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# taz.de -- Zu wenig Pflegefamilien in Berlin: Als Alternative bleibt nur Heim
> Wenn ein Kind in Obhut genommen wird, braucht es oft sofort eine
> Pflegefamilie. Die gibt es aber selten, sagt Sozialpädagogin Angelika
> Nitzsche.
Bild: Vor allem, wenn die Familie ins Wanken gerät: Kinder brauchen feste Bezu…
Obhut, das bedeutet fürsorglicher Schutz. Jugendämter nehmen in Obhut, wenn
Gefahr im Verzug ist – Gefahr für Seele und Körper eines Kindes oder
Jugendlichen. Mehr als 780 Mal war das im vergangenen Jahr der Fall. 500
Kinder bis 14 Jahre waren betroffen, knapp 130 von ihnen zwischen null und
drei Jahre alt. Aber was passiert mit einem kleinen Kind oder Baby, das –
zum Teil traumatisiert – von seinen Eltern getrennt werden muss? Was
bedeutet dann fürsorglicher Schutz?
Am besten, das Kind kommt sofort in eine Pflegefamilie, in der es exklusiv
betreut wird – das sagen ExpertInnen der Kinderhilfe und das leuchtet nicht
nur denen ein, die selbst Kinder aufziehen oder aufgezogen haben. Problem
nur: Von diesen Familien, die von jetzt auf gleich ein Kind für ein paar
Monate aufnehmen, gibt es viel zu wenige.
In der Landesberatungsstelle Berliner Pflegekinderhilfe schätzt man, dass
bei rund 600 Anfragen jährlich nur in der Hälfte der Fälle eine
Kurzzeitpflegefamilie vermittelt werden kann. Deshalb wirbt sie seit Montag
im U-Bahn-Fernsehen um Menschen, die sich vorstellen können, Kindern in
akuten Notsituationen Obhut zu geben. Angelika Nitzsche ist eine der
BeraterInnen und informiert seit 14 Jahren interessierte Familien.
taz: Frau Nitzsche, wie dringend ist Ihr Aufruf?
Angelika Nitzsche: Wir haben in Berlin einen akuten Mangel an
Kurzzeitpflegefamilien, der dazu führt, dass selbst ganz kleine Kinder
immer wieder in Heimen untergebracht werden müssen.
Wann werden Kurzzeitpflegefamilien gebraucht?
Es gibt in Berlin immer wieder Notsituationen in Familien, in denen Kinder
aus der Familie genommen werden müssen. Ein typischer Fall ist nach meiner
Erfahrung die alleinerziehende Mutter, die aufgrund einer psychischen
Erkrankung eine Zeit lang stationär betreut werden muss. Auch
Suchterkrankungen sind häufig Auslöser dafür, dass Kinder körperlich oder
emotional vernachlässigt werden. Ein großer Teil der Kinder ist sehr klein:
wenige Monate, Wochen oder sogar Tage alt. Da wird eine Vernachlässigung
schnell lebensbedrohlich.
Was sollte dann mit den Kindern passieren?
Die Kinder kommen aus einer akuten Notsituation und stehen unter enormem
Stress. Alle Erfahrungen zeigen, dass die sofortige Betreuung in einer
Pflegefamilie die Belastung mindern kann. Im Gegensatz zu Heimeinrichtungen
hat das Kind hier ein exklusives Bezugssystem: Es sind einfach immer
dieselben Personen, die sich kümmern.
Von denen gibt es aber offenbar viel zu wenig. Woran liegt das?
Wir reden hier von einer Kurzzeitpflege, befristet auf wenige Monate, bis
eine Perspektive für das Kind erarbeitet wurde – entweder gemeinsam mit der
Herkunftsfamilie oder, wenn das gar nicht geht, dauerhaft in einer
Pflegefamilie. Klar ist also: Das Kind wird die Familie wieder verlassen.
Aus unseren Informationsveranstaltungen wissen wir aber, dass die
allermeisten Interessenten eine dauerhafte Beziehung zu einem Kind eingehen
möchten. Häufig sind das Menschen, die keine eigenen Kinder bekommen
können. Nur ein Bruchteil der Familien kann sich Kurzzeitpflege vorstellen.
Vielleicht eine von 20.
Was sind das dann für Familien?
Für die Kurzzeitpflege entscheiden sich in der Regel Familien, die schon
viel Erfahrungen im Zusammenleben mit Kindern haben und diese Erfahrungen
weitergeben wollen. Es geht ihnen nicht darum, eine Familie zu gründen,
sondern darum, Kindern in Notsituationen zu helfen.
Welche Anforderungen gibt es speziell an Kurzzeitpflegefamilien?
Sie brauchen eine hohe zeitliche Flexibilität, weil die Kinder häufig
binnen weniger Stunden aufgenommen werden müssen und viele Termine mit
Eltern und Fachkräften anstehen. Vor allem brauchen sie eine hohe
Belastbarkeit und besondere Offenheit.
Inwiefern?
Auf eine Art sind diese Kinder wie eine Black Box: Man kennt zwar den Grund
der Inobhutnahme, aber man weiß nicht, wie sich das Kind in der Familie
verhalten wird und was es genau braucht. Auf diese Ungewissheiten muss man
sich immer wieder neu einlassen können.
Und dann muss man es aushalten können, ein Kind wieder gehen zu lassen. Wie
schaffen die Familien das?
Manchmal ist das schwer, weil die Pflegeeltern trotz der Befristung eine
emotionale Bindung aufgebaut haben. Aber die meisten bekommen das gut hin,
auch weil sie fachlich gut begleitet werden vom Pflegekinderdienst im
jeweiligen Bezirk. Viele besuchen auch Pflegeelterngruppen, um sich
untereinander auszutauschen.
Bei aller Belastung und Herausforderung: Welche positiven Erfahrungen
bekommen Sie aus den Pflegefamilien zurückgemeldet?
Von den allermeisten, die sich in diesem Bereich engagieren, wissen wir,
dass sie die Fürsorge für die Kinder und die Erarbeitung einer Perspektive
mit den Eltern als sehr, sehr erfüllend wahrnehmen. Deswegen bleiben viele
Familien, die einmal mit der Kurzzeitpflege angefangen haben, auch über
Jahre und mit Leidenschaft dabei.
8 Nov 2017
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Kinder
Inobhutnahme
Kinderschutz
Gewalt gegen Kinder
Jugendämter
Kinderheim
Heime
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