# taz.de -- Drohmail-Affäre „NSU 2.0“: Aus dem Dunkel | |
> Der Berliner Alexander M. soll als „NSU 2.0“ rassistische Drohschreiben | |
> verschickt haben. Beim Prozessauftakt kündigt er seine Aussage an. | |
Bild: Mit dieser Geste betritt der Angeklagte am Mittwoch das Gericht | |
FRANKFURT/MAIN taz | Als Alexander M. am Mittwoch zur Anklagebank im Saal | |
165 des Landgerichts Frankfurt am Main geführt wird, in Funktionsjacke und | |
rotem Sweater, streckt er noch in Handschellen mit beiden Händen den | |
Opferanwältinnen und Fotograf:innen beide Mittelfinger entgegen. Seine | |
Verteidiger schauen weg. Alexander M. macht klar, was er von dieser | |
Verhandlung hält: nichts. | |
Ein Wachtmeister nimmt ihm die Handschellen ab, der Angeklagte atmet schwer | |
unter der Schutzmaske, er scheint aufgeregt. Dann setzt er sich, | |
verschränkt die Arme: Alexander Horst M., 54 Jahre, aus Berlin, | |
alleinstehend, seit Jahren erwerbslos, vielfach vorbestraft. | |
Das also könnte das Gesicht des Hasses sein. Zumindest sieht es die Anklage | |
gegen ihn so. Laut der ist Alexander M. der Verfasser von 116 wüsten | |
Drohschreiben, in denen ein selbsternannter „NSU 2.0“ fast drei Jahre lang | |
zumeist Engagierte gegen Rassismus quer durch die Republik beschimpfte. Die | |
E-Mails, SMS und Faxe erreichten die NSU-Opfer-Anwält:innen [1][Seda | |
Başay-Yıldız] und Mehmet Daimagüler, die Comedians İdil Baydar und [2][Jan | |
Böhmermann], die Politiker:innen Janine Wissler, Martina Renner (beide | |
Linke), Ricarda Lang (Grüne) und die Autor:innen Hengameh Yaghoobifarah | |
und Deniz Yücel. | |
Als „Scheißtürken“, „Volksschädling“ oder „Abfallprodukte“ wurde… | |
Angeschriebenen von dem Verfasser beschimpft, der sich „SS | |
Obersturmbannführer“ nannte. Ihnen wurde angedroht, sie würden „mit | |
barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“, ihnen würde der „Kopf | |
abgerissen“. Verschickt wurden auch Bombendrohungen, an Gerichte oder die | |
Walter-Lübcke-Schule in Hessen. Im Fall von Seda Başay-Yıldız wurde am Ende | |
auch ein öffentlicher Aufruf zu ihrer Tötung ins Internet gestellt, samt | |
Nennung ihrer Adresse. Dazu hieß es immer wieder: „Heil Hitler! NSU 2.0 Der | |
Führer“. | |
All dies endete erst, als am 3. Mai 2021 Alexander M. in seiner Wohnung im | |
Berliner Stadtteil Wedding [3][festgenommen wurde] – als Beschuldigter für | |
die „NSU 2.0“-Drohserie. | |
## Vorwürfe zurückgewiesen | |
Am Mittwoch hat der Prozess gegen Alexander M. begonnen, in dem Frankfurter | |
Gerichtssaal, in dem auch der Mord an Walter Lübcke verhandelt wurde. | |
Alexander M. soll schon nach seiner Festnahme die Vorwürfe zurückgewiesen | |
haben. Später schrieb er an mehrere Gerichte und beschwerte sich über seine | |
Inhaftierung. Eine Vernehmung aber lehnte er ab. | |
Im Saal 165 spricht Alexander M. am Morgen zumindest kurz. Von Richterin | |
Corinna Distler nach seinen Personalien gefragt, gibt er knapp seinen Namen | |
und Geburtsdatum an, die Adresse verweigert er. „Ich gebe keine privaten | |
Daten in öffentlicher Sitzung an“, blafft er. Es seien ja auch Journalisten | |
da. „Steht ja in der Akte drinne.“ | |
Fast drei Stunden lang verlesen die Staatsanwälte Sinan Akdogan und | |
Patricia Neudeck die Anklage. Sie zitieren Drohschreiben um Drohschreiben, | |
Schmähung um Schmähung. Es sind unflätigste rassistische Beschimpfungen, | |
teils im NS-Jargon, mit expliziten Todesdrohungen. M. habe sich der | |
