# taz.de -- Recht auf Bildung in Niedersachsen: Mädchen kann nicht zur Schule | |
> Eine Mutter kann ihre Tochter nicht für die 5. Klasse anmelden, weil das | |
> Sorgerecht fehlt. Das Landesschulamt sieht rechtlich keine Möglichkeit. | |
Bild: Wie andere Kinder auch mit Freunden zur Schule gehen: Emma (Name geänder… | |
HAMBURG taz | In Hannover kann eine Zehnjährige nicht die 5. Klasse | |
besuchen, weil ihrer Mutter das für die Anmeldung nötige Sorgerecht fehlt. | |
Stattdessen wird das Mädchen zu Hause von der Mutter unterrichtet. | |
Dem Fall geht ein mehrjähriges Drama voraus. Die Eltern hatten sich 2018 | |
getrennt und zunächst eine Zeit lang versucht, Emma (Name geändert) und | |
ihre jüngere Schwester im Wechselmodell zu betreuen. Als dies scheiterte | |
und die Kinder sich weigerten, den wöchentlichen Wechsel mitzumachen, | |
erwirkte der Vater vor Gericht einen Herausgabebeschluss und erhielt das | |
alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht. Mit der Folge, dass die damals | |
achtjährige Emma im Januar 2020 auf dem Gelände ihrer Grundschule mit | |
[1][Polizeigewalt von ihrer Mutter Anette W. getrennt] wurde. | |
Das Amtsgericht Hannover und das Oberlandesgericht Celle beschäftigten sich | |
in mehreren Verfahren mit dem Fall und kamen stets zu dem Schluss, dass die | |
Mutter die Verantwortung für die Ereignisse trug. | |
Das Sorgerecht wurde dem Vater zugesprochen, bei dem die Mädchen auch leben | |
sollten. Nur lief Emma von ihrem dortigen Zuhause weg. Seit Juni 2021, also | |
seit über einem Jahr, lebt sie auf eigenen Wunsch im Haushalt der Mutter. | |
Weil sie Angst hatte, abermals von der Polizei aus der Grundschule geholt | |
zu werden, behielt ihre Mutter sie zu Hause und unterrichtete sie im | |
Homeschooling. Ein Kinderpsychiater schrieb sie krank. | |
## Oberlandesgericht muss noch entscheiden | |
Das Mädchen liest viel, kann rechnen und schreiben, das bestätigt auch ein | |
lerntherapeutisches Gutachten. Im Mai dieses Jahres versuchte W., ihre | |
Tochter für die 5. Klasse einer Gesamtschule anzumelden, die auch viele | |
ihrer Grundschul-Freundinnen ab Sommer besuchten wollten. Doch die Schule | |
lehnte die Anmeldung ab, weil die Mutter kein Sorgerecht hat. Auch ihr | |
Antrag bei Gericht, die Schulanmeldung zu erlauben, wurde abgelehnt. | |
Die Sache beunruhigt auch das Jugendamt und die Verfahrensbeiständin, also | |
die Anwältin des Kindes vor Gericht. Beide sahen offenbar in dem fehlenden | |
Schulbesuch eine Gefährdung. Bei einem Termin Ende Juni beim Amtsgericht | |
Hannover wurde die Lage erörtert. Die Mutter beantragte dort, ihr die | |
elterliche Sorge für schulische und gesundheitliche Belange zu übertragen. | |
Außerdem möge das Gericht eine Regelung treffen, die es dem Kind | |
ermöglicht, an einem Test in der Behörde teilzunehmen, bei dem sie ihre | |
Schulfähigkeit für die 5. Klasse nachweisen kann. Auch die | |
Verfahrensbeiständin drängte offenbar darauf, dass Emma in die 5. Klasse | |
gehen kann. Sie halte sie dafür für geeignet und es sei auch deren Wunsch. | |
Der Vater indes soll dagegengehalten haben, die Grundschule habe ihm | |
gesagt, dass seine Tochter die vierte Klasse wiederholen müsse und deshalb | |
eine Anmeldung an einer weiterführenden Schule nicht infrage komme. Er und | |
sein Anwalt reagierten nicht auf Anfragen. | |
Das Gericht folgte dem Antrag des Vaters und lehnte die Anträge der Mutter | |
ab. Diese sei weiter nur stark eingeschränkt erziehungsfähig. Gegen diesen | |
Beschluss legte die Anwältin des Kindes Anfang September Beschwerde ein. | |
Müsse man doch das Mädchen dringend in einer 5. Klasse bei ihren | |
Freundinnen unterbringen, um sie zu stabilisieren. Die Mutter sollte das | |
Sorgerecht erhalten und das Jugendamt eine „Ergänzungspflegschaft“ | |
