiben, | |
obwohl der Vater nach langer Erkrankung inzwischen gestorben ist und die | |
vier Kinder bei seiner neuen Partnerin leben, die zu ihrer Pflegestelle | |
wurde. Und obwohl zwei von ihnen bis 2019 schon volljährig sind. | |
## Die Ursachen sehen Instanzen bei Eltern | |
Zu konkreten Fällen dürfen sich die Jugendämter wegen des Datenschutzes | |
nicht äußern. Eine öffentliche Auseinandersetzung um Einzelfälle ist kaum | |
möglich. Doch die Sichtweise der Ämter findet sich in Beschlüssen der | |
Gerichte, die teils sogar in Fachzeitschriften publiziert sind. | |
Dort ist immer wieder von schädlichem Einfluss der ausgegrenzten Verwandten | |
zu lesen, von Loyalitätskonflikten, vor denen man ein Kind verschonen will. | |
Die Ursache für den Abbruch des Umgangs sehen staatliche Instanzen meist | |
bei den Eltern, selten bei sich. | |
Auch Helene Velios* kämpft um ihren Sohn. Auch sie hat sich unter anderem | |
an den CDU-Politiker Marcus Weinberg gewandt. 2015 wurde der Hamburgerin | |
auf Antrag des Jugendamtes das Sorgerecht für ihren zehnjährigen Sohn | |
Linos* entzogen. | |
Bis dahin arbeitete sie gut mit dem Jugendamt zusammen. Doch eine neue | |
Sachbearbeiterin bewertete ihren Fall ganz anders und beantragte im | |
Eilverfahren, dass der Vater das alleinige Sorgerecht bekomme. „Es hieß, es | |
existiere eine zu große Nähe zwischen uns“, sagt Velios. „Angeblich würde | |
ich meinen Sohn idealisieren.“ | |
## Beschwerde unter Kindertränen | |
Der Fall schlug jüngst in Hamburg hohe Wellen. Denn der Junge blieb nicht | |
lange beim Vater, es gab Probleme dort, stattdessen kam er ins Heim. Weil | |
sie die Zustände dort kritisierte, erhielt Helene Velios ein Kontaktverbot. | |
„Warum darf ich meine Mama nicht sehen?“, beschwerte sich Linos im Juni | |
unter Tränen bei seiner Verfahrensbeiständin. | |
Noch kurz vor Weihnachten bestätigte ein Gericht das Kontaktverbot. Zum | |
einen weil er sich nach Einschätzung des Jugendamtes im Heim stabilisierte, | |
zum anderen weil die Mutter die Unterbringung weiterhin ablehnt. Ihr | |
Anwalt Rudolf von Bracken sagt: „Man kann das Problem nicht lösen, indem | |
man die Mutter entfernt.“ | |
Der Blick in die Statistik zeigt: Deutschlandweit sind überproportional | |
viele Kinder von Alleinerziehenden in Heimen. Familienanwalt von Bracken | |
erklärt dies aus seiner langjährigen Erfahrung als Anwalt so: „Es gibt die | |
vielen Trennungsfälle, die gut verlaufen, aber wo es schiefgeht, orientiert | |
sich das Jugendamt an dem Elternteil, der kooperiert. Das ist oft der | |
Vater, während die Mutter um das Kind kämpft.“ Dieses Handeln der Behörden | |
bedeute weniger Stress, doch fehle eine Kultur, „eigene Fehler zu erkennen | |
und darauf zu reagieren“. | |
Auch die gebürtige Berlinerin Kristina Bach* ist so eine alleinerziehende | |
Mutter, die um das Sorgerecht für ihre Tochter kämpft. Im Januar | |
organisierte sie eine Protestdemo vor dem Jugendamt Rathenow – sie kämpft | |
um ihre Tochter. Auch dieses Kind war beim Vater und ist nun, weil das | |
Zusammenleben dort nicht gut funktionierte, im Heim. | |
## Eltern vernetzen sich in Internetforen | |
Auch obwohl ein Gutachter zu dem Schluss kam, dass die Mutter die | |
Hauptbezugsperson ist und die Beziehung zu ihrem Kind gut. „Man warf mir | |
vor, dass ich einen 'Kreuzzug’ gegen das staatliche Wächteramt führe“, sa… | |
Bach gegenüber der taz. Demos machen oder an die Presse gehen, so etwas | |
gehe nicht aus Sicht der Jugendämter. | |
Es gibt viele betroffene Eltern, die sich in Internetforen vernetzen. Es | |
gibt über 30 Gruppen mit Namen wie „Jugendamtsopfer“, „Jugendamt | |
Familienstasi“, mit mehreren hundert Mitgliedern. Auch von „Kinderklau“ u… | |
„Jugendamtsmafia“ ist zu lesen. | |
Den meisten dieser Eltern fehlt wohl das Vertrauen in das Hilfesystem. Auch | |
ein Austausch mit Fachleuten scheint kaum möglich. Anders der frühere | |
Hamburger Jugendhilfe-Abteilungsleiter Wolfgang Hammer. Er nimmt sich Zeit | |
für die Betroffenen. 15 Beschwerden über Fälle aus Hamburg und | |
Norddeutschland seien seit seinem Ruhestand 2013 an ihn herangetragen | |
worden. „Es wurden Kinder aus Familien genommen, ohne dass es eine | |
substanzielle Kindeswohlgefährdung gab“, sagt er. | |
Meist treffe es alleinerziehende Mütter, die nach Auffassung eines | |
Sachbearbeiters eine zu große Nähe zum Kind oder andere Defizite hätten, | |
die aber bloßes Werturteil von diesem seien und „kein Grund, ein Kind aus | |
einer Familie zu nehmen“. Dahinter vermutet Hammer politischen Druck auf | |
die Ämter, aber auch menschliche Schwächen. „Wenn man Menschen mit Macht | |
