# taz.de -- „Little Oblivions“ von Julien Baker: Das Prinzip Hoffnungslosig… | |
> Das neue Album „Little Oblivions“ der US-Singer-Songwriterin Julien | |
> Baker, inszeniert eine Künstlerin am Abgrund. Lindert die Musik ihr | |
> Leiden? | |
Bild: Hat eine Menge durchgemacht: Julien Baker | |
Little Oblivions“, das neue Album der US-Singer-Songwriterin Julien Baker, | |
ist das Dokument eines Untergangs. Einer Abwärtsspirale, denn ihre Lieder | |
sind Berichte vom Sich-im-Kreis-Drehen: Selbstverletzungen, immer wieder, | |
Rückfälle ins Trinken nach sechs Jahren Abstinenz, immer gleiche | |
Verhaltensmuster, die jede stabile Beziehung unmöglich machen: „It’s the | |
mercy I can’t take“, heißt es in einem der zwölf Songs. In einem anderen | |
klagt die Künstlerin, man könne ihr nur beim Untergang zusehen, jeder | |
Rettungsversuch würde einen mit in den Abgrund reißen. | |
Das taz-Interview mit der 25-Jährigen aus Tennessee wird darum mit einer | |
gewissen Nervosität erwartet: Welche Fragen stellt man einer Frau, die | |
schon jede Hoffnung in den Wind geschlagen hat? Als Baker einen dann frisch | |
und freundlich auf dem Bildschirm anlächelt, muss man erst mal fragen, ob | |
sich ihr Leben vielleicht doch mittlerweile etwas sortiert habe? „Ich | |
glaube, ich habe jetzt mehr Abstand zu diesen Dingen. | |
Zum Glück. Die Musik für das Album wurde bereits vor der Pandemie | |
aufgenommen, es ist also Zeit vergangen. Ich weiß auch nicht, wie ich aus | |
der Krise rauskam: langsam, sehr langsam. Und es ist nicht so, dass ich | |
nicht zwischendurch wieder ganz unten war. Aber eigentlich gibt es kein | |
unteres Ende, wenn man feststeckt in diesem Kreislauf, dieselben Fehler | |
immer und immer zu wiederholen.“ | |
## Fast eine Art Begeisterung | |
Zwangsstörungen und Alkoholismus sind die Lebensthemen der jungen Frau – | |
und irgendwie muss man es ihr sagen, dass man selbst inzwischen seit über | |
30 Jahren immer wieder Substanzen wie Alkohol missbraucht und eigentlich | |
ganz gut damit zu leben gelernt hat. Was daraufhin in ihren Augen | |
aufblitzt, scheint fast eine Art Begeisterung zu sein: „Ich habe den | |
Eindruck dass Menschen, die in [1][Mitteleuropa] aufgewachsen sind, eine, | |
wenn man das so sagen kann, ‚gesündere‘ Einstellung zu Drogen haben. | |
Speziell zu Alkohol. Bei euch werden solche Dinge nicht so sehr | |
dämonisiert. Trinken ist in den USA weit verbreitet. Aber wir haben eine | |
äußerst starke kulturelle Vorstellung davon, warum es schlecht ist, und das | |
hat natürlich stark mit Religion zu tun. Ich denke viel nach über den | |
Zusammenhang von Schuld und Scham und was das mit Sucht zu tun hat.“ | |
Schuld und Scham – wer in einer evangelikalen Familie in den USA | |
aufgewachsen ist, muss nicht Singer-Songwriterin sein, um davon Lieder zu | |
singen. 2010 hat Baker ihre erste Band Star Killer gegründet, die sich | |
später in Forrister umbenannt hat. Und vor sechs Jahren hat sie ihr | |
Debüt-Soloalbum „Sprained Ankle“ veröffentlicht, um schon damals Themen w… | |
Depression, Sucht und Glaubenskrisen zu verhandeln. Seinerzeit ist ihr Werk | |
auf große Resonanz gestoßen, auch, weil es in einer Deutlichkeit und | |
Dringlichkeit von diesen Themen erzählt, wie man es von einer 20-Jährigen | |
nur selten zu hören bekommt. | |
Ein Nachfolgealbum wurde 2012 veröffentlicht, doch „Little Oblivions“ geht | |
nun einen neuen Weg: Musikalisch stärker ausgepolstert mit | |
Streicherarragements und Synthesizern, gewinnen die Songs von Julien | |
Baker, die fast durchgehend ohne Refrains auskommen, an Dramatik. | |
## Keine Karthasis, nirgends | |
Das Album ist gnadenlos: Fast alle Lieder haben eine ähnliche Tonlage, ein | |
ähnliches Tempo. Die [2][musikalische Dramati]k unterstreicht das Elend | |