Volksverhetzung, der Störung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen | |
Aufforderung zu Straftaten schuldig gemacht, sagen die Ankläger. Alexander | |
M. folgt mit verschränkten Armen, es scheint ihn wenig zu interessieren. | |
Zwischendrin blättert er in einem Gesetzbuch, bittet um eine Pinkelpause. | |
Die NSU-2.0-Drohserie geht über Alexander M. hinaus. Bis heute ist sie auch | |
eine Polizeiaffäre. Im Fokus steht dabei auch ein Mann, der nicht angeklagt | |
ist: [4][Polizist Johannes S]. | |
## Polizeibeamte involviert? | |
Auffällig war früh, dass etliche „NSU 2.0“-Schreiben auch private Daten | |
der Angeschriebenen enthielten – Adressen, Handynummern, Namen von | |
Angehörigen. In den Fällen von Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine | |
Wissler waren die Daten von Polizeicomputern abgerufen worden, auf Revieren | |
in Frankfurt am Main, Wiesbaden und Berlin. Das machte die Sache zu einem | |
Politikum. Der ungeheure Verdacht: [5][Steckten Polizeibeamte dahinter]? | |
Der Fall belastete die hessische Polizei schwer. Ein Sonderermittler wurde | |
eingesetzt, Polizeipräsident Udo Münch trat zurück. Er beschäftigte den | |
Bundestag, den hessischen Landtag, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier | |
reiste an. | |
Bis Alexander M. verhaftet wurde. Und die Staatsanwaltschaft bekannt gab, | |
dass dieser als Einzeltäter anzusehen sei: Er habe wohl durch fingierte | |
Anrufe bei der Polizei, bei denen er sich als Behördenangestellter ausgab, | |
die Privatdaten erlangt. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) erklärte, | |
die Opfer und Polizei könnten „[6][aufatmen]“, die Gewerkschaft der Polizei | |
forderte eine Entschuldigung für die „haltlosen“ Vorwürfe gegen die | |
Polizei. | |
Aber Seda Başay-Yıldız, die in dem Prozess Nebenklägerin ist, und andere | |
Betroffene haben weiter Zweifel. Im Gericht ist sie am Mittwoch nicht, sie | |
schickt eine Anwältin. Sie will dem Angeklagten keine Genugtuung gönnen. | |
Nach den Drohungen musste Başay-Yıldız umziehen, ihre neue Wohnung | |
absichern, sie stand unter Polizeischutz. Auch die Politikerin Martina | |
Renner ist Nebenklägerin und schickte eine Anwältin. | |
## Betroffene zweifeln | |
Schon im Vorfeld aber sagte Başay-Yıldız der taz, für sie sei bis heute | |
nicht ausgeräumt, dass Polizeibeamte an der Drohserie beteiligt waren. „Ich | |
glaube, dass Polizisten zumindest an dem ersten Drohfax an mich aktiv | |
mitgewirkt haben“, sagt Başay-Yıldız. „Dass die Beamten ausgetrickst | |
wurden, ist eine Behauptung des vom Innenminister eingesetzten | |
Sonderermittlers. Und die ist in meinem Fall auch noch ziemlich | |
realitätsfern.“ | |
Angeklagt aber ist nur Alexander M. Das Bild, dass die Ermittler von ihm | |
zeichnen, ist das eines querulantischen Einzelgängers. Geboren wurde er in | |
Ostberlin, wuchs bei seiner Mutter auf, die Schule verlief holprig, er | |
machte eine Ausbildung zum Informatiker. Zuletzt lebte M. allein und seit | |
Jahren erwerbslos in einer Einzimmerwohnung im Berliner Wedding, bei seiner | |
Festnahme notierten Beamte einen vermüllten Zustand. Kontakt soll er fast | |
nur zu seiner Mutter gehabt haben. Vor Gericht gab er schon vor Jahren an, | |
er sei ein Einzelgänger, der den ganzen Tag vorm Rechner sitze. | |
Der 54-Jährige ist vielfach vorbestraft, saß bereits mehrere Jahre in Haft. | |
Verurteilt wurde er etwa wegen Beleidigung, Bedrohung, Körperverletzung, | |
