# taz.de -- E-Scooter in Berlin: Saftig ausgepresst | |
> Sogenannte Juicer sammeln nachts in Berlin E-Roller ein, um deren Akkus | |
> aufzuladen – ein schlecht bezahlter Job zu fragwürdigen Bedingungen. | |
Bild: Wenn ihr Akku leer ist, werden die E-Roller in Berlin von Juicern eingesa… | |
BERLIN taz | In Simons VW Polo passt ein einziger E-Scooter – wenn Simon | |
die Rückbank umklappt und den Roller bis vor auf den Beifahrersitz schiebt. | |
Kofferraum zu, mehr geht nicht rein. Weil Simon mit der taz über | |
Vertragsinhalte gesprochen hat, will er seinen echten Namen lieber nicht | |
veröffentlicht wissen. Er ist Juicer für das Unternehmen Lime. Sein | |
Nebenjob hat aber nichts mit Smoothies zu tun, sondern mit Mobilität. Lime | |
hat in Berlin [1][E-Roller] aufgestellt, die einfach per App gemietet | |
werden können. Die elektrisch angetriebenen Scooter muss regelmäßig jemand | |
aufladen. | |
Hier kommen die Juicer ins Spiel. Mit einem privaten Fahrzeug sammeln sie | |
entladene E-Roller ein. Dann laden sie die Akkus der Scooter auf, an einem | |
Ort ihrer Wahl, meistens zu Hause. Sie tragen jegliche Kosten selbst, Strom | |
beispielsweise, Benzin oder Internetgebühren. Am Folgetag müssen die Roller | |
zwischen fünf und sieben Uhr morgens wieder in der Stadt verteilt werden – | |
an von einer App vorgegebenen Orten. | |
Pro Scooter bezahlt Lime den Juicern in Berlin vier Euro. Ein Roller lädt | |
etwa sieben Stunden lang auf, wenn sein Akku komplett leer ist. Er steht | |
dann irgendwo in der Wohnung des Juicers und hängt an einer Steckdose, bis | |
der Wecker klingelt. | |
Simon sieht Potenzial in der Arbeit, mit der er sich sein Gehalt aufbessern | |
will. Er hat Videos auf YouTube gesehen, von der Juicer-Gemeinschaft in den | |
USA, und plant für die Zukunft: „Mit einem Hänger könnte ich locker 20 bis | |
30 Roller gleichzeitig transportieren. Dazu ein Ort, an dem man die Dinger | |
zentral bündelt, dann kann man pro Stunde 50 Euro verdienen.“ | |
## Juicer sind schlecht bezahlt – und formal selbstständig | |
Die Vorstellung scheint gewagt. Juicer sind Mikrojobber, eine relativ neue | |
Form der Arbeit. Mikrojobs werden von Unternehmen als unkomplizierte Arbeit | |
verkauft, für deren Umsetzung nur ein Smartphone, eine App und eine | |
Internetverbindung nötig sind. Oft sind sie miserabel bezahlt. | |
Simon erzählt, er rechne mit einem Stromverbrauch von 30 Cent pro Roller. | |
Sein Lohn schrumpft damit auf 3,70 Euro pro aufgeladenem Gerät, dabei sind | |
Internet- und Benzinkosten noch nicht eingerechnet. Zusätzlich muss das | |
Einkommen aus dem Saftgeschäft versteuert werden. Denn Juicer sind formal | |
selbstständig, sie müssen ein Kleingewerbe anmelden. Lime umgeht mit dieser | |
Methode Arbeitnehmerrechte wie den Mindestlohn. | |
Auf taz-Anfrage erklärt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur | |
Definition von Selbstständigkeit: „Entscheidend ist, ob eine Person | |
weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit | |
leistet.“ Im Sinne Limes ist das Einsammeln, das Aufladen und das zeitlich | |
vorgegebene Ausliefern der Roller also weder weisungsgebunden noch | |
fremdbestimmt. | |
