| # taz.de -- Die deutsche Parteienlandschaft: Im Polittheaterstadl | |
| > Der Parteienapparat soll junge Menschen einsaugen und sie als glatt | |
| > geschliffene Apparatschiks ausspucken, so unser Autor. Doch Aufgeben | |
| > zählt nicht. | |
| Bild: SPDler ganz nah: Sigmar Gabriel stößt mit Steffen-Claudio Lemme 2014 in… | |
| Es war im Sommer 2014, als der damalige [1][SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel] | |
| Weimar besuchte und um ein Treffen mit der Parteibasis bat. Zum | |
| Kennenlernen, nur für die Mitglieder. Wir würden gemeinsam mit dem | |
| leibhaftigen Vizekanzler ein WM-Spiel schauen dürfen. Und so versammeln | |
| sich an einem frühen Abend etwa 30 Ehrenamtler, Mitarbeiter und Abgeordnete | |
| in einem geräumigen Parteiladen. Junge und alte Frauen und Männer begrüßen | |
| sich, mal ehrlich erfreut, mal aufgesetzt freundlich. Sie nippen an Gläsern | |
| und Flaschen, kauen Häppchen und warten auf die Erscheinung des Gabriel. | |
| Kurz vor Anpfiff kommt er endlich durch die Glastür, setzt sich an den | |
| Tresen und lässt sich ein Bier geben. Innerhalb von Sekunden ist er von | |
| einem Dutzend balzender Funktionäre und Mandatsträger umringt. Darunter ein | |
| notorisch glückloser Landesminister, der nicht eingeladen und trotzdem | |
| erschienen ist, die Miene panikverzerrt, weil es ihm nicht gelingen will, | |
| den Chef in ein Gespräch zu verwickeln. | |
| Gabriel ignoriert das Gedränge um sich herum und schaut das Spiel, die | |
| einfachen Genossen halten Abstand und schämen sich für das Gewinsel der | |
| Funktionäre. Altbürgermeister Fritz blickt seine Frau Uta fragend an, sie | |
| nimmt ihre Zigaretten und die zwei gehen zum Gucken in die Kneipe ums Eck. | |
| Die Funktionäre bleiben und himmeln weiter an. | |
| Wo wird einem gelehrt, sich so zu benehmen? Zum Beispiel in der | |
| Parteijugend. Ein SPD-Kreisverband diskutiert im Herbst 2017 auf einer | |
| Versammlung die Groko-Frage. Ein führender Vertreter der Jusos und | |
| Mitarbeiter eines Abgeordneten plädiert engagiert für die Fortsetzung der | |
| Koalition mit der CDU. Groko ist Selbstmord, schimpft er hinterher in der | |
| Kneipe, der Parteivorstand müsse endgültig den Verstand verloren haben. Und | |
| fügt hinzu, das könne er natürlich nicht offen sagen, schließlich hinge | |
| sein Job am Mandat seines Chefs und der fürchte, bei Neuwahlen | |
| rauszufliegen. | |
| ## Typisches Produkt des SPD-Nachwuchsleistungszentrums | |
| Als die Groko beschlossene Sache ist und es auf die Landtagswahlen zugeht, | |
| sagt er mir beim Bier, dass er unbedingt kandidieren müsse. Ich frage, | |
| warum ihn irgendjemand wählen solle, wo er doch, „es tut mir leid“, nie | |
| eine klare Haltung einnehmen würde. „Ich habe immer eine klare Haltung!“, | |
| erwidert er trotzig, ich: „Nein, hast du nicht.“ – „Dann muss ich mich … | |
| mehr anstrengen, wenn ich meine Haltung erkläre.“ | |
| Dieser Genosse – vielleicht war es auch eine Genossin, das ist nicht | |
| wichtig – ist ein typisches Produkt des SPD-Nachwuchsleistungszentrums, das | |
| die Aufgabe hat, umtriebige junge Menschen aufzusaugen und als glatt | |
| geschliffenes Abgeordneten- und Apparatmaterial wieder auszuspucken. | |
| Ex-Jusos-Chef Kevin Kühnert wurde durch seinen Widerstand gegen die Groko | |
| über Nacht populär und hat seine Beliebtheit prompt in Kandidaturen zum | |
| Parteivize und für den Bundestag investiert. | |
| Auch die älteren, unbequemen Genossen werden passend gemacht. Stellen Sie | |
| sich vor, Sie beschließen einer unserer linken Parteien beizutreten. Sie | |
| fangen an, die Altvorderen und die früh Gealterten der Partei mit Ideen und | |
| Engagement zu nerven und die Frustrierten zu ermutigen. Dann werden Sie von | |
| den Altvorderen in Einzelgesprächen verleumdet, zum Beispiel als | |
| karrieristisch, unehrlich, durchgeknallt. | |
| ## Ein lebeloses Ritual aus Formalität und Heuchelei | |
| Oder es meldet sich jemand auf der Mitgliederversammlung und beklagt, dass | |
| Sie Ihren Mitgliedsbeitrag immer nicht bezahlen. Die | |
| Mitgliederversammlungen selbst sind ein lebloses Ritual aus Formalitäten | |
| und Heuchelei. Die meisten frisch Eingetretenen kommen nur ein- oder | |
| zweimal und sterben dann freiwillig den Karteileichentod. Übrig bleiben ein | |
| paar gute Leute mit dicker Haut und die vielen, die das Bewährte lieben und | |
| die Veränderung fürchten wie der Sozi 1930 bei Tucholsky: „Sieh mal“, | |
| sachte der, „ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse | |
| Sahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det | |
| Bier is auch jut“. | |
| Diese politische Kultur erklärt, warum die eigenen Mitglieder 2018 die SPD | |
