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# taz.de -- Deutsche Reaktion auf Russlands Krieg: Was wurde aus der Zeitenwend…
> Vor sechs Monaten verkündete Olaf Scholz die „Zeitenwende“ und 100
> Milliarden für die Bundeswehr. Was wurde daraus?
Bild: Der Bundeskanzler spricht am 27. Februar 2022 im Bundestag von „Zeitenw…
1 „Wir müssen die Ukraine in dieser verzweifelten Lage unterstützen.“
Hat Deutschland dieses Versprechen gehalten und genug getan, um dem Opfer
der russischen Aggression zu helfen? Der Tenor in vielen Medien war: Der
Kanzler hat versagt. Deutschland hätte zackig Panzer und Haubitzen sofort
an die Front liefern müssen, um die Ukraine zu retten. Stattdessen habe
Scholz gezögert, getäuscht und geschwiegen. Doch die Debatte um die
Lieferung schwerer Waffen war schief. Die Idee, dass es auf ein paar
Marder-Panzer ankomme, suggestiv. Die USA haben bis August 2022 für 25
Milliarden Euro Waffen und militärische Ausrüstung geliefert – ein
Vielfaches von dem, was alle anderen Länder zusammen nach Kiew
exportierten. Faktisch rüsten die USA die Ukraine aus, die Bedeutung des
deutschen Beitrags wurde verzerrt und überschätzt. Scholz hat das Tabu,
keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, gebrochen und gerade jüngst
Lieferungen für 500 Million Euro angekündigt. Er hätte von Beginn an
klarmachen sollen, welche Waffen Deutschland liefern wird und welche nicht.
So wirkte er wie ein Getriebener.
Insgesamt hat sich die Ampel an der erprobten bundesdeutschen Rolle in
Kriegen und Krisen orientiert: Man macht bei Militär und Waffen „im
Geleitzug“ (Scholz) der Nato mit, drängelt sich aber nicht nach vorne.
Dafür setzt die Bundesrepublik ein, wovon sie mehr hat als
funktionstüchtige Waffen: Soft Power, Diplomatie und Geld. In Afrika, Asien
oder Lateinamerika halten viele den Ukrainekrieg keineswegs für eine
Zeitenwende – und sind offen für Russlands Position und für billiges Öl von
dort. Die Ampel hat mit konkreten und symbolischen Hilfsangeboten in Indien
und Senegal, Indonesien und Südafrika für die Unterstützung der Ukraine
geworben. Ein wenig gewürdigter Verdienst.
2 „Wir müssen Putin von seinem Kriegskurs abbringen.“
Dafür sollen die schärfsten Sanktionen aller Zeiten sorgen. Doch der Westen
und Russland haben sich in diesem Wirtschaftskrieg bislang gegenseitig
unterschätzt: Russland hat nicht mit der Einigkeit des Westens gerechnet,
der Westen nicht mit der Resilienz der russischen Wirtschaft. „Die
russische Wirtschaft geht derzeit nicht in die Knie und das ist auch nicht
zu erwarten“, so der Handelsexperte Rolf Langhammer vom Institut für
Weltwirtschaft in Kiel. Dafür seien die Wirtschaft zu stabil und das
Finanzpolster zu dick. Putin sitzt so sicher im Chefsessel wie ein Kosak
auf dem Pferd.
Der Westen hat Russland vierfache Daumenschrauben angelegt: Russische
Banken und Unternehmen sollten von der Finanzierung abgeschnitten und aus
dem internationalen Zahlungsverkehrsnetz Swift geschmissen, die Vermögen
russischer Oligarchen eingefroren, Hightechgüter nicht mehr nach Russland
geliefert werden. Zudem will der Westen als Großkunde keine Energie mehr
aus Russland kaufen. Funktioniert das? Den Rauswurf aus Swift können
russische Banken und Unternehmen zum Teil umgehen, indem sie Geld auf
Treuhandkonten überweisen und es über chinesische und türkische Konten
transferieren. Zudem ist die russische Gazprom-Bank weiterhin ans System
angeschlossen.
Das Vermögen der russischen Oligarchen einzufrieren, erweist sich als
kompliziert, weil die ihre Besitztümer trotz gesetzlicher Pflicht nicht
offenlegen, sondern durch undurchsichtige rechtliche und finanziellen
Strukturen verschleiern. Von den Hunderten russischen Milliarden, die im
Ausland parken, sind laut Finanzministerium in Deutschland bisher gerade
mal 4,3 Milliarden eingefroren worden.