Das Ministerium erklärt weiter, es arbeite derzeit gemeinsam mit der | |
Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft intensiv an der Frage, ob das | |
Arbeits- und Sozialrecht an digitale Formen der Arbeit angepasst werden | |
müsse. Druck könnte in dieser Frage zum Beispiel die Gewerkschaft Verdi | |
machen. Doch dort weiß man nichts über Juicer oder ähnliche | |
Geschäftsfelder. Es sei schlicht niemand in der Gewerkschaft organisiert, | |
der in diesem Bereich arbeite, heißt es auf taz-Nachfrage. | |
Simon schätzt, dass er fünf Roller pro Stunde einsammeln müsste, um | |
profitabel zu arbeiten. 20 Euro Verdienst also vor allen Abzügen und ohne | |
eingerechnete Kosten – für eine Stunde einsammeln, sieben Stunden aufladen | |
und eine Stunde ausliefern. Und wenn Simon die Roller zu spät wieder in der | |
Stadt verteilt, warten Strafen auf ihn, 50 Prozent weniger Bezahlung etwa. | |
Bei sich häufenden Fehlern werde ein Juicer gar aus dem Programm | |
geschmissen, erzählt er. Lime sagt nur: „Die Juicer-Community basiert auf | |
Werten wie Vertrauen und Integrität.“ | |
## Juicen als Nebenverdienst – auch bei anderen Unternehmen? | |
Wer tut sich einen Nebenjob zu solchen Konditionen an? Simon hofft auf die | |
Möglichkeit, auf einfachem Wege viel Geld verdienen zu können. Er setze | |
darauf, dass Lime bald mehr Scooter in der Stadt platziere, erzählt er. | |
Dann seien die Roller für ihn besser erreichbar. Als Angestellter mit einem | |
Nettoverdienst von etwa 2.000 Euro im Monat sieht er im Juicen eine Chance: | |
„Ich arbeite nebenbei, um in Aktien zu investieren und unabhängig von der | |
staatlichen Rente zu sein.“ | |
Auch die Roller der drei Konkurrenten Limes, der Unternehmen Tier, Circ und | |
Voi, müssen von irgendwem aufgeladen werden. Circ, ein Berliner Start-up, | |
erklärt auf taz-Nachfrage: „Wir beschäftigen Fachleute, die sich um unsere | |
E-Tretroller kümmern, und greifen nicht auf ‚Juicer‘ oder selbständige | |
Mitarbeiter zurück.“ Tatsächlich aber wirbt Circ Student*Innen an, die | |
eigenen Roller einzusammeln. Dafür stehen immerhin Transporter zur | |
Verfügung. Aufgeladen werden die Circ-Roller in einem zentralen Lagerhaus | |
in Marienfelde. | |
Auch Tier distanziert sich gegenüber der taz vom Juicer-Modell, sucht | |
online aber sogenannte Ranger, die entladene E-Scooter lokalisieren und in | |
ein zentrales Lager bringen sollen. Dasselbe bei Voi – hier werden Hunter | |
gesucht, keine Juicer oder Ranger. | |
Wann Simon das nächste Mal „juict“, weiß er noch nicht. „Bei 12,5 | |
Kilogramm, die so ein Roller wiegt, ist das schon ein Knochenjob“, sagt er. | |
Nach Angaben von Lime wiegen die Scooter sogar 22 Kilo. Die nötigen | |
Aufladegeräte besitzt er jedenfalls, die bekam er von Lime gestellt – eine | |
großzügige Geste. | |
Aktualisierung 15. Juli: Dieser Text wurde um die exakte Gewichtsangabe der | |
E-Scooter von Lime aktualisiert. Auf Bitte des Protagonisten Simon wurde | |
auch sein Name geändert. | |
9 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] /FAQ-Elektroroller/!5606332/ | |
## AUTOREN | |
Lukas Waschbüsch | |
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