| # taz.de -- Pflegekinder mit Handicap: Inklusion als Bumerang | |
| > Hamburger Behörden unterscheiden nicht zwischen Pflegekindern mit und | |
| > ohne Behinderung. Das kann potenzielle Pflegeeltern abschrecken – und für | |
| > Kinder das Heim bedeuten. | |
| Bild: Besondere Bedürfnisse, besonderer Bedarf: Wer ein behindertes Kind zur P… | |
| Hamburg taz | Ein behindertes Pflegekind aufzunehmen bedeutet für Familien | |
| eine enorme Belastung. Und in Hamburg werden die Pflegeeltern mit ihren | |
| Problemen allein gelassen. „Hamburg ist das Augendrehbeispiel“, sagt | |
| Kerstin Held, die Vorsitzende des [1][Bundesverbands behinderter | |
| Pflegekinder]. | |
| „Dort sagt man: ‚Wir kennen keine Sonderpflege.‘“ Sonderpflege, das | |
| bedeutet Pflege für Kinder mit besonderem Bedarf und in vielen | |
| Bundesländern besondere Unterstützung für Familien, die diese Kinder als | |
| Pflegekinder aufnehmen. Hamburg verfolgt dagegen ein inklusives Modell. | |
| „Das klingt erst einmal gut“, sagt Alexandra Bossen, Geschäftsführerin des | |
| [2][Hamburger Pflege- und Patenkinder Fachdienstes für Familien (Pfiff)]. | |
| „Das Problem ist, dass eine Pflegefamilie, die ein Kind mit Behinderung | |
| aufnimmt, einen tatsächlichen Mehrbedarf hat.“ | |
| Bossen kennt die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln, denn Pfiff berät | |
| in zwei Hamburger Bezirken im Auftrag der Stadt Pflegeeltern. Im Hamburger | |
| Umland bietet der Fachdienst auch Beratungen zur Sonderpflege an. | |
| ## Anderswo gibt es mehr Hilfe | |
| In anderen Bundesländern bekommen Familien, die ein Pflegekind mit | |
| Behinderung aufnehmen, eine bessere finanzielle Ausstattung: beispielsweise | |
| Urlaubsgeld, einen Entlastungsbeitrag, um für ein paar Stunden Freizeit | |
| eine Hilfe ins Haus holen zu können. Auch Mehrbedarf, der etwa dadurch | |
| entsteht, wenn ein Kind Sondernahrung braucht, wird dadurch abgedeckt. | |
| Außerdem werden die Familien bereits vor der Aufnahme des Kindes geschult. | |
| Sie haben zudem eine Fachkraft an ihrer Seite, die sie etwa dabei | |
| unterstützt, Kostenerstattungsanträge zu stellen und sie bei allen Fragen, | |
| die die Behinderung des Kindes betreffen, unterstützt. Während eine | |
| Familie, die ein nicht behindertes Kind in Vollzeitpflege nimmt, etwa mit | |
| 40 Minuten Betreuung pro Woche rechnen kann, sind es in der Sonderpflege | |
| drei Stunden pro Woche. | |
| Es gebe auch in Hamburg gute Möglichkeiten für Pflegeeltern behinderter | |
| Kinder, sich Unterstützung zu holen, sagt Alexandra Bossen von Pfiff – | |
| „aber diese Familien brauchen Unterstützung, um dieses Netzwerk überhaupt | |
| in Anspruch nehmen zu können“. Von daher dränge sich der Eindruck auf, dass | |
| das Hamburger Inklusionsmodell nebenbei auch ein Sparprogramm ist. | |
| ## Zahl der Betroffenen unklar | |
| Wie viele Kinder in Hamburg davon betroffen sind, ist unklar. Da die | |
| Sozialbehörde aufgrund des Integrationsgedankens nicht zwischen | |
| Pflegekindern mit und ohne Behinderung unterscheidet, gibt es dazu keine | |
| Zahlen. Bei Pfiff sind etwa 35 bis 40 Prozent der Vollzeitpflegekinder | |
| behindert oder aufgrund traumatischer Erfahrungen von Behinderung bedroht. | |
| Die Zahlen sind aber nicht direkt übertragbar, da Pfiff nicht | |
| Pflegefamilien betreut, die Verwandtschaftspflege übernehmen, bei der der | |
| Anteil behinderter Kinder mutmaßlich geringer ist. Noch schwieriger wird | |
| die Situation, weil nicht alle Behinderungen direkt nach der Geburt | |
| sichtbar sind. So wird das fetale Alkoholsyndrom, das mit schweren | |
| geistigen und körperlichen Einschränkungen einhergehen kann, oft erst spät | |
