| # taz.de -- Deutsches Wahljahr 2021: Enttäuschte wählen weniger | |
| > Solange sich soziale Ungleichheit in den Parlamenten widerspiegelt, wird | |
| > es Misstrauen gegen die Demokratie geben. | |
| Populistische Parteien sind in vielen demokratischen Ländern erfolgreich. | |
| Dies ist schon lange in [1][Österreich] oder [2][Frankreich] der Fall, aber | |
| inzwischen auch in [3][Spanien], Portugal oder Deutschland, die lange als | |
| immun galten. Für diese Entwicklung werden besonders oft zwei | |
| Erklärungsangebote diskutiert: die Modernisierungs- und die | |
| Globalisierungsthese. | |
| Die erste These besagt, dass Gesellschaften mit der Zeit liberaler werden, | |
| also toleranter gegenüber alternativen Lebensentwürfen, sexuellen | |
| Identitäten und kultureller Vielfalt. Dagegen regt sich Widerstand. Die | |
| Globalisierungsthese hebt die zunehmende Vernetzung der Weltwirtschaft und | |
| den daraus resultierenden Wettbewerbsdruck hervor. Diese beiden Großtrends | |
| erzeugen eine Gruppe von Verlier:innen, deren Lebensentwürfe und | |
| Qualifikationen entwertet werden. | |
| Ihnen verleihen, so die verbreitete Annahme, populistische Parteien eine | |
| Stimme, weil sie nostalgisch eine bessere Vergangenheit beschwören: | |
| [4][Make America Great Again]. Beide Thesen erklären den Populismus | |
| weitgehend politikfrei durch unaufhaltsame, langfristige Trends. | |
| Gesellschaftlicher Wertewandel wird durch Faktoren wie Bildungsexpansion | |
| oder Urbanisierung angetrieben und wirtschaftliche Globalisierung ist | |
| Ergebnis veränderter Technologien, die grenzüberschreitende Investitionen | |
| erleichtern. | |
| Populisten wie Ex-US-Präsident Donald Trump beharren dagegen darauf, dass | |
| diese Prozesse gestaltbar sind und ihren Konsequenzen unterschiedlich | |
| begegnet werden kann. Wer gewinnt und wer verliert, hat mit politischen | |
| Entscheidungen zu tun, die stärker die Anliegen derjenigen beachten, denen | |
| es ohnehin besser geht. Seine Kraft bezieht der Populismus auch daraus, | |
| dass diese Beobachtung nicht ganz falsch ist: Demokratie verspricht | |
| politische Gleichheit, doch sie löst dieses Versprechen nur unvollständig | |
| ein. | |
| ## Insgesamt steigt die Wahlbeteiligung | |
| Rein rechtlich betrachtet ist die Demokratie heute vielerorts egalitärer | |
| als in der Vergangenheit. Mehr Menschen als früher haben das Wahlrecht, und | |
| es wird darüber diskutiert, wie diese Rechte auf noch ausgeschlossene | |
| Gruppen ausgeweitet werden können – beispielsweise, indem das Wahlalter | |
| abgesenkt wird oder die Verbindung zwischen Wahlrecht und | |
| Staatsbürgerschaft gelockert wird. | |
| Fragt man jedoch, ob diese rechtliche Gleichheit zu gleichen | |
| Einflusschancen aller führt, fällt die Antwort weniger optimistisch aus. | |
| Eine Fülle politikwissenschaftlicher Forschungen zum politischen Engagement | |
| und zur politischen Repräsentation geben den Beleg dafür. Nachdem die | |
| Wahlbeteiligung über Jahre stetig weniger wurde, ist sie in den letzten | |
| Jahren wieder leicht gestiegen. Zwar wird das Niveau der 1970er Jahre noch | |
| nicht erreicht, doch im internationalen Vergleich liegt Deutschland im | |
| soliden Mittelfeld. | |
| Hinter der durchschnittlichen Wahlbeteiligung verbergen sich jedoch sehr | |
| große Unterschiede. So gaben bei der Landtagswahl 2016 in | |
| Stuttgart-Zuffenhausen, wo relativ viele [5][Hartz-IV-Empfänger] wohnen, 63 | |
| Prozent die Stimme ab. In Degerloch, wo weit weniger Hartz-IV-Empfänger | |
