# taz.de -- Großeltern gegen Jugendamt: Die Familie muss weg | |
> Nirgends werden so viele Kinder in Heimen und Pflegefamilien | |
> untergebracht wie in Bremen. Familie Orlowski demonstriert gegen die | |
> Inobhutnahme ihres Enkels vor dem Jugendamt. | |
Bild: Will seinen Sohn Christian vom Jugendamt zurück: Florian Orlowski. | |
BREMEN taz | Am Sonntag sind die Orlowskis noch mal auf’m Deich spazieren | |
gegangen, schön durchpusten lassen, ist ja vom Haus in Cuxhaven nur einen | |
Steinwurf rüber. Montags haben die Ruheständler dafür keinen Kopf. Montags | |
haben sie zu tun, „das ist ein Arbeitseinsatz“, sagt Sabine Orlowski. | |
„Ein Arbeitseinsatz für unseren Enkel.“ Christian heißt der, bald zehn | |
Monate ist er jung. Anfangs hat er hier gewohnt. Wie er aussieht, jetzt, | |
das wissen sie schon gar nicht mehr. | |
Der Arbeitseinsatz beginnt schon früh am Morgen: In der Wohnküche schaut | |
Sabine Orlowski mit ihrem Mann Rüdiger noch mal die Rede durch, auf der | |
Sitzecke unter den zwei großen Rahmen mit Kinderfotos. Dann checken sie die | |
E-Mails. Sie telefonieren, um die Mitstreiter bei der Stange zu halten. | |
Sie packen das Megafon in den Kofferraum, die Transparente, die Plakate | |
auch und die Flugblätter, und dann auf, auf!, jetzt müssen sie sich schon | |
sputen. Sie wollen ja pünktlich sein, in Bremen, zum Demonstrieren. | |
Jeden Montag geht das jetzt so, seit einem Monat, und jedes Mal führt die | |
Strecke vom Sitz der Sozialsenatorin zum Rathaus, wo dann um 17.30 Uhr | |
Schluss ist. Mit dem Wetter hatten sie bisher immer Glück. Auf jeden Fall | |
starten sie immer vorm Jugendamt, am zugigen Rembertiring. | |
Da stehn sie dann im Straßenmief, zusammen mit einer Handvoll | |
Leidensgenossen, mit Nachbarn, Freunden und alten Kollegen, dicht an die | |
Hauswand quetschen sie sich, damit bloß ja die Radler vorbeirauschen | |
können, die mit wütendem Pling! freie Fahrt einfordern. Sie stehen dort, | |
bilden ein Spalier, damit der Eingang frei bleibt. | |
Neulich hatte jemand ’ne Trommel dabei. Und sie werden auch heute wieder da | |
sein, „selbstverständlich!“, versichert Rüdiger Orlowski. „Da müssten … | |
mich schon wegholen für.“ | |
Das ist nur halb ein Witz. Denn: Beim Jugendamt sind sie genervt von den | |
Orlowskis, das weiß er, und haben sich beim Stadtamt beschwert, man könne | |
ja nicht mehr arbeiten, der Amtsfriede sei gestört, wenn die da am | |
Montagnachmittag vor der Tür ihre Schilder hochhalten, die pensionierte | |
Bio- und Mathe-Lehrerin Flyer verteilt und der pensionierte Sport- und | |
Deutsch-Lehrer durchs Megafon seine Empörung kundtut, seine Empörung und | |
seinen Zorn, und dabei manchmal sogar den Verkehrslärm übertönt. | |
Die Orlowskis sollen das lassen, findet man beim Jugendamt. Die sollen da | |
weg. Die Familie stört. Aber die Orlowskis sind schon am richtigen Ort. | |
Denn sie demonstrieren ja gegen das Jugendamt. Das hat ihnen den Enkel | |
geklaut, sagen die Orlowskis. Ihnen, und vor allem ihrem Sohn Florian das | |
Kind, den Sohn Christian. | |
Geklaut, naja – also weggenommen auf jeden Fall. Das kann auch das Amt | |
nicht bestreiten. Tatsächlich steigt die Zahl der Inobhutnahmen in ganz | |
Deutschland. Und in Bremen, wo der Spardruck einst den Tod des Kindes Kevin | |
mitverursacht hatte, ist das Pendel längst auf der Gegenseite angekommen. | |
Schon kurz nach Amtsantritt hatte Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) die | |
Landesregierung dafür gefeiert, dass sie „80 Prozent mehr für | |
Inobhutnahmen“ ausgebe. Im vergangenen April war ihr wichtig klarzustellen, | |
dass keine andere Stadt so viele Kinder in Heimen und Pflegefamilien | |
unterbringt. Auch wenn sie noch darauf hinweist, dass die Inobhutnahme | |
