# taz.de -- Fahrrad-Lobbyist über Corona-Effekt: „Die Läden sind nahezu aus… | |
> Was vom Coronatrend Radfahren bleibt, diskutiert der | |
> BVZF-Geschäftsführer. Ein Gespräch über steigende Nachfrage, | |
> Pop-up-Radwege und Arbeitsplätze. | |
Bild: Wurden teils heiß diskutiert: Pop-up-Radwege, hier in Hamburg | |
taz: Herr von Rauch, jetzt bieten auch Fahrradbauer SUVs an, sogenannte | |
„All-Terrain-E-Bikes“, also Elektrofahrräder mit exklusiver Ausstattung, | |
die dann angeblich überall durchkommen, durch Matsch, Wiesen und die | |
Großstadt. Muss das sein? | |
Wasilis von Rauch: Das ist vielleicht nicht unbedingt notwendig, aber | |
[1][das Auto spricht so viele an], da geht es darum, zu zeigen, dass das | |
Rad auch ein Rundum-sorglos-Verkehrsmittel ist und es für jeden das | |
passende gibt. Auch für Leute mit wenig Geld. | |
Dahinter könnte auch die Angst stecken, dass der Rad-Trend nicht lange | |
hält? | |
Die Fahrradläden sind nahezu ausverkauft. Der Absatz von E-Bikes ist 2020 | |
im Vergleich zum Vorjahr um 15 Prozent gestiegen. Die Händler sagen, sie | |
haben sehr viele Einstiegsräder verkauft – für rund 600 Euro an Leute, die | |
zum ersten Mal seit Langem ein Rad kaufen. Viele werden das Rad auch noch | |
nutzen, wenn die Coronakrise vorbei ist, weil sie leicht von A nach B | |
kommen und weil sie etwas für ihre Gesundheit tun wollen. Fahrrad-Abos | |
nehmen auch rasant zu, rund 100.000 gibt es bereits. | |
Die Leute leihen das Rad, kaufen es nicht? | |
Das ist der Spotify-Trend, keine Schallplatten mehr haben, aber immer Musik | |
hören können: Viele wollen sich nicht um ihr Rad und den platten Reifen | |
kümmern, sondern nur fahren. Die Firma „Swapfiets“ – Merkmal blauer | |
Vorderreifen – hatte zuerst die Idee. Und es gibt bereits zahlreiche | |
weitere Anbieter, „e-Bike abo“ etwa. | |
Zur Sicherheit der vielen Radfahrer vor dem Virus haben [2][Städte wie | |
Berlin ratzfatz neue Pop-up-Radwege] gemacht. Hätte die Rad-Lobby da | |
stärker einhaken müssen für eine langfristig neue Aufteilung der Straße? | |
Haben wir gemacht! | |
Ach ja? | |
Das ist ein großer Kampf. Der wird auch nicht von heute auf morgen | |
aufhören. Aber das Auto muss Platz abgeben, damit der Verkehr nicht weiter | |
ausgebremst wird und alle im Stau stehen. Der Stillstand kostet auch die | |
Wirtschaft viel Geld. Ware kommt nicht rechtzeitig an, der Spritverbrauch | |
steigt. Durch die Straßen passen viel mehr Menschen, wenn sie auf Rad und | |
ÖPNV umsteigen, anstatt alleine in ihrem 10-Quadratmeter-Auto zu sitzen. | |
Das bedeutet mehr Leistungsfähigkeit im System. Viele Metropolen steuern | |
bereits um. Paris zum Beispiel. Oder in Asien Singapur. | |
Als die Friedrichstraße mitten in Berlin für Autos gesperrt wurde, | |
twitterte Thomas Bareiß, als CDU-Mann Parlamentarischer Staatssekretär im | |
Bundeswirtschaftsministerium: „Da wo bisher #Verkehr problemlos lief, gibt’ | |
s jetzt Chaos! Was wird diese Stadt wohl machen, wenn es keine | |
Steuereinnahmen mehr aus der Autobranche gibt? Und dann noch die | |
katastrophalen Folgen für Geschäfte & #Einzelhandel.“ | |
In Städten, in denen mehr Radfahrer und Fußgänger unterwegs sind, steigen | |
die Umsätze in den Geschäften. Ausgerechnet Bareiß, der auch | |
Tourismusbeauftragter der Bundesregierung ist, ist einer derer, die das | |
immer noch nicht mitbekommen haben. Bedauerlich. | |
Wo steigt der Umsatz? | |
In der Mariahilfer Straße, eine große Einkaufsstraße in Wien, sind die | |
Autos bis auf den Lieferverkehr verschwunden. Da hat es vorher Riesenrabatz | |
gegeben. Heute brummt der Einzelhandel. Ähnlich ist das auf dem Times | |
Square in New York. Die Gegner wiederholen immer nur ihre Polemik, nennen | |
aber nie Beispiele, wo Geschäfte schließen mussten, weil weniger Pkws | |
fahren. Es gibt sie nicht. | |
Oft sind einfach alle sauer, manchen geht es zu schnell, den anderen zu | |
langsam. | |
