| # taz.de -- Zwangstrennung von den Eltern: Die Kinderschutz-Frage | |
| > Die Zahl der Kinder in Heimen und Pflegefamilien ist so hoch wie nie. Das | |
| > könnte auch an übereifrigen Jugendämtern liegen. | |
| Bild: Kinder aus ärmeren Familien werden schneller ihren Eltern weggenommen | |
| Hamburg taz | Wie wichtig Jugendhilfe ist, wird neuerdings auch mit Werbung | |
| gezeigt. Zwei blonde Mädchen in rosa und weißem Shirt gucken in die Kamera, | |
| die ältere hält schützend die Arme um die jüngere Schwester. „Ihr | |
| Elternhaus war von Gewalt und Drogenmissbrauch gekennzeichnet“, heißt es in | |
| der Anzeige eines großen Heimträgers. Nun hätten sie beide ein neues | |
| Zuhause gefunden und Chancen, „die ihnen die leiblichen Eltern wohl nicht | |
| bieten können“. | |
| [1][Dass Kinder nicht bei ihren Eltern leben, kommt Ende der 2010er-Jahre | |
| häufiger vor als früher]. Eine Anfrage der Linken im Bundestag von April | |
| ergab, dass 2017 mehr als 81.000 Kinder in Pflegefamilien lebten, so viele | |
| wie noch nie, und ein Drittel mehr als 2008. Da ergäben sich Fragen, | |
| [2][sagte der Linken-Abgeordnete Norbert Müller der Tagesschau]. Vor allem, | |
| da ein Großteil dieser Kinder aus finanziell schwachen Verhältnissen komme | |
| und mehr als die Hälfte aus Alleinerziehenden-Haushalten. Und er fragte: | |
| „Sollte es gesellschaftlich akzeptiert sein, dass Kinder, weil sie arm | |
| sind, ein höheres Risiko haben, fremd untergebracht zu werden und nicht bei | |
| ihren Eltern leben zu können?“ | |
| Übrigens ist auch die Zahl der Heimunterbringungen gestiegen. Auch etwa um | |
| ein Drittel seit 2008. Zusammen waren es 2017 rund 180.000. Die | |
| Bundesregierung findet die Zahlen erfreulich. Wenn die Jugendämter heute | |
| „mit mehr Fällen umgehen, weil wir eine höhere Meldung haben von | |
| problematischen Fällen, dann ist das für uns erst mal eine positive | |
| Entwicklung“, sagte ein Sprecher des Bundesfamilienministeriums. | |
| Die Frage ist umstritten. Nachdem beim CDU-Bundestagsabgeordneten Marcus | |
| Weinberg [3][Hunderte von Beschwerden von Eltern eingingen], die klagten, | |
| sie würden zu Unrecht von ihren Kindern getrennt, hat der Bundestag in | |
| diesem Frühjahr dazu einen Forschungsauftrag an ein Institut vergeben. | |
| Betroffene, die ihren Jugendämtern mitteilten, dass sie sich dort melden | |
| würden, berichten von Druck, der auf sie ausgeübt worden sei. | |
| ## Zahl der Sorgerechtsentzüge ist gestiegen | |
| Die Zahlen der Kinder in Heimen und Pflegefamilien müssen vorsichtig | |
| interpretiert werden – zumindest ab 2015 haben sie sich auch durch die | |
| unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge erhöht. Doch dass der Staat | |
| häufiger in Familien ergreift, steht wohl fest. Ein gerade erschienenes | |
| Buch mit dem Titel „Staatliche Kindeswohlgefährdung?“ beleuchtet diese | |
| Entwicklung kritisch. Die Sozialpädagogik-Professoren Gregor Hensen und | |
| Reinhold Schone rechnen darin vor, dass die Zahl der Sorgerechtsentzüge von | |
| 2005 an auf mehr als das Doppelte gestiegen ist: von durchschnittlich 8.096 | |
| in den Jahren 2000 bis 2005 auf durchschnittlich 16.522 in den Jahren 2015 | |
| bis 2017. Hinzu kommt eine hohe Zahl von 8.000 bis 9.000 Fällen pro Jahr, | |
| in denen Eltern vom Gericht zur Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung | |
| verpflichtet wurden. | |
| Damit waren die Eingriffe in die elterliche Sorge im Jahr 2017 auf einem | |
| „Allzeithoch“ seit Bestehen der Jugendhilfestatistik. Und das sei mit hoher | |
| Wahrscheinlichkeit nicht damit zu erklären, dass Kinder in Familien heute | |
| gefährdeter sind als von 20 Jahren, so die Autoren. Vielmehr schauten die | |
| Jugendamtsmitarbeiter anders hin. Zudem erleichterte ein Gesetz von 2008 | |
| die Eingriffe der Gerichte bei Kindeswohlgefährdung, weil Eltern seitdem | |
| kein Versagen mehr nachgewiesen werden muss. | |