| leben, waren es hingegen 80 Prozent. In Städten wie Köln oder Hamburg, für | |
| die genauere kleinräumige Daten vorliegen, sind die Unterschiede noch | |
| deutlich größer. | |
| Bei der [6][Bundestagswahl 2017] lagen mehr als 45 Prozentpunkte zwischen | |
| dem Stadtteil mit der höchsten und dem mit der niedrigsten Wahlbeteiligung | |
| – und nichts spricht dafür, dass sich an dieser Kluft im Superwahljahr 2021 | |
| etwas ändern wird. Nun besteht in Deutschland keine Wahlpflicht, und warum | |
| sollte es uns irritieren, wenn Menschen freiwillig auf das Recht zu wählen | |
| verzichten? Zwei Gründe sprechen dafür. | |
| ## Das Umfeld beeinflusst das Wahlverhalten | |
| Zum einen entscheiden sich Menschen nicht völlig unabhängig von ihrem | |
| sozialen Umfeld für oder gegen ihre Stimmabgabe bei den Wahlen. Wer mit | |
| Menschen spricht, sei es in der Familie, im Freundeskreis oder in der | |
| Nachbarschaft, für die es selbstverständlich ist, die Stimme am Wahltag | |
| abzugeben, wird dies auch selbst eher tun als jemand, der oder die vor | |
| allem mit anderen Nichtwähler:innen zu tun hat. | |
| Wer auf dem Weg zur Bäckerei von Bekannten gefragt wird, ob sie oder er | |
| schon gewählt hat, wird zumindest an die Wahl erinnert. Zum Zweiten drückt | |
| nicht zu wählen keineswegs Zufriedenheit aus, wie man in der Vergangenheit | |
| annahm. Im Gegenteil: Wer von der Politik enttäuscht ist, bleibt häufiger | |
| zu Hause oder wählt Protestparteien. Menschen, die sich politisch nicht | |
| beteiligten, haben wenig Hoffnung, dass sich durch eine Wahl etwas ändern | |
| wird, wie die Auswertung von Umfragen zeigt. | |
| Wahlen sind natürlich nur eine Form des politischen Engagements. Aber auch | |
| bei Demonstrationen, Petitionen, der Mitarbeit in Bürgerbewegungen, | |
| Verbänden oder Parteien zeigt sich ein ähnliches Muster: Wer über mehr Geld | |
| verfügt und einen höheren Bildungsabschluss hat beteiligt sich häufiger. | |
| Wenn wir beispielsweise die Bildungsabschlüsse betrachten, so unterscheiden | |
| sich schon die Parteimitglieder vom Rest der Bevölkerung. | |
| Noch größer wird der Abstand, wenn man auf die Mandatsträger:innen | |
| oder gar auf Minister:innen auf Landes- und Bundesebene blickt. Mehr | |
| als 80 Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben studiert. In der | |
| Bevölkerung liegt der Anteil bei etwa 20 Prozent. Beamte, Anwält:innen | |
| oder Unternehmer:innen sind im Parlament überrepräsentiert, | |
| Arbeiter:innen jedoch deutlich seltener als in der Bevölkerung dort | |
| anzutreffen. | |
| ## Arme lassen sich nicht aufstellen | |
| Während die numerische Unterrepräsentation von Frauen zu Recht diskutiert | |
| wird, erregt die fast vollständige Abwesenheit bestimmter Berufs- und | |
| Ausbildungsgruppen die Gemüter nicht. Schon wie Kandidat:innen | |
| ausgewählt werden, bevorzugt diejenigen, die mehr Zeit und mehr Geld haben | |
| – und die denen ähnlich sind, die schon politische Posten innehaben. | |
| Die Bereitschaft zur Kandidatur, sei es auf lokaler, regionaler oder | |
| Bundesebene, hängt auch davon ab, dazu ermutigt zu werden. Doch die schon | |
| Aktiven suchen eher nach Menschen aus ihrem eigenen sozialen Umfeld und | |
| reproduzieren dadurch bestehende Ungleichheiten. Schon der innerparteiliche | |
| Wahlkampf erfordert einen hohen Aufwand, da zahlreiche Parteigremien | |
| besucht und Telefonate geführt werden müssen, um für sich selbst zu werben. | |
| Wer ungünstige Arbeitszeiten hat, sich um Kinder oder Pflegebedürftige | |
| kümmern muss, den Wahlkampf zeitlich nicht meistern kann oder nicht über | |