Hehlerei oder Amtsanmaßung. Ein psychiatrisches Gutachten von 2005 | |
bescheinigte ihm eine Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, | |
dissozialen Zügen. Und M. kennt sich laut Ermittlern gut mit der NS-Zeit | |
aus, aus familiärer Erfahrung: Sein Vater soll Mitglied des | |
SS-Totenkopfverbandes Thüringen gewesen sein, damals am KZ Buchenwald | |
stationiert. Die Anklage sieht auch das als Indiz dafür, dass Alexander M. | |
der selbsternannte „SS Obersturmbannführer“ der NSU-2.0-Schreiben ist. | |
Die große Lücke in der Anklage aber bleibt: Wie soll Alexander M. an die | |
Polizeidaten gelangt sein? Gleich das erste Drohschreiben an Seda | |
Başay-Yıldız wirft Fragen auf. Dieses ging am 2. August 2018 um 15.41 Uhr | |
als Onlinefax bei der Kanzlei von Başay-Yıldız ein, verschlüsselt versendet | |
über einen Server des Tor-Netzwerks. Die Frankfurterin war damals nicht nur | |
als NSU-Opfer-Anwältin bekannt, sondern auch für die Vertretung eines | |
Islamisten. „Miese Türkensau“, beschimpfte sie der Absender, der sich „U… | |
Böhnhardt“ nannte, nach dem NSU-Terroristen. „Du machst Deutschland nicht | |
fertig. Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du | |
Schwein.“ Es folgte die Nennung von Başay-Yıldız’ Privatadresse und der | |
Name ihrer damals zweijährigen Tochter, beide öffentlich nicht bekannt. Und | |
die Drohung, ihre Tochter zu „schlachten“. Am Ende das Kürzel: „NSU 2.0�… | |
Am gleichen Abend erschien auf dem linken Indymedia-Onlineportal ein | |
Kommentar zu Başay-Yıldız, auch dort mit ihrer Adresse und dem Aufruf, ihr | |
„jede Menge Ärger“ zu machen. | |
## Neue Qualität | |
Başay-Yıldız war Beleidigungen gewohnt. Das aber war neu – sie informierte | |
das hessische Landeskriminalamt. Was sie da noch nicht wusste: Ihre | |
Privatdaten waren, rund anderthalb Stunden bevor sie das Drohfax erhielt, | |
auf einem Dienstrechner im 1. Polizeirevier Frankfurt am Main abgerufen | |
worden. Und das wesentlich akribischer als bisher bekannt, wie die taz | |
zuletzt offenlegte: Mit insgesamt 17 Abfragen wurde nach Başay-Yıldız in | |
drei Datenbanken gesucht – nach ihrer Adresse, den dort gemeldeten Personen | |
und deren Geburtsdaten oder dem Auftauchen der 46-Jährigen als Beschuldigte | |
oder Geschädigte von Straftaten. Sechs Minuten lang. | |
Başay-Yıldız ist überzeugt: „Eine solch detaillierte Abfrage ist auf | |
telefonischen Zuruf sowohl faktisch als auch zeitlich ausgeschlossen. Das | |
wirkt vielmehr, als hätten die Beamten all ihre Daten durchsucht, um | |
gezielt etwas über mich herauszufinden.“ | |
Tatsächlich fiel der Verdacht der Ermittler, nachdem diese auf die | |
Datenabfrage im 1. Revier in Frankfurt stießen, zuerst auf Polizeibeamte. | |
An dem Rechner, an dem die Abfrage stattfand, war eine junge Beamtin | |
eingeloggt, Miriam D. Sie soll später angegeben haben, sich an die Abfrage | |
nicht zu erinnern – sie aber auch nicht ausschließen zu können. Das | |
Problem: Der Dienstrechner war über Stunden entsperrt, mehrere Beamte | |
konnten ihn benutzen, ein Zettel mit Passwort lag daneben. Wer letztlich | |
die Abfrage zu Başay-Yıldız tätigte, konnten die Ermittler bis heute nicht | |
herausfinden. Auch die fünf weiteren Polizisten, die damals im Revier im | |
Dienst waren, sollen alle behauptet haben, sich an den Tagesverlauf und die | |
Abfrage nicht erinnern zu können. | |
