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# taz.de -- Neues Album von Fiona Apple: Bolzenschneider gegen Kritik
> Das neue Album „Fetch the Bolt Cutters“ der US-Songwriterin Fiona Apple
> wird von der Kritik gefeiert – und macht den Einstieg leicht.
Bild: Höchste Punktzahl: Fiona Apple wird gefeiert
In der BBC-TV-Serie „The Fall – Tod in Belfast“ geht es um einen
Therapeuten, der nach außen hin attraktiv und aufgeräumt wirkt, aber in
Wirklichkeit ein grausamer Frauenmörder ist. Um ein Opfer zu retten, ordnet
die Ermittlerin kurz und knapp an: „Fetch the bolt cutters“. Die Idee, mit
dem Bolzenschneider für Befreiung zu sorgen, hat sich Fiona Apple für ihr
neues Album ausgeliehen. Dem titelgebenden Satz fügt sie im dazugehörigen
Song zudem ein entschiedenes „I’ve been in here too long“ hinzu.
Seit fast 25 Jahren ist Apple im Musikgeschäft. Für ihr Debüt „Tidal“
(1996), ihr bislang kommerziell erfolgreichstes Album, bekam sie im zarten
Alter von 19 einen Grammy. Vier weitere Alben hat die 42-Jährige seither
veröffentlicht; inzwischen lebt sie ein eher einsiedlerisches Leben in Los
Angeles, mit eigenem Tonstudio und Hunden, deren Gebell immer wieder auch
auf dem Album zu hören ist.
Seit „Fetch the Bolt Cutters“ (FTBC), das tatsächlich nach Befreiungsschlag
klingt, vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, wird es frenetisch von der
Kritik gefeiert. Glatte zehn Punkte – die höchste Wertung seit einem
Jahrzehnt – gab es beim US-Online-Magazin Pitchfork; andere Kritiker jubeln
ähnlich. Der Zuspruch mag ja verdient sein, die Musik ist ziemlich toll.
Trotzdem wirkt so viel Konsens etwas befremdlich, bescheinigt man Apple so,
auf eine mitunter gönnerhafte Art, endlich Relevanz – als sei ihre Kunst
ein Statement, für das die Welt nun mal leider erst jetzt reif ist.
Jahrzehntelang wähnte man sie in der Schublade „schwierige Künstlerin“ gut
aufgehoben.
## Einhelliges Lob, schlechtes Gewissen
Dass ein ähnlich diagnostizierter Künstler gar nicht erst in einer solchen
Schublade gesteckt würde und dass genau in der strukturellen
Benachteiligung von Frauen der Hund begraben liegt, hat sich erst jüngst
als Konsens durchgesetzt. Ein bisschen wirkt das einhellige Kritikerlob,
als habe man ein schlechtes Gewissen, dass man Apple nicht aufmerksam
zugehört hat, so wie sie es verdient hätte, sondern eher auf ihre
psychischen Probleme, schwierigen Beziehungen und Alkoholsucht fokussiert
hat. So liest man nun dauernd Sätze wie den von „einer Stimme, die mal
schöner war, aber nie so wichtig wie heute“ sei. Das klingt pädagogisch
wertvoll, aber nicht unbedingt, als wolle man das Album hören.
Was bedauerlich ist. Denn trotz emotionaler und klanglicher Komplexität ist
„FTBC“ nicht in erster Linie sperrig. Die Vielstimmigkeit, die sich durch
alle Songs zieht, macht den Einstieg leicht. Apples Geschichten haben nicht
nur Identifikations-, sondern auch Unterhaltungswert. Einige Textfragmente
trägt sie seit Jahrzehnten mit sich herum, immer wieder wurden sie
überarbeitet – offenbar ein probates Antidot gegen bekenntnishafte
Innerlichkeit. Apple unterhält mit Humor, unerwarteten Schlenkern und
überraschenden Eingeständnissen.
„Rack of His“ etwa blickt mit halb gespielter Eifersucht auf die
Gitarrensammlung eines begehrten Mannes. Mal singt Apple, mal verfällt sie
in federnden Rap; bei der Zeile „I would beg to disagree / but begging
disagrees with me“ (aus dem insgesamt einprägsamen Song „Under the Table)
wird leierndes Gemaule draus. Überhaupt gibt es fantastische Sätze auf
diesem Album, die man gerne mal zitieren wird: „I resent you for presenting
your life like a fucking propaganda brochure“ heißt es etwa im
polyrhythmisch geklöppelten „Relay“.
## Affinität zur Avantgarde
Musikalisch ist das unvermittelt und komplex, Avantgarde-affin und roh
zugleich. Stand beim Vorgänger „The Idler Wheel …“(2012) noch das Klavier
im Vordergrund – das Instrument, an dem Apple klassisch ausgebildet ist,
auch wenn es da schon vor allem als Perkussionsinstrument diente –, kommt
es diesmal nur noch in wenigen Stücken vor. Die Mehrheit der Songs ist um
ihre wandelbare Stimme und unterschiedlichste Schlagwerke herum arrangiert.
Und auch wenn Apple mit ihren Mitmusikern auf diesem Album eine höchst
organische Einheit bildet und Corona beim Entstehen der Songs noch kein
Thema war, wirkt „FTBC“ im Ausnahmezustand wie ein positives Statement zum
Thema Abstand. Die Welt ist schließlich so voller Bullshit, dass
Selbstschutz durch Isolierung durchaus seine Berechtigung hat.
Nicht mehr und nicht weniger hat Apple 1996 in ihrer Grammy-Dankesrede
gesagt, für die sie seinerzeit viel Schelte bekam. Da war die Welt offenbar
nicht reif dafür. So gesehen ist es begrüßenswert, dass sie nun endlich
bereit für Apple zu sein scheint.
23 Apr 2020
## AUTOREN
Stephanie Grimm
## TAGS
Pop
Los Angeles
Fiona Apple
Singer-Songwriter
Musik
Folk
Schwerpunkt Coronavirus
Juliane Streich
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