| Hensen und Schone führen aus, dass das Wort „Kindeswohlgefährdung“ ein | |
| unbestimmter Rechtsbegriff mit „existenziellen Folgen für Eltern und | |
| Kinder“ sei. Eine positive Bestimmung sei nicht möglich, weil das, was | |
| gesellschaftlich normiert als „gut“ für Kinder gilt, immer auch „von | |
| kulturell, historisch-zeitlich oder ethnisch geprägten Menschenbildern | |
| abhängig ist“. So würden auch die zur Sicherung des Kindeswohls | |
| beauftragten Sozialarbeiter, Richter, Psychologen und Mediziner ihre | |
| eigenen weltanschaulichen, politischen, alltagstheoretischen und | |
| schichtspezifischen Vorstellungen zum Maßstab ihres Handelns machen. | |
| „Sie hat etwas Besseres verdient“, soll eine Amtsvormündin gesagt haben, | |
| als sie eine Elfjährige von ihrer Mutter trennte. Ein Kind ohne | |
| Hauptschulabschluss, das sei „Kindeswohlgefährdung“, eine andere. Und in | |
| der Handreichung „Murat spielt Prinzessin“ für Kitas zur Erziehung zur | |
| geschlechtlichen Vielfalt heißt es, wenn Eltern mit Ablehnung oder | |
| Verleugnung auf geschlechtsvariables Verhalten eines Kindes reagierten und | |
| dazu keine Gesprächsbereitschaft zeigten, sollte die Situation „auch unter | |
| dem Blickwinkel einer möglichen Kindeswohlgefährdung betrachtet werden“. | |
| Wenn mit dem Begriff des „Kindeswohls“ gemeint ist, dass Kinder sich | |
| positiv entwickeln sollen, dann sei dafür das Wichtigste die Bindung, | |
| schreibt der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer in einem Beitrag | |
| zum Buch. Bestehende Bindungen zu erhalten, bei Bindungsstörungen zu helfen | |
| oder neue Bindungen zu ermöglichen, sei oberste Leitlinie, um Kinder zu | |
| fördern und zu schützen. Hammer: „Jede Inobhutnahme, die nicht auf dieser | |
| Grundlage erfolgt, stellt eine Kindeswohlgefährdung dar.“ | |
| Nachgewiesene körperliche und sexuelle Misshandlungen seien selten, | |
| schreibt die Gießener Psychologin Andrea Christidis in „Staatliche | |
| Kindeswohlgefährdung?“. Die meisten der rund 45.800 Kinder, bei denen 2016 | |
| eine Kindeswohlgefährdung angenommen wurde, sollen Anzeichen für | |
| Vernachlässigung oder psychische Misshandlungen gehabt haben. „Das sind | |
| Hinweise, die sich kaum prüfen lassen“, so Christidis. | |
| Die Psychologin bemängelt, dass die Gerichte immer öfter ohne Anhörung oder | |
| sonstige Ermittlungsarbeit entschieden, im blinden Vertrauen auf die | |
| Darstellung der Jugendämter, die keineswegs bestritten, Kinder auf bloße | |
| Verdächtigung hin aus der Familie zu nehmen. Sie sagten aber, „die Richter | |
| hätten die Inobhutnahme beschlossen, und nicht sie“. | |
| ## „Motor des Kinderwegnahmesystems“ | |
| Der Hamburger Politologe Birger Antholz hat sich mit den Statistiken | |
| befasst und stellt fest, dass eigentlich viele Indikatoren für einen | |
| Rückgang der Inobhutnahmen sprechen müssten. So gab es weniger Geburten, | |
| einen Rückgang der Kinderkriminalität, einen Rückgang der Raufunfälle auf | |
| Schulhöfen, weniger Selbstmorde, weniger Schulabbrecher und weniger | |
| Arbeitslose. Im gleichen Maße wie die Inobhutnahmen sei nur die Zahl der | |
| Jugendamtsmitarbeiter gestiegen. „Das ist der Motor des | |
| Kinderwegnahmesystems“, schreibt Antholz. Ein Problem sei auch, dass im | |
| Jugendamt ältere Akademikerinnen über jüngere Frauen mit geringerer Bildung | |
| entscheiden und es keine Machtbalance gebe. | |
| Das Buch habe das Ziel gehabt, die These einer staatlichen | |
| Kindeswohlgefährdung breit und kontrovers zu diskutieren, schreiben die | |
| Herausgeber Wilhelm Körner und Georg Hörmann. Doch die Arbeit habe sich als | |
| schwierig erwiesen. Es gebe „Abhängigkeiten, Machtstrukturen und | |
| Alltagsroutinen im behördlich-industriellen Jugendhilfekomplex“, Autoren, | |
| die mit der Jugendhilfe verbandelt waren, hätten das Projekt boykottiert. | |
| Das Thema gilt als Karrierekiller. | |
| ## Jugendämter unter Druck | |
