| # taz.de -- Anforderungen an Pflegeeltern: „Es müssen nicht Paare sein“ | |
| > Sozialpädagogin Ramona Meyer sucht in Hannover Kandidat*innen, die | |
| > Pflegekinder bei sich aufnehmen wollen. Der Fall Lügde habe der Sache | |
| > geschadet. | |
| Bild: Neues Zuhause: Waldemar lebt mit Pflegemutter Angelika Gattmann in Konsta… | |
| taz: Frau Meyer, wirkt sich der [1][„Fall Lügde“], bei dem es auf einem | |
| Campingplatz zu massenhafter sexueller Gewalt an Kindern unter anderem | |
| durch einen Pflegevater kam, auf das Image von Pflegefamilien aus? | |
| Ramona Meyer: Der „Fall Lügde“ hat der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber | |
| Menschen, die sich um Pflegekinder kümmern, massiv geschadet. Auch wenn | |
| Lügde ein dramatischer Einzelfall ist: Nach solchen Fällen sinken die | |
| Anfragen von Eltern, die Pflegekinder aufnehmen möchten, rapide. Und | |
| ohnehin bestehende Vorurteile gegen Pflegefamilien werden noch verstärkt. | |
| Sind die Vorurteile berechtigt? | |
| Ganz und gar nicht. Pflegeeltern müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen. | |
| In Hannover werden sie [2][vom Fachbereich Jugend und Familie überprüft und | |
| geschult]. Die meisten Bewerber*innen möchten sich dafür einsetzen, dass | |
| ein Kind ein schönes Zuhause bekommt. | |
| Trotzdem sinkt die Zahl potenzieller Pflegeeltern, während die Zahl zu | |
| vermittelnder Kinder steigt. Warum? | |
| Es gibt unterschiedliche Gründe. In seltenen Fällen müssen wir | |
| Bewerber*innen ablehnen, weil sie nicht geeignet sind. Ein weiteres Problem | |
| ist, dass [3][Wohnraum vor allem in den Innenstädten immer teurer] wird. | |
| Wer ein Pflegekind aufnimmt, muss aber ausreichend Platz haben: Die Wohnung | |
| muss groß genug sein, sodass das Pflegekind ein eigenes Zimmer bekommen | |
| kann. Außerdem sollten Pflegeeltern über ein eigenes Einkommen verfügen. | |
| Zwar können sie, wenn sie kleine Kinder aufnehmen, Elternzeit nehmen, | |
| bekommen aber kein Elterngeld. Außerdem hat sich das Geschlechterbild in | |
| den vergangenen Jahren sehr verändert. | |
| Was heißt das? | |
| Kam früher ein Pflegekind in eine Familie, blieb ein Elternteil, meistens | |
| die Frau, für mehrere Jahre zu Hause. Mitunter gab sie ihren Beruf komplett | |
| auf. Das wollen und machen viele Frauen heute nicht mehr. Und wenn wir | |
| sagen, wir sehen es gern, wenn ein Elternteil – gleich, ob Pflegevater oder | |
| Pflegemutter – am besten zwei Jahre, wenigstens aber ein Jahr zu Hause bei | |
| dem Kind bleibt, springen viele Bewerber*innenpaare wieder ab. | |
| Warum ist es so wichtig, dass sich ein Elternteil länger und intensiver zu | |
| Hause um das Kind kümmert? | |
| Die Kinder kommen meist aus [4][schwierigen sozialen und persönlichen | |
| Verhältnissen]. Oft haben die Mütter in der Schwangerschaft getrunken oder | |
| Drogen konsumiert, andere sind so stark mit sich selbst beschäftigt, dass | |
| sie sich nicht um das Kind kümmern können. Die Folge ist, dass die Kinder | |
| verwahrlosen, mitunter schwer traumatisiert sind und diverse Krankheiten | |
| haben. Fast alle haben starke Bindungsstörungen und Verlustängste. Diese | |
| Angst abzubauen, von den Pflegeeltern erneut verlassen zu werden, ist sehr | |
| schwer. Das erreicht man vor allem durch Kontinuität im Kontakt. Und die | |
| entsteht am besten, wenn die neuen Eltern, auch abwechselnd, jederzeit | |
| verfügbar sind. | |
| Müssen Eltern ihr bisheriges Leben über Bord werfen? | |