Empfindlich trifft Russland hingegen der Lieferstopp des Westens von
Hightechgütern und Ersatzteilen. Die Produktion von Pkw ist in Russland um
fast 90 Prozent eingebrochen. Die russische Fluggesellschaft Aeroflot muss
neue Flugzeuge als Ersatzteillager für die Flotte ausschlachten. Hier
springt China nicht als Ersatz ein, denn für seine Techkonzerne ist der
russische Markt unwichtiger als der US-amerikanische. Mit den USA möchte
man es sich nicht verscherzen. Die wiederum haben bislang darauf
verzichtet, Staaten zu sanktionieren, die Produkte mit US-Komponenten an
Russland verkaufen. Solche Sekundärsanktionen sind aber als Verschärfung
denkbar, genauso wie Handelsblockaden.
Und Gas, Öl, Kohle? „Die für Russland schmerzhaftesten Sanktionen, nämlich
die auf Energie, tun uns ebenfalls am meisten weh, zumal sie unterlaufen
werden“, so Langhammer. Russland profitiert von hohen Weltmarktpreisen für
Gas, Öl und Kohle. China, Indien und die Türkei steigerten ihre Importe.
Dabei muss Russland auch Abstriche machen. China nutzt die russische
Zwangslage aus und drückt den Preis zu seinen Gunsten.
Der Effekt der Sanktionen? Die russische Wirtschaft ist laut IWF um 6
Prozent geschrumpft, weniger als erwartet. Die Inflation liegt bei unter 15
Prozent. Sanktionen wirken aber, wie die Beispiele Südafrika und Iran
zeigen, nur langfristig. Und nur wenn die Sanktionsfront nicht aufweicht.
Deutschland fällt dabei die Rolle als europäischer Moderator zu. Scholz und
die Ampel müssen den europäischen Laden zusammenhalten, Konzessionen an
wankelmütige Staaten wie Ungarn machen, und die Zustimmung im eigenen Land
für die Sanktionen bewahren. Ein Drahtseilakt.
3 „Wir müssen verhindern, dass Putins Krieg auf andere Länder in Europa
übergreift.“
Putin verfolgt einen neoimperialen Plan, der über die Ukraine hinausreicht.
Ein russischer Angriff auf Nato-Staaten wie Litauen ist unwahrscheinlich,
ausschließen lässt sich nach dem 24. Februar aber nichts mehr. Hat Scholz
genug getan, um eine Ausweitung zu verhindern? Die Nato setzt auf
Abschreckung. Schweden und Finnland werden Nato-Mitglieder. Die schnelle
Nato-Eingreiftruppe wird von derzeit 40.000 SoldatInnen auf 300.000
aufgestockt. Das hat große Auswirkungen auf Deutschland. Die deutsch
geführte Nato-Battlegroup in Litauen umfasst derzeit 1.600 SoldatInnen –
davon zwei Drittel Bundeswehrangehörige. Künftig sollen für Abschreckung im
Baltikum mehr als zehnmal so viele deutsche SoldatInnen sorgen – 15.000,
als Teil der schnellen Eingreiftruppe. Ab 2026 sollen Bundeswehrtruppen in
zehn Tagen kampfbereit sein, wenn Nato-Territorium bedroht wird. De facto
wird Deutschland militärische Schutzmacht für das Baltikum gegen mögliche
russische Angriffe. Das ist eine neue Rolle für Berlin: nicht mehr „im
Geleitzug“, sondern weit vorne.
4 „Wir müssen deutlich mehr in unsere Sicherheit investieren.“
100 Milliarden Euro für die Bundeswehr – diese Botschaft riss die
Unionsfraktion von den Sitzen und wirkte international. Die Ankündigung war
politisch das richtige Signal – Deutschland handelt. Die Taube wird zum
Falken. Fachlich ist sie unbegründet. Die ordentliche Ausrüstung der
Bundeswehr scheiterte bislang weniger am Geld – der Wehretat liegt bei 50,3
Milliarden Euro – als am undurchsichtigen, bürokratischen
Beschaffungswesen. Geld in diese dunklen Kanäle zu pumpen, halten
Wehrexperten für schwierig und mahnen eine Reform des Beschaffungswesens
als Voraussetzung für Zuwendungen an. Unklar ist auch die zukünftige Rolle
der Bundeswehr. Von der Landesverteidigungsarmee wurde auf schnelle
Eingreiftruppe gepolt, die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, die Truppe
verkleinert. Der Angriff auf die Ukraine zeigt, dass Landesverteidigung
doch nicht so out ist. Neben systemischen Reformen steht auch eine
strategische Neuaufstellung an. Erst die Zukunft wird zeigen, ob die 100
Milliarden sinnvoll investiert wurden oder teure Symbolpolitik waren.
27 Aug 2022
## AUTOREN
Anna Lehmann
Stefan Reinecke
## TAGS
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