| # taz.de -- Fehlerkultur in der SPD: Die Identität wankt | |
| > Sigmar Gabriel gibt zu, die russische Gefahr unterschätzt zu haben. Für | |
| > die SPD wird es dennoch nicht einfach, Vertrauen und Ansehen | |
| > zurückzugewinnen. | |
| Bild: Liebevolle Blicke: Sigmar Gabriel und Wladimir Putin bei einem Gespräch … | |
| Das Osterwunder des Jahres 2022 lieferte Sigmar Gabriel: Der Ex-SPD-Chef, | |
| bisher vor allem fürs Austeilen bekannt, übte Selbstkritik. Die russische | |
| Gefahr unterschätzt zu haben, sei „eine berechtigte Kritik, die sich die | |
| allermeisten von uns in der Politik gefallen lassen müssen“, schrieb er | |
| [1][in einem Gastbeitrag für den Spiegel]. „Es war ein Fehler, bei den | |
| Einwänden gegenüber Nord Stream 2 nicht auf die Osteuropäer zu hören. Das | |
| war auch mein Fehler“, sagte er wenige Tage später der Welt. | |
| Nun gut, nicht jeden konnte Gabriel damit überzeugen – was vor allem daran | |
| lag, dass er seine Selbstkritik direkt mit Gegenangriffen garnierte und dem | |
| ukrainischen Botschafter die Verbreitung von Verschwörungstheorien vorwarf. | |
| Zu hoch darf man den Anspruch an die Vergangenheitsbewältigung in der SPD | |
| aber auch nicht legen: Es ist erst acht Wochen her, dass sich mit dem | |
| [2][russischen Überfall auf die Ukraine] jahrelange Grundsätze | |
| sozialdemokratischer Außenpolitik als Irrtum erwiesen. Mit Verweis auf | |
| Willy Brandt und dessen Ostpolitik hatte die Partei diese Grundsätze stets | |
| historisch überhöht. Bei der Aufarbeitung eigener Fehler im Umgang mit | |
| Russland gerät also ein Kern sozialdemokratischer Identität ins Wanken. | |
| Kein Wunder, dass sich die SPD nur langsam rantastet. | |
| Zumal manch überzogener Angriff von außen die Bereitschaft zur | |
| schonungslosen Selbstkritik sicherlich nicht fördert. Unter Beteiligung der | |
| SPD haben deutsche Regierungen die Abhängigkeit Deutschlands von Russland | |
| vergrößert und damit die Rahmenbedingungen für diesen Krieg verbessert, | |
| keine Frage. Sie haben aus einer Mischung aus Naivität und Gier nach | |
| günstigen Rohstoffen falsche Entscheidungen getroffen. Intendiert haben sie | |
| den Krieg damit aber nicht; die direkte Verantwortung liegt allein bei der | |
| russischen Regierung. Deutschlands Fehler haben auch nicht die | |
| Sozialdemokraten allein begangen, Konservative und Wirtschaftsvertreter | |
| waren ebenfalls beteiligt – sie neigen nur aus Tradition weniger stark zur | |
| Selbstkritik und geraten somit auch jetzt nicht in den Fokus. | |
| Und schließlich: Wohlfeil ist es, mit dem Wissen von heute sämtliches | |
| sozialdemokratisches Handeln der Vergangenheit zu verdammen. Zum Beispiel | |
| das endlose Festhalten am Minsker Prozess zum Krieg in der Ostukraine, der | |
| eine politische Lösung anstrebte: Rückblickend war er zum Scheitern | |
| verurteilt, Anzeichen dafür mag es über Jahre gegeben haben. Gewissheit | |
| lieferte aber erst der 21. Februar, an dem Wladimir Putin die | |
| selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk anerkannte. Bis dahin | |
| hatten auch Paris, Kiew und am Ende sogar die neue grüne Außenministerin, | |
| Annalena Baerbock, in Berlin die Hoffnung auf den Erfolg des Minsker | |
| Abkommens nicht aufgegeben. | |
| ## Alte Stärke – und der Kollaps | |
| Damit aber fürs Erste genug des Verständnisses für die SPD und ihre | |
| schwierige Vergangenheit. Immerhin sitzt sie nicht in der Opposition, wo | |
| sie ihre Verhältnisse in Ruhe ordnen könnte. Sie ist ironischerweise gerade | |
| in dem Moment zu alter Stärker zurückgekommen, in dem der Kollaps ihrer | |
| Ostpolitik seinen Lauf nahm. Sie sitzt in der Verantwortung, selbstgewählt, | |
| und muss jetzt mit den Folgen ihrer unbewältigten Fehler zurechtkommen. | |
| Zuerst: mit dem immensen Misstrauen – ob sie es für ungerecht hält oder | |
| nicht. | |
| Das Misstrauen schlägt der SPD entgegen in der Bewertung der deutschen | |
| Reaktion auf den Krieg. Die ist im internationalen Vergleich faktisch | |
| mittelmäßig. Ein sofortiger Energieboykott scheitert innerhalb der EU nicht | |
| ausschließlich an der Bundesregierung, aber auch an ihr. Waffen liefert sie | |
| bislang schon in nicht unwesentlichem Umfang, in Zukunft kommen über einen | |
| Ringtausch mit Slowenien offenbar auch Panzer hinzu. Manche Nato-Staaten | |
| machen bisher mehr als das, manche weniger. | |
| ## Das Sondervermögen als Streckversuch | |