Was die Ermittler aber entdeckten, war eine Whatsapp-Gruppe namens | |
„Itiotentreff“ auf dem Handy von Miriam D. Sechs Beamte tauschten sich dort | |
aus, inklusive rechtsextremer Sprüche und Hitlerbilder. Die | |
Staatsanwaltschaft bewertete Dutzende Beiträge als strafrechtlich relevant. | |
Und auch einer der Teilnehmer der Chatgruppe rückte nun in den Verdacht: | |
Polizist Johannes S. Er fiel im Chat mit derben Beiträgen auf. Er war am | |
Tag des ersten Drohfax an Başay-Yıldız im Dienst auf dem Frankfurter | |
Revier. Er soll sich mit Tor-Verschlüsselung auskennen, einen Vortrag | |
darüber bei der Polizei gehalten haben. Und er soll im Internet nach | |
„Yildiz“ gesucht haben. | |
## Verdächtiger entlastet | |
Johannes S. wurde daraufhin überwacht – und vermeintlich entlastet. Weil | |
festgestellt wurde, dass er beim Versand eines späteren „NSU | |
2.0“-Schreibens anderweitig beschäftigt war. Offen aber bleibt, ob das | |
Schreiben nicht auch zeitversetzt verschickt worden sein könnte. Sein | |
Alibi, wonach er zum Zeitpunkt des ersten Drohfax an Başay-Yıldız auswärts | |
auf einem Einsatz war, stimmt wohl nicht: Ermittler rekonstruierten, dass | |
der Einsatz erst später begann. | |
Die „NSU 2.0“-Serie ging, nach einer Pause, ab Dezember 2018 erst richtig | |
los. In einem weiteren Schreiben an Başay-Yıldız wurden auch ihre Eltern | |
namentlich bedroht, auch sie öffentlich nicht bekannt. In einem anderen | |
stand Başay-Yıldız’ neue Adresse – obwohl diese mit einem Sperrvermerk a… | |
geheim eingestuft war. Und auch weitere Personen erhielten nun die | |
Schreiben, meist nachdem Medien über sie berichtet hatten. Wie „getriggert“ | |
habe der Verfasser auf die Berichte reagiert, notierten Ermittler. | |
Und nun kamen die Schreiben alle von derselben E-Mail-Adresse des | |
russischen Anbieters Yandex, verschickt nach Tor-verschlüsselten Logins. Zu | |
den privaten Daten stellten die Ermittler fest, dass sich einige zwar mit | |
längeren Suchen im Internet finden ließen – in zehn Fällen aber nicht. Und | |
in drei davon – Başay-Yıldız, Baydar, Wissler – gab es eben zuvor die | |
Abfragen auf Polizeirevieren. Einen dienstlichen Grund dafür fanden die | |
Ermittler nicht. | |
Aber der Drohschreiber blieb ungefasst. Auch eine eigens von den Ermittlern | |
aufgesetzte, fingierte Internetseite, die einen Tor-Zugriff entschlüsselte | |
hätte, blieb fruchtlos. Ebenso wie ein Rechtshilfeersuchen an Yandex, das | |
erst nach Monaten beantwortet wurde. Bis ein Schach-Onlineportal den | |
Durchbruch brachte. | |
## Die Festnahme | |
Zuvor schon hatten die Ermittler auf dem rechtsextremen Onlineportal | |
PI-News zwei Nutzer namens „Obersimulant“ und „Sudel-Ede“ entdeckt, die | |
ähnliche Formulierungen wie der „NSU 2.0“-Schreiber verwendeten – | |
Sprachgutachten bestätigten das. Nun fanden sie im Frühjahr 2021 die | |
gleichen Usernamen auch auf einem Schachportal wieder, die dort teils | |
rassistisch ausfällig wurden. Von einem dieser Accounts führten eine | |
IP-Adresse und Bestandsdaten schließlich zu Alexander M. – er hatte die | |
Schachseite nicht Tor-verschlüsselt genutzt. | |
Ab Mitte April 2021 wurde Alexander M. observiert, am 3. Mai schließlich | |
festgenommen – bewusst abends, als der 54-Jährige an seinem eingeschalteten | |
PC saß und diesen nicht mehr sperren konnte. M. soll noch mit einer | |
Schreckschusswaffe die Beamten bedroht haben. Auch für die Bedrohung muss | |
