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# taz.de -- Erinnerung an US-Folksänger Phil Ochs: Poet der Nachrichtenübermi…
> Am Samstag würde Phil Ochs seinen 80. feiern. Der Protestsänger führte
> die Bewegung gegen den Vietnamkrieg und schrieb Psychedelicsongs.
Bild: Phil Ochs bei einem Konzert im Mill Valley, Kalifornien 1968
All the News that’s Fit to Sing“. Mit dem Titel seines Debütalbums hat Phil
Ochs 1964 den Anspruch des Topical Songs auf den Punkt gebracht. Poesie als
Nachrichtenübermittlung. Die minimale Abweichung vom Motto der New York
Times erklärt, dass nur der Unterschied der Medien (Print/Gesang) den
üblichen journalistischen Wahrheitsanspruch übertrifft, wenn die jungen
Leute im Greenwich Village der frühen 1960er das Wort ergreifen: Für Zorn
und Empathie steht der Gesang, den Rest besorgt die empörende
Nachrichtenlage in den Südstaaten und in Vietnam.
Der Topical Song, also der gegenstandsbezogene, gewissermaßen
journalistische Song meinte einerseits den Song einer Bewegung, der auf
Demonstrationen und bei Streiks gesungen werden konnte, ohne einer Person,
einem Autor zu gehören oder dessen individuelle Gefühle zu betonen; zum
anderen aber den Resonanzraum dieser spezifischen politischen
Öffentlichkeiten mit der emotionalen Ansteckung durch gesungene Worte zu
verbinden, um politische Ereignisse und Zusammenhänge bekannt zu machen.
Für diese Verbreitung brauchte man dann aber irgendwann das Aufnahmestudio,
das Radio und in letzter Konsequenz Fernsehen und Plattenfirmen.
Dabei entwickelte der Topical Song eine besondere Dialektik: Der
Überbringer der (politischen) Botschaft wird nun nicht nur wegen seiner
Inhalte oder seiner Formen, sondern wegen seiner technisch aufgezeichneten
Körperlichkeit geliebt: Stimme, Performance, Attitüde. Zwei Vertreter
dieser oft Protestsänger genannten Szene verkörperten die beiden
Alternativen: der coole, näselnde König großer Gesten und lakonischer
Performance-Formeln [1][Bob Dylan] und der extrem gegenstandsbezogene,
ernsthafte Aktivist und hochbegabte Handwerker nicht nur des Reims, sondern
auch des musikalisch wohlgesetzten Pathos, Phil Ochs. Beide sind jüdische
Intellektuelle aus der Provinz, beide sind Fans afroamerikanischer und
anderer arbeiterbewegter Topical Songwriter (Woody Guthrie, Leadbelly,
Cisco Houston) und sie bewundern einander.
## Scharfsinnige Anklage der Liberalen
Aber ab 1965 gehen sie ziemlich getrennte Wege. Wo der eine seine durch
globalen Massenerfolg glitzernd gespiegelte Subjektivität in langen
entspannt, assoziierten Surrealismen zu elegant gleitenden
Hammondorgelakkorden ausprobiert, lässt der andere keine noch so
unbedeutende Gewerkschafts- oder Anti-Vietnam-Versammlung aus und klagt
scharfsinnig all die in der Folk-Szene so zahlreichen „Liberals“ an, die
mit John F. Kennedy einen „verlorenen Vater“ betrauern und zugleich meinen,
Malcolm X hätte nur bekommen, was er sich selbst zuzuschreiben hatte. Ochs
wird in dem Maße immer verwickelter mit den politischen Leidenschaften
seiner Zeit, in dem Dylan zu rätseln und zweifeln beginnt. Der Gegenstand
da draußen in der Welt, der Topic ist Dylan abhanden gekommen.