| mit Zweidrittelzustimmung zur Großen Koalition ins Aus geschossen haben. | |
| Und warum die Basis nicht einmal zuckte, als der Cum-Ex-Dealer Olaf Scholz | |
| im Sommer ohne Debatte zum Kanzlerkandidaten ausgerufen wurde. | |
| Die Basis der Linken funktioniert ebenso geräuschlos. Vergangenes Jahr | |
| wurde ohne großen Findungsprozess ein Kandidatinnenduo für den | |
| Parteivorsitz präsentiert. Fürs Herz schlugen die Strippenzieher [2][die | |
| linke Janine Wissler aus Hessen vor, zum Aufpassen Susanne Hennig-Wellsow,] | |
| die ideenlose Zuchtmeisterin der Thüringer Partei und Fraktion. Statt einer | |
| Diskussion wurde ein Schaulaufen als Geisterspiel im Netz organisiert, | |
| Wissler und Hennig-Wellsow hatten auf dem Parteitag im Februar keine | |
| namhaften Gegenkandidaten und wurden mit deutlichen Mehrheiten bestätigt. | |
| Ich vermute, dass Sie jetzt vermuten, dass ich das alles erzähle, um Ihre | |
| Vorbehalte gegen linke Parteienpolitik zu bestätigen. Sie vermuten richtig. | |
| Ich will Sie auf das vorbereiten, was Sie erwartet, falls Sie beschließen | |
| sollten, sich in einer Partei zu engagieren. Weil ich glaube, dass Sie | |
| genau das tun sollten. | |
| ## Wählengehen und Mülltrennen reicht nicht | |
| Es gibt gar keine Alternative, als sich jetzt ins Parteienelend zu stürzen, | |
| wenn Sie wie ich der Ansicht sind, dass wir, wenn überhaupt, nur noch wenig | |
| Zeit haben: Um zu verhindern, dass [3][unser Planet unbewohnbar gemacht] | |
| oder in die Luft gesprengt und die Menschheit pauperisiert und | |
| gegeneinander ausgespielt wird. Und die Faschisten wieder aus ihren Löchern | |
| gekrochen kommen. | |
| Wählengehen und Mülltrennen ist eine gute Sache, wird aber nicht reichen. | |
| Wir müssen aktiv werden, in einer Stadtteilinitiative, einer | |
| Basisgewerkschaft oder einer Partei. Am besten, man verknüpft das eine mit | |
| dem anderen. Wird zum Beispiel Mitglied der Linken oder der SPD und | |
| kooperiert mit Leuten aus der DKP, der Umweltgruppe und der Antifa. Oder | |
| andersherum. Den Grünen beizutreten ist gerade auch spannend, ab Herbst | |
| kann man dort vermutlich frisch geschlüpfte Bundesminister mit dem | |
| fortschrittlichen Teil der eigenen Programmatik stressen. | |
| Und Engagement bringt etwas, ich habe es ausprobiert. Ich wurde in den | |
| Achtzigern in der linken Schülerbewegung politisiert, 1990 von der DKP in | |
| die PDS geschickt, wo ich bis 2009 zweimal rausflog. Zwischen 2012 und 2020 | |
| war ich Mitglied der SPD. 35 Jahre Politik, davon sieben Jahre von einem | |
| Abgeordneten bezahlt und vor den Miesnickeln beschützt. So etwas gibt’s | |
| auch. In den vergangenen 13 Jahren habe ich in Weimar in Bündnissen und im | |
| Stadtrat miterlebt, wie hartnäckige Leute aus den linken Parteien gemeinsam | |
| mit Gewerkschaften, anderen Gruppen und dem Oberbürgermeister konkrete | |
| Verbesserungen erreichten: die Einzelunterbringung der Flüchtlinge, ein | |
| kostenloses Frühstück für Kinder, die immer keins dabeihaben, Sozialtickets | |
| für den Bus, einen besseren Tarifvertrag für die Busfahrer, die Aufwertung | |
| der „schwierigen“ Stadtteile. Und mit Ausnahme des Krankenhauses die | |
| Verteidigung oder Rekommunalisierung der öffentlichen Unternehmen. | |
| Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will hier nicht rot-rot-grünen | |
| Regierungen das Wort reden, was könnte schon daraus werden? Hier in | |
| Thüringen versucht ein solches Bündnis den Wählern mit arrogantem | |
| Komplettversagen die dümmste CDU und [4][die schlimmste AfD der Republik] | |
| schmackhaft zu machen. | |
| Nein, es geht darum, in eine dieser Parteien hineinzugehen. Nicht, um | |
| mitzuspielen, sondern um aus der Rolle zu fallen. Indem man sich | |
| Unterstützer sucht, die Gräben zu anderen Linken überwindet, die eigenen | |
| Parteisoldaten entwaffnet und den sedierten Genossen und den Chefs | |
| ordentlich aufs Schwein geht. Mit dem Mut zu fordern, was in der Partei und | |
| beim Wähler nicht populär, aber notwendig ist. Mit dem Ergebnis, nicht | |
| geschätzt, sondern diffamiert zu werden. Und um zu erleben, wie es sich | |
| anfühlt, wenn man gemeinsam etwas erstritten hat. | |
| Mir ist nach 35 Jahren Politik zuletzt die Luft ausgegangen, ich brauche | |
| eine Pause. Aber die anderen machen weiter und brauchen Unterstützung. Es | |
| ist ganz einfach. Gehen Sie in den nächsten Parteitempel und werfen Sie ein | |
| paar Tische um. Sie werden an den Reaktionen erkennen, mit wem was geht und | |
| was zu tun ist. Und irgendjemand muss etwas tun. | |
| 13 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Pierre Deason-Tomory | |
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