er sich nun verantworten. Und für zwei verbotene Würgehölzer und | |
Kinderpornografie, die in seiner Wohnung gefunden wurden. | |
Dass Alexander M. die Vorwürfe bestreitet, beunruhigt die Ankläger nicht. | |
Seine Beschwerden gegen seine Inhaftierungen wiesen Gerichte bisher ab. Und | |
die Ankläger haben tatsächlich einiges gegen Alexander M. in der Hand. | |
Da sind seine einschlägigen Vorstrafen. In einem Berliner Sozialamt soll er | |
schon vor Jahren einem Mann mit einer Gaspistole ins Gesicht geschossen, in | |
einem Arbeitsamt einen Mitarbeiter mit Reizgas besprüht haben. Zudem soll | |
er andere mit Drohanrufen überzogen haben. So etwa den Leiter der JVA | |
Moabit, den er laut eines Gerichtsurteils als „perverses Schwein“ | |
beschimpfte und drohte, ihn umzubringen. | |
## Schwerwiegende Indizien | |
Schwerwiegender aber: Auf M.s Rechner fanden sich mehrere | |
NSU-2.0-Drohschreiben oder Fragmente dazu. Dazu konnten die Ermittler | |
nachweisen, dass Alexander M. Zugang zum Yandex-Postfach hatte, von dem aus | |
die Schreiben verschickt wurden. Auf seinem PC fanden sich auch Log-ins zu | |
PI-News und dem Schachportal – und Suchanfragen zu den Bedrohten, vor | |
allem Başay-Yıldız. | |
Die Anklage verweist darauf, dass sich M. bereits in der Vergangenheit bei | |
einer Bank als Polizist ausgegeben und die Daten eines Kunden angefordert | |
habe. Dem Berliner Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten | |
schrieb er 2019, wie leicht es sei, sich als Mitarbeiter auszugeben und so | |
bei Ämtern an Daten zu kommen. Auf seinem PC fand sich ein Hinweis zu einem | |
Anruf bei einer Polizeistation, bei dem er sich als Staatsanwalt ausgegeben | |
haben soll. | |
Auch die taz erhielt im August 2018 – kurz nach dem ersten Drohschreiben an | |
Başay-Yıldız – zwei Anrufe, die nun in Ermittlungspapieren auftauchen. Der | |
Anrufer gab sich als Polizist aus dem Wedding aus, der vom | |
taz-Geschäftsführer und der Chefredakteurin die Handynummer der | |
Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah verlangte – was abgelehnt wurde. | |
Darauf drohte der Anrufer: „Ihrer Kollegin blüht noch einiges.“ Schon kurz | |
zuvor war auch Yaghoobifarahs Vater von einem Unbekannten angerufen worden, | |
der nach der Handynummer und Adresse fragte. | |
Für die Ermittler sind dies Indizien genug, dass Alexander M. so auch bei | |
den Polizeiwachen vorging. „Der anfängliche Verdacht, Polizeibeamte könnten | |
in strafrechtlich relevanter Weise an der Datenabfrage beteiligt gewesen | |
sein, hat sich nicht bestätigt“, erklärt die Frankfurter | |
Staatsanwaltschaft. | |
## Viele Fragen offen | |
Für Seda Başay-Yıldız ist das keineswegs so klar. Sie verweist darauf, dass | |
auch im Nachhinein keiner der befragten Frankfurter Polizeibeamten von | |
solch fingierten Anrufen berichtet hat. Das Vorgehen passe auch nicht zu | |
der sehr ausführlichen Suche zu ihrem Namen mit gleich 17 Abfragen in drei | |
Datenbanken. „So reagiert man doch nicht auf einen telefonischen Zuruf. | |
Noch dazu von einer Person, die man nicht kennt“, sagt Başay-Yıldız. | |
Für sie bleibt auch ungeklärt, wer am Abend des ersten Datenabrufs den | |
Indymedia-Kommentar zu ihr veröffentlichte – in der Anklage gegen Alexander | |
M. taucht er nicht auf. Wer war es dann? Unerklärlich ist für Başay-Yıldız | |
auch, wie der Drohschreiber an ihre neue, geheime Adresse kam. Auch diese | |
soll am Telefon weitergegeben worden sein – trotz des damaligen | |