| Auf der anderen Seite sehen sich die Jugendämter Vorwürfen ausgesetzt, sie | |
| würden zu wenig eingreifen. „Deutschland misshandelt seine Kinder“ ist der | |
| Titel eines 2014 erschienenen Buchs der Rechtsmediziner Michael Tsokos und | |
| Saskia Guddat, in dem sie „das Versagen des deutschen Kinder- und | |
| Jugendschutzsystems“ anprangern. Wenn Kinder sterben, die den Ämtern | |
| bekannt waren, nimmt das die Öffentlichkeit nicht mehr hin. Es gibt seit | |
| dem Todesfall von Kevin 2006 in Bremen stets einen medialen Aufschrei und | |
| die Suche nach den Schuldigen. | |
| Doch normalerweise hätten Jugendämter es nicht mit skrupellosen | |
| Gewalttätern zu tun, sondern mit Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder sehr | |
| am Herzen liegt, halten Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz und | |
| Hans-Ulrich Krause in ihrer dieses Jahr erschienenen Streitschrift | |
| „Deutschland schützt seine Kinder“ dagegen. Unter Einfluss der öffentlich… | |
| Meinung verschiebe sich die Kinderschutzarbeit in Richtung Kontrolle und | |
| Eingriff. „Es geht den Fachkräften nicht mehr allein darum, Kinder zu | |
| schützen. Den Fachkräften ist bewusst geworden, dass auch sie selbst sich | |
| in ihrer Arbeit schützen müssen“, schreiben die Autoren. Denn niemand wolle | |
| für den Tod eines Kindes verantwortlich gemacht werden. | |
| ## Nicht automatisch die bessere Familie | |
| Rechtsmediziner und Strafgerichte plädierten für eine zügige Unterbringung | |
| in Pflegefamilien als per se bessere Lebensorte für die Kinder. Doch auch, | |
| wenn viele Pflegefamilien Großartiges leisteten, seien sie nicht | |
| automatisch die besseren Eltern, so die Autoren. Denn ebenso wie in | |
| biologischen Familien gebe es Gewalt und Misshandlung auch in Heimen und | |
| Pflegefamilien. | |
| Im Bericht der Tagesschau hieß es, das Familienministerium solle mit allen | |
| Mitteln dafür sorgen, dass Familien nicht erst soziale Brennpunkte werden, | |
| sondern „Keimzelle dieser Gesellschaft bleiben“. Aber wie soll das gehen? | |
| Der Siegener Forscher Klaus Wolf sagte in der Westfalenpost, die Wegnahme | |
| von Kindern könne öfter verhindert werden, wenn es mehr ambulante Hilfe für | |
| Familien in Notsituationen gebe. In Hamburg gibt es so ein Projekt beim | |
| Abenteuerspielplatz Wegenkamp im Stadtteil Stellingen. Eltern mit Kindern, | |
| die Probleme haben, oder auch Jugendliche und Kinder ab sechs Jahren ohne | |
| Eltern [4][können übergangsweise in zwei Gästewohnungen unterkommen] und | |
| werden pädagogisch begleitet. Wenn sie wollen, auch ohne Wissen des | |
| Jugendamtes, sofern die Sorgeberechtigten ihr Einverständnis geben. | |
| ## Gästewohnung ohne Fallzahl | |
| „Hilfe im Stadtteil“ lautet das Motto, erzählt der Sozialarbeiter Manuel | |
| Essberger, der seit 20 Jahren bei dem Projekt arbeitet. Wenn zum Beispiel | |
| eine Alleinerziehende ins Krankenhaus muss, sorgen er und seine Kolleginnen | |
| dafür, dass das Kind bei einer Gastfamilie einer Mitschülerin unterkommt. | |
| Das Projekt bekommt eine feste Zuwendung und wird nicht nach Fallzahl | |
| bezahlt. Essberger sagt, wenn man per Fall bezahlt werde, steuere das die | |
| Arbeit. Etwa, dass man kurze, heftige Fälle ablehne und lieber leichte | |
| länger behalte. Das sei nicht gut. | |
| Die Annonce des Heimträgers mit den zwei blonden Mädchen enthält übrigens | |
| noch einen kaum lesbaren Hinweis: „Name und Abbildung zum Schutz der realen | |
| Personen geändert“. Die Mädchen im weißen und rosa Shirt scheinen Models zu | |
| sein. | |
| 19 Aug 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Entzug-des-Sorgerechts-verdreifacht/!5444797&s=pflegefamilien/ | |
| [2] https://www.tagesschau.de/inland/pflegefamilien-kinder-101.html | |
| [3] /Miese-Fehlerkultur/!5609002/ | |
| [4] https://www.hamburg.de/contentblob/10023936/e42be69d6f501ac4d7076d6d3254725… | |
| ## AUTOREN | |
| Kaija Kutter | |
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