erhalten. | |
Nun sind bald Herbstferien in Niedersachsen und Emma hat noch immer keinen | |
neuen Schulplatz. Das Oberlandesgericht Celle teilt auf Nachfrage mit, dass | |
die Beschwerden dort eingegangen seien, die Sache aber noch nicht | |
entschieden sei. | |
Die bisherige Rechtsprechung des dort zuständigen Senats lässt wenig | |
hoffen. In den Beschlüssen, die teils anonymisiert auf der Website juris.de | |
zu lesen sind, wird stets der Mutter die Schuld für alle Zuspitzungen | |
gegeben. Ihr Anwalt Stefan Nowak spricht gar von „Schwarz-Weiß-Denken, mit | |
dem der Kindeswille gebrochen werden soll“. Statt zu sehen, dass die | |
Zehnjährige aus guten Gründen und eigenem Willen zur Mutter ging, würde der | |
Mutter sogar unterstellt, das sie ihr Kind entführt habe. Dabei sei Emma in | |
einem Alter, in dem ihr Wille vor Gericht berücksichtigt werden muss. „Dazu | |
gibt es höchstrichterliche Rechtssprechung“, so Nowak. | |
## Keine Ausnahme wie für Kinder ohne Papiere | |
Es könnte sein, dass dieses Schulproblem kein Einzelfall ist. Denn laut | |
Statistik des Landeskriminalamtes (LKA) waren zum Stichtag 10. Oktober 2022 | |
in Niedersachsen 103 Kinder mit dem Motiv „Kindesentziehung“ in der | |
Vermisstendatei erfasst. Es handele sich dabei sowohl um Entziehungen zum | |
Nachteil eines sorgeberechtigten Elternteils als auch um Fälle, bei denen | |
Eltern ihre Kinder vor dem Sorgerechtsentzug des Jugendamtes an einen nicht | |
bekannten Ort bringen. Sofern diese Kinder zur Schule gingen, so das LKA, | |
handele es sich nicht mehr um einen Vermisstenfall nach | |
Polizeidienstvorschrift. In die Statistik kämen nur jene, deren Aufenthalt | |
unbekannt ist. | |
In einer ähnlichen Konstellation, bei [2][Kindern von Eltern ohne legalen | |
Aufenthalt], ist seit einigen Jahren die Rechtslage so geändert worden, | |
dass die [3][Kinder auf jeden Fall zur Schule gehen können]. In allen 16 | |
Bundesländern sind die Schulen verpflichtet, Schüler auch ohne | |
Meldebestätigung aufzunehmen. Motto: Es darf nicht an Papieren scheitern. | |
Doch nach Auskunft der Stadt Hannover ist dieser Ansatz nicht auf den Fall | |
Emma übertragbar. Eltern könnten ihre Kinder ohne Papiere anmelden, sofern | |
sie denn sorgeberechtigt sind, sagt eine Sprecherin. Die Anmeldung an eine | |
weiterführende Schule sei eine „Angelegenheit von wesentlicher Bedeutung“, | |
erläutert auch Bianca Trogisch, Sprecherin des Regionalen Landesamtes für | |
Schule und Bildung (RLSB) in Lüneburg. Dies dürften nur die | |
Sorgeberechtigten tun. „Die Schulen haben da keinen | |
Entscheidungsspielraum.“ Das ergebe sich aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch | |
und dem niedersächsischen Schulgesetz. Die Mutter könnte allenfalls bei | |
Gericht eine Änderung des Sorgerechts oder eine Einzelfallentscheidung für | |
den Schulbesuch beantragen. | |
Der Soziologe Wolfgang Hammer, der kürzlich mit der Studie „Familienrecht | |
in Deutschland“ eine [4][kritische Debatte um die Praxis der | |
Familiengerichte] anstieß, sieht indes in der Schulfrage für Kinder, die | |
bei nicht-sorgeberechtigten Eltern leben, ein „strukturelles Problem, das | |
bisher kaum wahrgenommen wird“. Es müsse, sagt er, eine landesrechtliche | |
Lösung geben, „um den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen“. | |
14 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.haz.de/lokales/hannover/sorgerechtsstreit-polizei-nimmt-mutter-… | |
[2] /Gesetz-ermoeglicht-Bildung-fuer-Papierlose/!5379626 | |
[3] https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=90809&token=873… | |
[4] /Studie-ueber-Trennungspolitik/!5843117 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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