| diagnostiziert – und ist bei der Vermittlung der Kinder so noch gar nicht | |
| bekannt. | |
| Die Sozialbehörde weist die Kritik zurück. Der Vorwurf, Hamburg verfolge | |
| mit dem inklusiven Ansatz de facto ein Sparmodell, sei „abwegig“, so | |
| Sprecher Marcel Schweitzer. Die Verwaltung dürfe nur solche Informationen | |
| erheben, die für die unmittelbare Ausübung des Verwaltungshandelns | |
| erforderlich sind. Das Jugendamt benötige kein Merkmal „Behinderung“, da | |
| „die Bandbreite an Unterstützungsleistungen für alle Familien identisch | |
| sind“. | |
| Die Hamburger Sozialbehörde war in den vergangenen Wochen in die Kritik | |
| geraten, weil sie, so ein Vorwurf [3][in der Welt], zu Unrecht Kinder mit | |
| Behinderung statt zu Pflegefamilien in Heime bringe. Grund sei die | |
| Verunsicherung der Hamburger Jugendämter, nachdem mehrere Kinder in der | |
| Stadt durch Misshandlungen oder Vernachlässigung zu Tode gekommen waren, | |
| eines davon in der Obhut von Pflegeeltern. | |
| ## „Willkürliche Entscheidungen“ | |
| Kerstin Held glaubt, dass es möglich wäre, deutlich mehr Hamburger | |
| Pflegekinder mit Behinderung in Familien statt in Heimen unterzubringen: | |
| „Wir liefern sieben Familien für ein Kind und dann geht es doch ins Heim – | |
| das geht uns nicht in den Kopf.“ Sie glaubt, dass das „willkürliche | |
| Entscheidungen“ sind, bei denen auch finanzielle Bedingungen und | |
| Arbeitsüberlastung eine Rolle spielten: wenn das Jugendamt ein Pflegekind | |
| in ein Heim vermittle, gebe es die finanzielle und personelle Zuständigkeit | |
| an die Landesebene ab. | |
| Alexandra Bossen von Pfiff teilt die Einschätzung, dass mehr Kinder mit | |
| Behinderung in Familien vermittelt werden könnten. Sie sieht die Ursachen | |
| aber an anderer Stelle: „Inklusion als politische Vorgabe steht sehr weit | |
| oben“, sagt sie. „Da muss eine Ausdifferenzierung der Unterstützung | |
| politisch gewollt sein – und im Moment scheint die Richtung nicht so zu | |
| sein.“ | |
| Die Folgen sind bitter. Laut Alexandra Bossen gibt es immer wieder Anfragen | |
| von Hamburger Jugendämtern, Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien | |
| unterzubringen, die daran scheitern, dass Hamburg nicht bereit ist, den | |
| Mehrbedarf zu finanzieren. Das Amt sucht dann entweder einen Heimplatz oder | |
| Pflegefamilien außerhalb Hamburgs, die möglicherweise zu schlechteren | |
| Konditionen arbeiten. | |
| ## Stadt schreckt Eltern ab | |
| Letzten Endes schreckt die Stadt damit potenzielle Pflegefamilien ab – und | |
| das, obwohl die private Unterbringung deutlich günstiger ist als die in | |
| einem Heim. Bossen kennt auch den anderen Fall: Familien, die ein | |
| behindertes Pflegekind bei sich aufnehmen, obwohl schon im Vorfeld klar | |
| wird, dass die Bedingungen schlechter sein werden als ursprünglich | |
| angenommen. | |
| Sie hofft darauf, dass Hamburg das ändert, „damit sich noch mehr Familien | |
| eine solche Pflege zutrauen“. Auch Kerstin Held vom Bundesverband | |
| behinderter Pflegekinder hofft weiter auf erfolgreiche Vermittlungen in | |
| Hamburg – und bleibt „an einer Verbesserung sehr interessiert“. Aus der | |
| Sozialbehörde heißt es, man arbeite an einer Regelung zur Vermittlung | |
| behinderter Pflegekinder. Einen Zeitrahmen gibt es allerdings nicht. | |
| 28 Dec 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://bbpflegekinder.de/ | |
| [2] http://www.pfiff-hamburg.de/ | |
| [3] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article170811549/Wenn-alle-Angst-hab… | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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