nur, fügt keine weitere Sinnebene hinzu, bietet auch keine irgendwie | |
erlösende Katharsis. Im Interview gibt es, neben ihrer guten Verfassung, | |
dann noch eine zweite Überraschung: Julien Baker hat seit ihrem letzten | |
Album mit der Kirche gebrochen. | |
„Ich habe mich lange als Christin bezeichnet. Aber ich kann immer weniger | |
mit institutioneller Religion übereinstimmen. Ich hasse es, wenn Menschen | |
den Glauben und Gott und Jesus zu einer politischen Waffe machen, wie die | |
konservativen Republikaner mit ihrem Motto ‚One Nation Under God‘. Was | |
Jesus gepredigt hat, hat Parallelen zur Idee des Sozialismus. Und da wird | |
die Sache für mich interessant: Wie übertragen wir Lehren, die wir für | |
wertvoll halten, auf die heutige Zeit? Und dafür ist der Glaube nützlich, | |
um eine Gemeinschaft aufzubauen und einen Diskurs zu begründen darüber, wie | |
wir am besten miteinander leben.“ | |
Zuletzt war Baker Mitglied einer Gemeinde, die dieser Vorstellung von | |
Christentum nahekam: „Wir haben weniger Bibeltexte ausgelegt und uns mehr | |
darüber unterhalten, wie wir Menschen konkret helfen können. Auch wenn die | |
Kirche Seelsorge prinzipiell als ihre Aufgabe versteht, gibt es da doch | |
immer diese Unterscheidung von Zugehörigkeit zur Kirche und den anderen. | |
Das widerspricht allem, wovon ich dachte, dass es Glaube bedeutet.“ | |
## Scheußliche Sache | |
Ihren Glauben kann Julien Baker politisch auslegen, ihr Leiden aber nicht. | |
Warum ist das so? Warum kann sie nicht, wie andere Künstler:Innen, eine | |
Verbindung herstellen zwischen ihrer Verzweiflung und der sexistischen, | |
kapitalistischen Gesellschaft, in der sie lebt? „Für mich bedeutet | |
praktische Nächstenliebe, dass ich mich selbst so sehr in die Verantwortung | |
nehme wie andere Menschen. Ja, [3][Kapitalismus ist verkommen], eine | |
scheußliche Sache. Und ich bin Teil dieses wirtschaftlichen Systems, das | |
zerstörerisch und für viele Menschen sogar tödlich ist. Ich tue das, weil | |
ich es gerne bequem habe. Es gibt diesen Bibelvers, wirklich verrückt, dass | |
ich all diese Zitate noch im Kopf habe: ‚Was siehst du aber den Splitter in | |
deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?‘ “ | |
Schuld und Scham – das christliche Weltverständnis sitzt tief bei Julien | |
Baker. Umso schwerer hat es sie getroffen, als 2019 im US-Magazin GQ ein | |
Artikel über Musiker*innen erschienen ist, die den Drogen abgeschworen | |
hatten. Baker war eine der Porträtierten, aber zum Zeitpunkt des | |
Erscheinens hatte sie wieder angefangen zu trinken. Sie kam sich vor wie | |
eine Betrügerin. | |
Natürlich bekommt sie viele Zuschriften von Fans, die sich mit ihren | |
Leidensberichten identifizieren. Das tue ihr gut, sagt Baker, weil sie | |
sieht, dass sie mit ihrer Musik Einsamkeit und Verzweiflung lindert. „Aber | |
ich möchte auch nicht so verstanden werden, dass ich eine Autorität in | |
diesen Sachen wäre. Unsere Erfahrungen sind ähnlich, und ich berichte nur | |
davon, wie ich mit meinen Problemen auf schlechte, ungesunde Weise umgehe.“ | |
In einem Punkt war Baker bei der Arbeit an ihrem neuen Album aber auch | |
großzügig zu sich selbst. Sie hat sich etwas durchaus Unchristliches | |
erlaubt: Die Hoffnung aufzugeben. „Ich hatte lange Zeit das Gefühl, dass | |
ich meiner Musik dieses Element der Hoffnung geben müsste, dass ich nicht | |
einfach nur katastrophale Lieder schreiben dürfte. Aber ich glaube, man | |
muss anerkennen, dass sich Menschen manchmal hoffnungslos fühlen, und dass | |
man nicht sofort eine Lösung anbieten muss, dieses ‚Alles wird gut!‘ Ja, | |
vielleicht ist dieses Album ohne Hoffnung.“ | |
5 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Schneider | |
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