immer das letzte Mittel sein muss – im Jugendamt liest man die Zahl längst, | |
wie eine Produktivitätsziffer. | |
Sehr schön belegt das ein Posting ausgerechnet des Bürgerbeauftragten des | |
Amtes für Soziale Dienste: An den soll man sich wenden, wenn man Probleme | |
hat, mit den Maßnahmen der Behörde. Auf Facebook hat er eine Nachricht über | |
die rasante Steigerung der jugendamtlichen Gefährdungseinschätzungen | |
eingestellt. Und er hat sie kommentiert. „Wow, sind wir fleißig!“, schreibt | |
er. Sehr kurz, sehr knackig. | |
Und sehr prägnant. | |
„Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen“, so hat das | |
Bundesverfassungsgericht erst kürzlich noch einmal klargestellt, „muss das | |
elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei | |
einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder | |
seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist.“ | |
Da muss bereits ein Schaden eingetreten sein, „oder eine Gefahr in einem | |
solchen Maße bestehen, dass sich eine erhebliche Schädigung mit Sicherheit | |
voraussehen lässt“. | |
Nichts davon lässt sich auch nur ansatzweise im Fall Orlowski beobachten. | |
„Es gibt hier keinerlei konkrete Vorwürfe, die den Eingriff begründen | |
könnten“, bestätigt Orlowskis Fachbeistand, Klaus-Uwe Kirchhoff, ein | |
freiberuflicher Sozialarbeiter, der in ganz Deutschland Betroffene von | |
Kindswegnahmen unterstützt. | |
„Das ist schon ein Skandal.“ Zumal, weil sich beobachten lässt, wie das Amt | |
versucht, Gründe nachträglich zu konstruieren: Es interpretiert das | |
Verhalten – nicht konstruktiv, latent aggressiv, unkooperativ und sogar | |
„kompetenzanzweifelnd“. Es belehrt den empörten Vater, dass „die Sicheru… | |
des Kindeswohls nicht seine Aufgabe“ sei. Und: Es bezichtigt. Da wird | |
einfach mal so vermutet, der Kindsvater habe seinen Sohn entführen wollen, | |
„immerhin eine schwere Straftat“, sagt Anwalt Thomas Saschenbrecker. | |
„Einfach angedichtet.“ Konkrete Verdachtsmomente, auch nur Hinweise – | |
Fehlanzeige. Hätte das Amt sie, müsste es ja die Staatsanwaltschaft | |
einschalten. Aber einfach in die Akte schreiben, das kostet ja nix. | |
Und von dort wandert der Inhalt, er verwandelt sich fast ganz ungebrochen | |
durch Zeugenaussagen und unbehelligt von Beweismitteln in die Form | |
richterlicher Beschlüsse: Auch um diesen Mangel der Verfahren zu heilen, | |
dass hier Behörde und Rechtsprechung so eng und kontinuierlich miteinander | |
zusammenwirken wie nirgends sonst, hat man im Familienrecht die Möglichkeit | |
geschaffen, vom Amtsgericht zum Bundesverfassungsgericht zu springen. „Wir | |
werden wohl direkt nach Karlsruhe ziehen müssen“, kündigt Anwalt | |
Saschenbrecker an. | |
Was bleibt ihm auch übrig. Im Amt, da schreiben sie die Orlowskis einfach | |
weiter mies, die Großeltern und den jungen Papa. Dass der „an einer | |
öffentlichen Kundgebung seiner Situation interessiert“ sei, findet die | |
Sachbearbeiterin total unangebracht. „Für mich“, schreibt sie gallig ans | |
Amtsgericht, „kommt daher eine Rückführung in den väterlichen Haushalt und | |
auch in den der Großeltern (die die Kundgebung offiziell angemeldet haben: | |
Sabine Orlowski – Großmutter des Kindes) […] nicht in Frage.“ Wer | |
demonstriert, soll kein Kind haben. Das Argument scheint auch der | |
Familienrichterin schlüssig. | |
Aggressiv? Massiv? Also, wenn das eine Rolle spielen würde: Dieser junge | |
Mann mit der hohen Stirn und den rötlichen Haaren wirkt im Gespräch | |
manchmal fast lethargisch, eher zu sanft. | |
Wenn Florian Orlowski nach Hause kommt, von der Arbeit, abends, in die | |
kleine Wohnung in der Bremer Neustadt, dann herrscht da Stille. Da schreit | |