Das ist doch immer so bei Veränderungen. Das muss man aushalten. Vor allem | |
aber müssen Radlobby und Politik mit besseren Argumenten kommen als allein | |
dem Klimaschutz. Mit reinen Vernunftargumenten kommen wir nicht weiter. | |
Was dann? | |
Eine Vision schaffen. Die Mobilität der Zukunft macht das Leben angenehmer, | |
weil die Luft besser, es leiser wird, Unfallzahlen abnehmen, man sich mehr | |
bewegt, gesünder bleibt. In Wien entsteht an der Donau ein neuer Stadtteil, | |
Seestadt Aspern – weitgehend autofrei, mit top ÖPNV-Anbindung. Dort | |
beklagen sich Leute, die ein Auto haben, immer wieder, dass sie es in einem | |
Parkhaus parken müssen. Die bekommen dann aber sofort von anderen | |
Gegenwind. Dass ihre Kinder so Platz zum Spielen hätten. Dass es mehr Leben | |
auf der Straße gebe. Es ist für viele ein Gewinn. | |
Nicht für die Arbeitenden in der Autoindustrie. | |
Aber es wird immer noch genauso viele Arbeitsplätze geben, das ist dann | |
vielleicht weniger IG Metall und mehr Verdi … | |
… weniger Industrie, mehr Dienstleistung? | |
Bus und Bahn, also der öffentliche Personennah- und -fernverkehr, sind mit | |
600.000 Arbeitsplätzen schon jetzt ein großer Arbeitgeber, in der | |
Fahrradwirtschaft sind es 300.000. Und es würden mehr, wenn sich der | |
Verkehr verlagert. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hat eine | |
Studie beauftragt, die zeigt, dass der Strukturwandel hin zu einer | |
diverseren Mobilität in den nächsten 15 Jahren 800.000 Arbeitsplätze kosten | |
würde, aber es entstehen 900.000 neue. Klar, es werden Leute umziehen und | |
umgeschult werden müssen. An diesem Strukturwandel führt aber ohnehin kein | |
Weg vorbei, weil China zum Beispiel ab 2035 keine Benziner oder Diesel mehr | |
zulassen will. Der Autoindustrie brechen die Märkte für Verbrenner weg. | |
Die Liebe zum Auto ist aber wieder größer geworden: Das Autokino wurde | |
reanimiert, der Drive-in-Gottesdienst kam. | |
Das gab es, aber doch nur ab und zu. Es ist auch nachvollziehbar, dass | |
Menschen aus Angst vor dem Virus wieder allein sein wollten, im Auto. Der | |
ÖPNV muss aber sobald wie möglich wieder die Alternative sein mit erhöhtem | |
Takt etwa, damit es in Bussen und Bahnen nicht zu voll ist. | |
Haben Sie 2020 mit Andreas Scheuer gesprochen, dem Bundesverkehrsminister? | |
Einmal. Scheuer ist der erste Verkehrsminister, der sich um das Fahrrad | |
kümmert. Er investiert stärker als alle seine Vorgänger in den Radverkehr – | |
bis 2023 rund 1,4 Milliarden Euro für Kommunen. Das Problem ist nur, dass | |
Scheuer die Autoindustrie nicht auf Kurs bringt und kein übergreifendes | |
Verkehrskonzept entwickelt hat. Die Zahl der Autos nimmt immer noch zu, | |
derzeit sind 47 Millionen zugelassen. | |
Schauspielerin Anke Engelke erklärte kürzlich, sie singe den Psalm „Der | |
Herr ist mein Hirt“, wenn sie mit dem Rad durch Köln fährt, weil sie Angst | |
hat. [3][Wie wird es sicherer?] | |
Mit mehr Platz. Städte zuzuparken ist da Luxus. Anwohnerparken muss teurer | |
werden – 400 Euro im Jahr. Ich stelle doch auch nicht meine Couch einfach | |
so auf die Straße. | |
Was kommt 2021? | |
Angestellte in Bund und Kommunen können jetzt auch über eine | |
Gehaltsumwandlung ein Dienstrad leasen – da werden wieder neue Leute aufs | |
Rad steigen. Und am Ende des Jahres steht hoffentlich ein super | |
Koalitionsvertrag. | |
Was muss drinstehen? | |
Die Bundesregierung kümmert sich aktiv darum, dass der Verkehrssektor den | |
Beitrag zum Klimaschutz schafft und baut entsprechende Maßnahmen auf. | |
So nüchtern? | |
Die Regierung könnte sich auch das vornehmen: Gute Verkehrswege für alle – | |
für mehr Bewegung in Deutschland. | |
5 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Hannovers-Strassenplanung-ohne-Fahrraeder/!5720606 | |
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## AUTOREN | |
Hanna Gersmann | |
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