Auch Ochs zieht nach 1965 und zwei klassischen, musikhandwerklich
makellosen Protestfolkalben und einem Live-Album auf Elektra andere Saiten
auf. Während er politisch immer massiver in die Kämpfe seiner Zeit
hineingerät, reagiert er künstlerisch mit einem anderen Schritt. Statt wie
die Stars gewordenen (Ex-)Politicos auf seine individuelle
Stimmcharakteristik, sein durchaus gewinnendes Äußeres oder seinen
Stegreifhumor setzt er auf die Sorte Kunstlied, die von Acid und
amerikanischer Klassik (Charles Ives), Great American Songbook und Musical
beeinflusst sich als poetische Alternative zu E-Gitarren, coolen
Schweineorgeln und dem Memphis Blues again entwickelt hatte.
Ochs wechselt zu Herb Alperts A&M Records und klingt nun in seinen
komplexen, gerne an der Zehnminutengrenze schrammenden, tragisch-ratlosen
Balladen mal wie der junge Tim-Buckley ohne dessen Primanerlyrik, mal wie
die mäandernden Songdichtungen der neuen Warner-Brothers-Songwriter: Der
Gott barocken Songwritings und postkolonialen Pops, [2][Van Dyke Parks],
wird zu seinem Produzenten, Arrangeur, Keyboarder und kriegt den Credit
„Hero of the Revolution“.
## Schillernde Bitterkeit
Ochs ist nach Kalifornien gezogen, nachdem „New York explodiert und gegen
meinen Kopf geknallt“ war, wie es in „A Tape From California“(1968) heiß…
Der Umzug bleibt ein Quell der schillernden, wenn auch anfangs sehr
produktiven Bitterkeit, die nun mehr und mehr an die Stelle des gerechten
Zornes tritt: „The World Began in Eden and Ended in Los Angeles“. Deren
Gipfel markiert schon 1967 der Jahrhundertsong „Crucifixion“. Noch mal geht
es um JFK, auch dessen Bruder und Martin Luther King, auch Dylan, für den
es nun auch lebensgefährlich sei, eine Bühne zu betreten, und um eine
strukturelle Neigung Amerikas, sich Konsens per Heldenverehrung zu
erschaffen, um sich für dessen Misslingen an den Personen zu rächen, die
diesen verkörpern sollen.
Und damit wäre Ochs genau bei dem neuen, auf Körper, Stimmen, Look und
Appeal aufgebauten lebensgefährlichen Ruhm angelangt, mit dem die
massenmedial übertragenen Körper der Sixties-Pop- und Politstars
ausgestattet wurden – doch er spricht hier auch von sich selbst: Ein
unglücklicher Messias, der sein Volk nicht wirklich erreicht, Glanz und
Glorie der medialen Effekte mit politischen Missverständnissen bezahlt.
Mit immer gediegenerem Songhandwerk wie mit theatralen Gesten versucht Ochs
dieser Eigendynamik des Medialen beizukommen, die ihm politisch wie
psychologisch unheimlich ist. Auch dafür steht „Crucifixion“, wenn der
Vintage-Minimalist, emersonianische Elektroniker ([3][Ralph Waldo]! Nicht
Keith) und Soundtüftler Joseph Byrd (bekannt von The United States of
America und Joe Byrd & The Field Hippies) sein elektronisch-verzweifeltes
Möwenkreischen auf das antike Klagen von Phil Ochs loslässt.
## Sarkasmus mit Elvis-Zitat
Die letzten beiden Studiowerke sind dann Konzeptalben in einem
merkwürdigen Sinne: Mit „Phil Ochs Greatest Hits“ (1970) – die keine
Greatest Hits enthält, sondern nur hochambitioniertes Neues – zitiert er
das später auch von [4][Blumfeld] aufgegriffene Cover der Elvis-Compilation
mit dem Goldlamé-Anzug („50.000.000 Elvis-Fans Can’t Be Wrong“, 1959) und
schreibt sarkastisch auf die Rückseite „50 Phil-Ochs-Fans Can’t Be Wrong�…
Dabei macht er sich nicht einfach über Kulturindustrie und Massenproduktion
und den kapitalistischen Terror der großen Zahl lustig: Er hat Elvis
geliebt, diverse Tollen ausprobiert und wäre mit seinen hochkunstvollen,
durchargumentierten Balladen auch gerne auf Nummer eins gelandet. Er sang
für das Volk.