kein Baby. Da wartet nur die Post, stapelweise. Briefe vom Anwalt, Briefe | |
vom Fachbeistand, das sind noch die guten, dann vom Familiengericht und der | |
ganze Behördenkram, „es ist schon gut zu tun“, sagt er. | |
Und wenn die Post erledigt ist, dann sitzt man da und macht sich so seine | |
Gedanken und sucht nach Gründen, nach Motiven. Und natürlich denkt man dann | |
irgendwann daran, dass das Ganze ja auch eine materielle Seite hat: In | |
Bremen sind die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung von 70,5 Millionen Euro | |
im Jahr 2006 auf rund 161,8 Millionen im Jahr 2013 gestiegen, doch, man | |
kann sagen: Das ist ein wirtschaftlich relevanter Sektor. | |
Auf dem ist im Auftrag der Sozialsenatorin die Pflegekinder in Bremen GmbH | |
als Monopolist tätig. Sie verwaltet die Auswahl und Vermittlung der | |
Pflegeeltern und der aktuell 2.679 Kindern und Jugendlichen im System. Die | |
Verwaltungsarbeit kostet richtig Geld: Pro Fall werden etwas über 60.000 | |
Euro jährlich aufgewendet. Eine Pflegefamilie bekommt maximal 15.840 Euro | |
jährlich – also Anerkennung plus Versorgungspauschale. Macht eine Differenz | |
von 44.000 Euro pro Fall. | |
Über 44.000 Euro mal 2.679 Fälle lässt sich schon eine ganze Weile grübeln. | |
Und manchmal macht man sich auch Vorwürfe. Denn natürlich, er war’s ja | |
selbst, der sich mit seiner Freundin, der Mutter des Kindes, ans Amt | |
gewandt hatte: Derselbe Florian Orlowski, dem nun per Gerichtsbeschluss | |
aufgrund allein der Aussage der Sachbearbeiterin unterstellt wird, er lehne | |
Hilfeangebote des Jugendamtes ab, der ist mit ihr zur Beratungsstelle West | |
gegangen. Die hat das hilfesuchende Paar einfach nur weggeschickt. | |
Gesichert ist, dass es dem Kind gut ging, draußen in Cuxhaven, im Haus der | |
Großeltern, die ersten acht Wochen seines Lebens, als sich Florian Orlowski | |
um ihn kümmerte. Das haben ihm sogar die Bremer Amtspersonen bestätigt, als | |
sie per Taxi rausgefahren kamen, um unter Polizeischutz, zwei | |
Streifenwagen, Beamte in voller Montur, den Säugling rauszuholen, ihn ins | |
Heim zu stecken, von wo aus er schließlich in eine Pflegefamilie gekommen | |
ist. | |
Wohlauf sei das Baby gewesen, Datum, Ort und zwei Unterschriften. Und dass | |
der junge Mann ein begeisterter Papa sein kann, das sagen alle, die ihm | |
dabei zugesehen haben: wie er mit dem Kleinen zugange war, ihn wickelte, | |
ihn badete, Spaziergänge machte, das Fläschchen, und in der Nacht, wenn die | |
Blähungen einsetzen, da muss ja auch jemand wach sein, das Baby aus dem | |
Stubenwagen heben, es rumtragen und ihm zureden: Wird ja alles gut, Krissi, | |
wird schon wieder gut. | |
Wird nicht gut. Nicht mehr. Und noch nicht: Mit der Liebe ist es aus, die | |
Beziehung zwischen Kindsmutter und -vater hat den Beistand durchs Amt nicht | |
verkraftet. Während sie begleiteten Umgang hat, bekommt er seinen Sohn seit | |
Monaten nicht zu sehen, „wir kriegen noch nicht mal Fotos von Krissi“, sagt | |
Florian Orlowski. Aber die Geschichte hat noch keine Ende. | |
Rüdiger und Sabine Orlowski packen auch an diesem Montag wieder ihre | |
Demo-Sachen ein. Solange man sie nicht wegsperrt, werden sie weiter vors | |
Jugendamt ziehen. Er wird wieder eine Rede halten. Sie wird wieder Flyer | |
verteilen. Es wird wieder keiner rauskommen, auch aus der senatorischen | |
Behörde wird sich niemand blicken lassen und aus dem Rathaus nicht. Wenn’s | |
schön ist, ergeben sich vielleicht noch Gespräche, am Markt. Und am Abend | |
packen sie ihre Sachen ins Auto und fahren nach Hause, und so ist es jetzt. | |
23 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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