| Trotzdem schlägt speziell der Bundesrepublik international die größte | |
| Kritik ob ihrer vermeintlichen Passivität entgegen. So wie national die | |
| Zweifel an der Führungsstärke des SPD-Kanzlers Scholz zunehmen, während die | |
| Umfragewerte der Grünen-MinisterInnen Habeck und Baerbock steigen – | |
| obgleich sie alle zusammen ein und dieselbe Regierungspolitik tragen. Wer | |
| in der Vergangenheit richtig lag, trägt jetzt einen Vorrat an Vertrauen mit | |
| sich. Wer falsch lag, steht dagegen unter besonderer Beobachtung. Er müsste | |
| sich schon ordentlich strecken, damit mal etwas genug ist. | |
| Als Olaf Scholz vier Tage nach Kriegsbeginn [3][das Sondervermögen für die | |
| Bundeswehr] ankündigte, war das so ein Streckversuch. Dessen Effekt | |
| verpuffte aber, weil die 100 Milliarden nicht dazu gedacht sind, den Krieg | |
| in der Ukraine zu beenden, die grausamen Nachrichten von dort aber nicht | |
| abreißen. Was bleibt sonst? Personelle Konsequenzen für diejenigen in der | |
| Partei, die besonders daneben lagen – [4][Stichwort Manuela Schwesig] – | |
| will die SPD nicht ziehen. Für starke Symbole aus der Kategorie Kniefall | |
| ist Olaf Scholz nicht der Typ. Demut im Ton, Gelassenheit bei Kritik sind | |
| auch keine Stärken der Sozialdemokratie. So schnell wird das Vertrauen also | |
| nicht zurückkommen. | |
| Innenpolitisch ist das verkraftbar, auch wenn die Union unter Friedrich | |
| Merz den Druck erhöht. Außenpolitik hat schließlich selten eine Wahl | |
| entschieden. International aber ist die Sache schwieriger: Frisch im Amt | |
| hat der Kanzler schon an Ansehen verloren, bevor er sich überhaupt welches | |
| zulegen konnte. Für gewöhnlich kostet so etwas Einfluss – nicht nur in | |
| Fragen des Krieges. | |
| 22 Apr 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/sigmar-gabriel-wir-brauchen-zumi… | |
| [2] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
| [3] /Mehr-Mittel-fuer-die-Bundeswehr/!5835013 | |
| [4] /Umstrittene-Gazprom-Stiftung/!5845244 | |
| ## AUTOREN | |
| Tobias Schulze | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| SPD | |
| Olaf Scholz | |
| Sigmar Gabriel | |
| Gerhard Schröder | |
| GNS | |
| Frieden und Krieg | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Bundestag | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| IG | |
| Saskia Esken | |
| Standort Deutschland | |
| FDP | |
| Olaf Scholz | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Russlandpolitik der Sozialdemokraten: Die Illusionen der SPD | |
| Parteichef Lars Klingbeil kritisiert vier Irrtümer der SPD in Sachen | |
| Russland. Putin sei kein vertrauenswürdiger Partner. Doch manches bleibt | |
| vage. | |
| Schröder muss Bundestagsbüro aufgeben: Altkanzler wird abgewickelt | |
| Wegen seiner Putin-Nähe soll Gerhard Schröder sein Bundestagsbüro | |
| verlieren. Auch generell will die Ampel Kanzler:innen-Privilegien | |
| überprüfen. | |
| Panzerlieferungen an die Ukraine: Eine richtige Ausnahme | |
| Es ist richtig, dass Deutschland jetzt Panzer an die Ukraine liefert. | |
| Trotzdem braucht es in Zukunft strengere Regeln für Rüstungsexporte. | |
| Christian Ströbele zum Ukrainekrieg: „Man muss Putin alles zutrauen“ | |
| Christian Ströbele, langjähriger Grünen-Abgeordneter, warnte oft vor | |
| Aufrüstung, unterstützte bewaffnete Befreiungsbewegungen. Was sagt er | |
| jetzt? | |
| Schröders „New York Times“-Interview: Esken fordert SPD-Austritt | |
| Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat starke Kritik an den Aussagen des | |
| Altkanzlers geübt. Schröder hatte in einem Interview Verständnis für Putin | |
| geäußert. | |
| Rüstungskooperationen mit Russland: Schmutzige Geschäfte | |
| Im Jahr 2008 führte Moskau in Georgien Krieg. Dennoch begannen Europa und | |
| Russland danach eine intensive Rüstungszusammenarbeit. | |
| Rolle der FDP in Ampelkoalition: Plötzlich Schuldenkönig | |
| Die Liberalen können in der Ampelregierung viel verhindern, aber wenig | |
| gestalten. Das zeigt sich besonders in der Person des Finanzministers. | |
| Deutsche Waffenlieferungen: Übertriebene Kritik an Scholz | |
| Mit der Nato abgestimmt, liefert Deutschland der Ukraine, was möglich ist. | |
| Trotzdem gibt es die dämliche Debatte über „Ladehemmungen“ des Kanzlers. | |
| Kriegsgerät für die Ukraine: Frieden schaffen mit Waffen | |
| Die Mehrheit der Deutschen ist für eine stärkere militärische Hilfe für die | |
| Ukraine. Die Grünen machen Druck, aber der Kanzler zögert. |