| ausreichend finanzielle Möglichkeiten verfügt, ist hier deutlich im | |
| Nachteil. Wenig überraschend, werden Männer mit Studienabschluss und aus | |
| Berufen mit höherer Zeitautonomie häufiger als andere Gruppen als | |
| Direktkandidaten nominiert. | |
| Diese Unwucht in der Zusammensetzung von Parlamenten, so zeigen | |
| [7][Forschungsergebnisse der letzten Jahre], hat Folgen für die Debatten | |
| und Entscheidungen. In der Summe stimmen die politischen Einstellungen der | |
| Abgeordneten stärker mit jenen Gruppen überein, die ihnen in sozialer | |
| Hinsicht ähnlicher sind. Dagegen teilen sie seltener die politischen | |
| Einstellungen von ärmeren oder gering gebildeten Bürger:innen, | |
| beispielsweise in der Migrationspolitik oder der Sozial- und Steuerpolitik. | |
| Zwar ist der Deutsche Bundestag kein Parlament der Millionär:innen, | |
| trotzdem reflektieren seine Entscheidungen die politischen Präferenzen von | |
| einkommensstarken Gruppen häufiger als die der Geringerverdienenden. Ein | |
| vermeintlich abweichendes Beispiel, wie die Einführung des Mindestlohns, | |
| widerspricht dieser allgemeinen Beobachtung nicht, denn sie wurde von Arm | |
| wie Reich mit großer Mehrheit befürwortet. | |
| ## Politik der Bessergestellten für Bessergestellte | |
| Doch wenn die politischen Überzeugungen sozialer Gruppen voneinander | |
| abweichen, folgt die Politik viel häufiger den Bessergestellten – wie sich | |
| beispielsweise bei dem Verzicht zeigt, die Vermögenssteuer wieder | |
| einzuführen. Wer mehr hat, wird besser repräsentiert. Wie die Demokratie | |
| tatsächlich funktioniert, weicht, so zeigen zahlreiche | |
| [8][Forschungsarbeiten], vom abstrakten Ideal politischer Gleichheit ab. | |
| Und diese Ungleichheit in der Möglichkeit, mit den eigenen Anliegen Gehör | |
| zu finden, wird auch so wahrgenommen. Werden Menschen gefragt, ob sie | |
| politische Entscheidungen beeinflussen können oder ob das politische System | |
| Menschen wie ihnen selbst eine Mitsprachemöglichkeit bei dem, was die | |
| Regierung tut, einräumt, fallen die Reaktionen negativ aus. | |
| Gleichzeitig gibt es ein klares Muster, welche Gruppen sich besonders | |
| machtlos fühlen: Menschen mit geringerer Qualifikation, weniger Geld oder | |
| niedrigem Bildungsabschluss. Aus Sicht der weniger Privilegierten ist | |
| Politik etwas, das fern von ihnen stattfindet, wo die eigenen Anliegen | |
| nicht beachtet werden und das sich dem eigenen Einfluss entzieht. Wird die | |
| Politik als unzugänglich wahrgenommen, übersetzt sich dies häufig in | |
| politische Apathie – die Enttäuschten arbeiten nicht in Parteien mit, | |
| schreiben den Abgeordneten keine E-Mails und bleiben am Wahltag häufig zu | |
| Hause. | |
| Ein kleiner Anteil der Enttäuschten nutzt jedoch Wahlen, um gegen die | |
| wahrgenommene Missachtung zu protestieren, und stimmt für populistische | |
| Parteien. Zwischen dem Gefühl, keinen Einfluss zu haben, und der AfD-Wahl | |
| besteht ein enger Zusammenhang. Das heißt natürlich nicht, dass alle | |
| Wähler:innen rechtspopulistischer Parteien die Ideen dieser Parteien | |
| ablehnen. Zumindest ein Teil wählt sie jedoch vor allem deshalb, weil er | |
| sich durch andere Parteien nicht vertreten fühlt. | |
| Parlamente müssen kein perfektes Abbild der Gesellschaft sein, aber wenn zu | |
| viele Menschen dauerhaft schlecht vertreten werden, muss es niemanden | |
| wundern, dass das Vertrauen in die Demokratie schwindet. | |
| 7 Mar 2021 | |
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