| Nein, auf keinen Fall. Wichtig ist eine hohe Toleranzschwelle, Geduld und | |
| Einfühlungsvermögen: Sie sollten die Bereitschaft haben, sich emotional auf | |
| den ihnen anvertrauten Menschen einzulassen. Fachkenntnisse können | |
| hilfreich sein, eine pädagogische Ausbildung ist nicht erforderlich. | |
| Was, wenn Kinder so geschädigt sind, dass all das nichts hilft? | |
| Mit Liebe und Fürsorge können Eltern viel erreichen. Es gibt aber Kinder, | |
| die in ihrem kurzen Leben bereits so viel Schreckliches erlebt haben, dass | |
| sie jetzt und später keine Beziehungen leben können. Sie kommen nicht zu | |
| Pflegefamilien, sondern in eigens dafür eingerichtete professionelle | |
| Erziehungsstellen oder Kinderdörfer. | |
| Wer kann Pflegemutter, Pflegevater werden? | |
| Jede und jeder, die und der emotional stabil ist und das Herz am rechten | |
| Fleck hat. Es müssen nicht in jedem Fall Paare sein, die Kinder aufnehmen, | |
| es können auch Alleinerziehende sein. | |
| Gibt es Altersgrenzen? | |
| Nein. Aber wir achten darauf, dass beispielsweise eine 55-jährige Person | |
| kein Kleinkind bekommt. Da ist der Altersunterschied einfach zu groß. Eine | |
| Pflegeelternschaft ist gewöhnlich auf eine längere Zeit angelegt und sollte | |
| so „natürlich“ wie möglich sein. | |
| Welche Frauen und Männer wollen Pflegeeltern werden? | |
| Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, ein Pflegekind aufzunehmen. Da alle | |
| Kinder und Jugendlichen ihre eigene Geschichte mitbringen, suchen wir auch | |
| ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Kinderlose Paare, | |
| Gleichgeschlechtliche, Patchwork-Familien und Alleinstehende sind unter den | |
| Interessent*innen. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen steht im | |
| Vordergrund. Dazu müssen die Erwachsenen passen. | |
| Was heißt das? | |
| Pflegekind und Pflegeeltern müssen zueinander einen Draht haben. Das merkt | |
| man bei den ersten Kontakten rasch. Wenn die Chemie nicht stimmt, sind es | |
| nicht die richtigen Eltern. Dann müssen wir weitersuchen. | |
| Kommt es vor, dass Eltern sich von einem Kind trennen? | |
| Manchmal können Kinder zu den leiblichen Eltern zurückkehren. Eine Option, | |
| auf die Pflegeeltern eingestellt sein sollten. Tragisch ist es für das Kind | |
| und die erwachsenen Beteiligten, wenn das Pflegeverhältnis ungeplant | |
| abgebrochen werden muss. Dafür kann es nachvollziehbare, schwerwiegende | |
| Gründe geben. Ich habe solche ungeplanten Trennungen in meiner 15-jährigen | |
| Berufspraxis allerdings nur sehr wenige Male erlebt. | |
| Was passiert dann mit den Kindern? | |
| Manche kommen in Erziehungsstellen oder in andere pädagogische | |
| Einrichtungen. | |
| [5][Kritiker*innen] sagen, Kinder werden zu schnell aus Herkunftsfamilien | |
| herausgenommen und zu Pflegeeltern gebracht. | |
| Bevor ein Kind von seinen leiblichen Eltern getrennt wird, versuchen | |
| Fachkräfte der Jugendämter alles, die Eltern in die Lage zu versetzen, ihre | |
| Kinder selbst zu versorgen. Erst wenn deutlich wird, dass keine Entwicklung | |
| möglich ist, werden andere Lösungen überlegt. Das braucht seine Zeit. Auf | |
| der anderen Seite besteht die Gefahr großer Entwicklungsdefizite bei | |
| Kindern, die zu lange unter schlechten Bedingungen bei ihren leiblichen | |
| Eltern leben. Es ist nicht immer leicht, hier den richtigen Zeitpunkt zu | |
| finden. | |
| 18 Aug 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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