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# taz.de -- Familienrechtsexperte über Kindeswohl: „Hier wird getrickst“
> Um Umgangsrechte durchzusetzen, lassen Gerichte von der Polizei Türen
> einrammen. Der Familienrechtsexperte Ludwig Salgo fordert ein Ende dieser
> Praktiken.
Bild: Wenn Kinder Umgang mit einem Elternteil verweigern, ist Druck das falsche…
taz: Die [1][Studie „Familienrecht in Deutschland“] von Wolfgang Hammer
warnt: Gerichte gefährden Kinder, indem sie sie grundlos von ihren Müttern
trennen. Teilen Sie die Sorge?
Ludwig Salgo: Das ist ein harter Vorwurf. Es gibt indes viele Stimmen von
Müttern und Kindern, aber auch von Experten, die zeigen, dass er nicht
unberechtigt erscheint. Manche Familiengerichte und Jugendämter stellen den
[2][Schutz des Kindeswohls hintenan, um Umgang um fast jeden Preis
durchsetzen]. Zur Einschätzung der Größenordnung der Problemlage brauchen
wir zusätzlich hochqualifizierte, interdisziplinäre Forschung.
Was bedeutet Umgang durchsetzen?
Bei der Frage des Umgangs des Kindes mit dem nicht mit ihm zusammenlebenden
Elternteil – das ist zumeist der Vater – wird auch häusliche Gewalt immer
wieder ignoriert. Und klappt dann so ein Umgang nicht, kommt es zu
gerichtlichen Anordnungen, und Mütter verlieren ihr Sorgerecht. Es kommt
nicht nur ausnahmsweise zum Einsatz von staatlicher Gewalt.
Gerichtsvollzieher kommen mit der Polizei und schlagen schon mal Türen mit
Rammen ein. Zur Durchsetzung des Umgangs ist der Einsatz von Gewalt
gesetzlich verboten. Aber hier wird getrickst und unterstellt, dass das
Kindeswohl erheblich gefährdet sei, wenn ein Kind Umgang ablehnt. Nur:
Welche Spuren hinterlässt ein solcher Einsatz der staatlichen Zwangsmittel
beim Kind, frage ich mich. Wird es sich bei Bedarf vertrauensvoll an die
zum Schutz des Kindes verpflichteten Organe wenden?
Ist das Kindeswohl ohne diesen Umgang gefährdet?
Nein. Die wissenschaftliche Erkenntnislage sagt, dass diese Kinder deshalb
nicht gefährdet sind. Es kommt primär auf völlig andere Bedingungen für
diese bereits oft hochbelasteten Kinder an. Diese nicht zu rechtfertigende
staatliche Intervention trifft immer wieder Kinder, die gut in der Schule
integriert sind, die Freunde haben, im Schulorchester spielen, wo auch die
Großeltern präsent sind. [3][Kinder, die eine gute Bindung zu den Müttern
haben] und keinerlei Auffälligkeit zeigen. Nur dieser Umstand einer
„Umgangsverweigerung“ führt dann dazu, dass sogar Jugendämter manche dies…
Kinder in Obhut nehmen. Statt sie zu schützen und sich mit ihrem Widerstand
zu befassen, wird Umgang durchgesetzt.
Und so kommt es zur Trennung von Mutter und Kind?
Es ist meistens diese Konstellation. Dabei liegt die Voraussetzung der
„dringenden Gefahr“ für das Wohl des Kindes, die bei einer Inobhutnahme zu
beachten ist, nicht vor. Oder gar die andere Voraussetzung, dass ein Kind
um Inobhutnahme bittet.
Was sagen Sie zum Argument: Fehlt Vaterkontakt, schadet das im späteren
Leben?
Das ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Es gibt aber auch diese
nachgewiesene Erfahrung mit verweigernden Kindern: Gucken wir nach ein,
zwei Jahren, sieht die Situation oft anders aus. Kinder suchen und finden
dann oft den Kontakt. Man muss den Kindern Zeit lassen; sie unter Druck mit
Zwangskontexten zu setzen, hat kontraproduktive Effekte. Wir wissen aus der
Forschung, dass Kinder, die zu Umgang gezwungen wurden, ein schlechtes
Verhältnis diesem Elternteil haben. Hier kann man Langzeitschäden
anrichten. Umgangsverweigerung ist deshalb kein Grund, Gewalt gegen Kinder
anzuwenden und ihnen die vertraute Umgebung zu nehmen. Übrigens scheitert
oft der Wechsel zum Vater. Viele Kinder kommen dann in Einrichtungen – als
eine Art „Bestrafung“ auch der Mütter.