Auf „Rehearsals For Retirement“ (1969) steht sein eigener Grabstein im
Mittelpunkt des Covers, gestorben ist er demzufolge 1968 in Chicago – als
sein Engagement auf dem Höhepunkt war. Und genau dieses Engagement, das mit
kognitiven Dissonanzen nicht umgehen konnte, war sein Dilemma. Er wollte,
ganz zu Recht, zwei Dinge zugleich: die coole Verführung seiner
Rock-beeinflussten Posen und die ultraaufrichtige Wahrheitspeinlichkeit
seiner Yeats verehrenden Polit-Balladen, Dylan und Joan Baez, das Kunstlied
und den goldenen Lamé – das alles aber in einem Denk- und vor allem
Gefühlsstil, der Wahrheit nur als einstimmige, aufrichtige,
widerspruchsfreie Haltung kannte.
Beim [5][Parteitag der Demokraten in Chicago im August 1968] – seinem
„Todesdatum“ – besorgte er das Schwein Pigasus, das die Spaßlinksradikal…
der Yippies um Abbie Hofman und Jerry Rubin zum Präsidentschaftskandidaten
nominierten. Aber Ochs hatte auch ganz realpolitisch für den demokratischen
Kandidaten Eugene McCarthy gekämpft, dem er zutraute, nicht nur das
US-Parteiestablishment zu überzeugen, sondern auch tatsächlichen den Krieg
in Vietnam zu beenden. Und dieser Krieg war sein Mittelpunkt. In Aaron
Sorkins vor Kurzem auf Netflix angelaufenen „The Trial of the Chicago
Seven“ (mit Sacha Baron Cohen als Abbie Hofman) kommt Ochs leider nicht
vor, dabei hatte er in genau dem Prozess einige denkwürdige Auftritte. Er
konnte sein, was er immer wollte: ein Zeuge.
## Benefiz für Greenpeace-Gründung
Seine Zerrissenheit hat ihn umgebracht, aber er musste dafür erst ein Alter
Ego finden und zu seinem Mörder ernennen, einen Nachfolger für den
frühvollendeten Gerechten und den vergeblich ruhmsüchtigen Tollenträger. In
den 1970ern war er noch an Aktionen wie dem Gründungsbenefiz für Greenpeace
beteiligt, agitierte mit John Lennon, Yoko Ono und Joan Baez, immer wieder
auch im Goldlamé-Anzug. Zugleich hatte er sich in Kämpfe in Afrika und
Südamerika persönlich hineinbegeben. Als er in Tansania überfallen wurde,
verlor er einen Teil seiner Stimme; in Allendes Chile freundete er sich
unter anderem mit Victor Jara an. Dessen Ermordung durch das
Pinochet-Regime hatte ihm sehr zugesetzt.
Als der alles bestimmende Vietnamkrieg dann 1975 wirklich vorbei war, dreht
er durch, bewaffnete sich und trat ein paar Mal als John Butler Train auf –
Train, so Ochs, habe Ochs ermordet und würde ihn nun ersetzen. 1976 nahm er
sich das Leben.
18 Dec 2020
## LINKS
[1] /Bob-Dylans-neues-Album/!5691652
[2] /Neues-Album-von-Van-Dyke-Parks/!5067718
[3] /Deutsch-amerikanische-Philosophie/!5471576
[4] /Musik-der-Hamburger-Schule/!5510145
[5] https://www.youtube.com/watch?v=dA5BXLIdOec
## AUTOREN
Diedrich Diederichsen
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