Sperrvermerks und längst bundesweiten Wirbels um den Fall? „Das passt alles | |
nicht zusammen.“ | |
Die Anwältin ist mit ihren Zweifeln nicht allein. In einer Erklärung kurz | |
vor Prozessbeginn nennen es auch die ebenfalls bedrohten İdil Baydar, | |
Hengameh Yaghoobifarah und die Linken-Politikerinnen Wissler, Renner und | |
Anne Helm einen „Skandal“, dass sich die Ermittlungen zuletzt auf einen | |
Einzeltäter konzentrierten. „Der NSU-2.0-Komplex ist mit der Festnahme des | |
Angeklagten nicht aufgeklärt.“ Vielmehr gebe es Hinweise auf eine | |
„mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen“, zu denen | |
„nachdrücklich“ ermittelt werde müsse. | |
Tatsächlich scheint sich auch die Staatsanwaltschaft Frankfurt mit ihrer | |
Einzeltäterthese nicht sicher zu sein. Sie bestätigt der taz, dass | |
zumindest gegen Johannes S. und Miriam D. weiterhin Verfahren wegen | |
Geheimnisverrats laufen, zu der Datenweitergabe zu Başay-Yıldız. Bislang | |
hätten die Ermittlungen aber keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben, sagt | |
eine Sprecherin. Man wolle noch abwarten, ob der Prozess gegen Alexander M. | |
neue Erkenntnisse bringe. | |
## Ermittlungen laufen weiter | |
Gegen Johannes S. und Miriam D. laufen auch immer noch Ermittlungen wegen | |
der „Itiotentreff“-Chatgruppe, ebenso gegen die vier weiteren beteiligten | |
Polizisten. Einer verließ inzwischen freiwillig den Polizeidienst. Die | |
anderen fünf sind bis heute – seit dreieinhalb Jahren – suspendiert. | |
Başay-Yıldız will darauf drängen, dass die Frage, ob und wie die Polizisten | |
an den Drohungen gegen sie beteiligt waren, im Prozess aufgeklärt wird. | |
„Die Drohungen des Angeklagten sind ein Problem. Das größere Problem aber | |
bleibt, dass er oder andere dafür interne Polizeidaten von mir verwenden | |
konnten, die zielgerichtet abgerufen wurden. Das gibt dem Ganzen eine | |
völlig andere Dimension“, sagt Başay-Yıldız. | |
Auch Alexander M. setzt offenbar Hoffnungen auf den Prozess. Nach seiner | |
Verhaftung soll er angekündigt haben, im Prozess zu beweisen, dass er | |
unschuldig sei. Nach der Anklageverlesung am Mittwoch legt er sich bereits | |
eine Erklärung bereit. Ob er denn in diesem Prozess aussagen wolle, fragt | |
Richterin Distler. „Ja, es kommt eine umfangreiche Einlassung von mir.“ Er | |
wolle sofort beginnen. Die Anklage könne er „so nicht stehen lassen“. Sein | |
Verteidiger aber fällt M. ins Wort, dies wolle man erst am zweiten | |
Prozesstag am Donnerstag tun. Alexander M. widerspricht: „Ich möchte es | |
gerne jetzt verlesen. Ich bin hochmotiviert.“ Doch auch Richterin Distler | |
will die Aussage lieber am Folgetag hören. | |
Der Donnerstag war bereits für eine mögliche Aussage von Alexander M. | |
reserviert, er wird viel Zeit bekommen. Und offenbar will sich der | |
54-Jährige dabei auch nicht von seinen Anwälten aufhalten lassen. | |
Vielleicht kann er dann beantworten, wie er an die Polizeidaten kam. Und, | |
warum seit seiner Festnahme keine „NSU 2.0“-Drohschreiben von der | |
Yandex-Adresse mehr auftauchten. | |
16 Feb 2022 | |
## LINKS | |
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[4] /taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468 | |
[5] /Vor-Prozessstart-zu-NSU-20-Drohserie/!5834911 | |
[6] /Festnahme-eines-NSU-20-Verdaechtigen/!5769933 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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