[4][Diese Studie von Wolfgang Hammer] beleuchtet die Zeit seit 1998. Gab es
Fehler bei den Kindschaftsreformen?
Die Reformgesetze sind grundsätzlich nicht schlecht, bis auf eine
Überbetonung des Umgangsrechts. Das Gesetz sagt, dass Umgang in der Regel
dem Wohl des Kindes dient. Das stimmt. Der „Regelfall“ meint aber nicht die
Hochstrittigkeit oder das oft über lange Zeiträume fortwährende Miterleben
von häuslicher Gewalt. Inzwischen hat sich eine ganze Industrie darauf
kapriziert, Umgang um jeden Preis durchzusetzen. Nur gibt es keine
wissenschaftliche Rechtfertigung hierfür.
Was heißt hier Industrie?
Es gibt: Umgangspfleger, Umgangsbegleiter, mitwirkungsbereite Dritte. Und
es gibt tatsächlich stationäre Einrichtungen, die im Programm haben, die
Weigerungshaltungen von Kindern zu brechen. Wir haben eine sehr hohe Anzahl
von Begutachtungen der Kinder. Und natürlich sind mehr Anwälte in diesem
Feld beschäftigt. Wir haben die Anhörung der Kinder und die bekommen ihren
Verfahrensbeistand. Nur muss man fragen, ob dies alles richtig ist, wenn
wir uns derart intensiv mit den nicht gefährdeten Kindern beschäftigen. Das
alles kann bei gefährdeten Kindern durchaus gerechtfertigt sein. Aber
Kinder, die den Umgang verweigern, können gute Gründe hierfür haben. Sie
brauchen Zeit, Akzeptanz, Ruhe, Entspannung, Erhaltung ihres vertrauten
Umfelds und Zugänge zu eigener für sie vertrauenswürdiger fachlich guter
Beratung, die nicht das Ziel hat, das Kind umzupolen. Was sie nicht
brauchen, sind Gerichtsvollzieher und Polizei.
Laut Studie folgen Gerichte einer Doktrin. Stimmt das?
Wir haben in Deutschland viel zu wenig Scheidungsforschung. Wir wissen gar
nicht, was los ist. Für Forscher ist es schwierig, überhaupt Zugang zu
familiengerichtlichen Akten zu bekommen. Das ist im Strafrecht viel besser.
Es gibt ganz wenige Studien zur Praxis. Die Studie ist für mich ein
berechtigter Aufschrei. Nun brauchen wir repräsentative Langzeitforschung.
Wie können wir die Fehlentwicklungen korrigieren?
Es geht um Ressourcen. In der Juristenausbildung kommt das Thema
Kindschaftsrecht nicht vor. Und war man dann ein Jahr Richter, kann man
Familienrichter werden. Es gibt hier bereits eine gute Entwicklung. Seit
Anfang dieses Jahres muss ein Familienrichter – übrigens auch ein
Verfahrensbeistand – nachweisen, dass er bestimmte Kenntnisse schon hat
oder alsbald erwirbt. Alle Präsidien der Gerichte müssen jetzt
sicherstellen, dass sie nur noch Familienrichter einsetzen, die Kenntnisse
zum Kindschaftsrecht, zum Jugendhilferecht, zum Verfahren beim
Familiengericht, über Entwicklungspsychologie und Kommunikation mit Kindern
haben. Das ist gut. Nur müssen wir jetzt sehen, ob die Bundesländer das
auch umsetzen können. Und auch die Zeitbemessung bedarf einer Überprüfung.
Ein Richter hat im Schnitt 237 Minuten pro Fall. Das reicht nicht, um den
Herausforderungen dieser Fälle gerecht zu werden.
8 Apr 2022
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## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Kinder
Familienrecht
Familienpolitik
Kindeswohl
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häusliche Gewalt
Familie
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Sorgerecht
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