ausstattet, besteht immer die Gefahr, dass es Personen mit der Tendenz | |
gibt, Macht zu missbrauchen.“ | |
## Fachwelt streitet über Folgen | |
In der Fachwelt gibt es einen heftigen Disput über die Auswirkungen der | |
Kinderschutzpolitik der letzten Jahre. Eine kritische Analyse zu | |
„Kindesinobhutnahmen 1995–2015“ schrieb etwa der Kriminologe Birger | |
Antholz im August 2017 in der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und | |
Jugendhilfe. Darin betont er, dass laut Bundesverfassungsgericht | |
Kindesentzug immer nur die allerletzte Maßnahme sein darf. Doch die | |
Statistik zeige, das dies „vom Mittel der letzten Wahl oft genug zum Mittel | |
der ersten Wahl geworden ist“, so Antholz. | |
Anlass für diese Entwicklung waren erschütternde Fälle von Kindern, die das | |
Jugendamt nicht schützen konnte, wie der Tod der siebenjährigen Jessica, | |
die 2005 in Hamburg verhungert in der Wohnung ihrer Eltern aufgefunden | |
wurde. Noch im selben Jahr wurde Paragraf 42 des Sozialgesetzbuchs VIII vom | |
Gesetzgeber verschärft. „Das Jugendamt“, so schreibt Antholz, „bekommt n… | |
eindeutiger die Befugnis, Kinder oder Jugendliche auch ohne | |
Familiengerichtsentscheidung ihren Eltern wegzunehmen“. | |
Zugleich wurde ebendort der Paragraf 8a eingefügt, der freie Träger | |
verpflichtet, dem Jugendamt bei Verdacht auf Kindesvernachlässigung Bericht | |
zu erstatten. Dieser Paragraf, kritisiert Antholz, mache eine auf Vertrauen | |
basierende Jugendhilfe „eigentlich unmöglich“, weil Helfer Informanten sein | |
würden. | |
Dieses Gesetz, so schreibt Birger Antholz in seiner Analyse weiter, sei „in | |
Kombination mit öffentlichkeitsaffinen Staatsanwälten, spektakulären | |
Einzelfällen, Sensationspresse und Selbstgenehmigungsstrukturen“ für den | |
Anstieg der Kindeswegnahmen in den letzten zehn Jahren verantwortlich. | |
## Eltern können sich auch stabilisieren | |
Von 2005 (25.664 Fälle) bis 2015 (35.336 Fälle) sind dies fast 40 Prozent. | |
Ferner wurde 2008 mit der Verschärfung des Paragrafen 1666 BGB, | |
„Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“, der Entzug des | |
Sorgerechts erleichtert. | |
Im Juni 2017 gab es dann noch eine weitere Änderung des Kinder- und | |
Jugendhilfegesetzes. Diese sollte auch den Vorschlag des von Katarina | |
Barley (SPD) geführten Familienministeriums umsetzen, nach dem für Kinder, | |
die im Heim oder bei Pflegeeltern leben, eine frühe „Perspektivklärung“ | |
festlegt, ob sie nur vorübergehend oder dauerhaft dort sind. | |
CDU-Familienpolitiker Marcus Weinberg sah darin eine weitere Schwächung der | |
Position der Herkunftseltern, seine CDU stellte sich quer. Seither führt | |
er viele Gespräche mit betroffenen Müttern und auch Vätern. Er sagt, | |
Einzelfälle könne er nicht überprüfen, also keine konkreten Hilfestellungen | |
geben. Auch gebe es leider hochproblematische Fälle, „wo eine Rückführung | |
zu den leiblichen Eltern nicht mehr möglich ist“. | |
Doch es gebe auch Situationen, wo Eltern sich nach einiger Zeit | |
stabilisieren und ihre Kinder dennoch nicht zurückbekämen. Das sei falsch, | |
sagt Weinberg: „In den meisten Fällen fehlt es leiblichen Eltern nicht an | |
Interesse oder Zuneigung gegenüber ihren Kindern.“ Sie hätten vielmehr | |
erhöhten Unterstützungsbedarf im täglichen Leben. | |
## Ambulante Hilfen gestiegen | |
Mit seiner Analyse in der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe | |
erhielt Birger Antholz im Sommer 2017 viel Kritik. In der Folgeausgabe | |
warfen Kritiker ihm eine unzulässige „Komplexitätsreduktion“ und Verzerru… | |
vor. | |
„Gerade die gute Kooperation mit den Jugendämtern ermöglicht es vielen | |
Eltern, trotz einer schwierigen Lebenssituation weiterhin mit ihren Kindern | |
gemeinsam in einem Haushalt zu leben“, schrieb etwa der bayerische | |
Jugendamtsleiter Michael Wagner in einer „Replik aus der Jugendamtspraxis“. | |
Auch seien im diskutierten Zeitraum die ambulanten Hilfen für Familien, in | |
denen die Kinder blieben, deutlich stärker gestiegen als | |
Heimunterbringungen und Inobhutnahmen. Jugendämter würden vielmehr häufiger | |
von Institutionen kritisiert, weil sie nicht verstehen würden, wie man | |
diese Kinder „in solchen Verhältnissen lassen“ könne. | |
CDU-Familienpolitiker Weinberg setzt indes auf den neuen Koalitionsvertrag. | |
Er wolle dafür sorgen, dass die betroffenen Eltern besser unterstützt | |
werden, sagt er, und „nicht mehr durchs Jugendhilfe-Raster fallen“. | |
*Name geändert | |
21 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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