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# taz.de -- Europa-Rede von Bundeskanzler Scholz: Zeitenwende auf Europäisch
> In einer Grundsatzrede stellt Kanzler Olaf Scholz seine Reformvorschläge
> für die EU vor. Fünf Jahre nach dem Vorstoß von Frankreichs Präsident
> Macron.
Bild: Über wie viele Brücken musst Du gehen? Tschechiens Premier Petr Fiala m…
So entspannt war Olaf Scholz schon seit Längerem nicht mehr unterwegs. Er
traf etwas zu früh in Prag ein, und sein Tross legte noch eine kleine
Stadtrundfahrt ein auf dem Weg zur Karls-Universität. Dort waren die
Sicherheitsvorschriften lässig – praktisch jeder kam ohne Kontrolle rein –,
und auch die Stimmung schien gelöst.
Der deutsche Bundeskanzler ist in Tschechien ein gern gesehener Gast, vor
allem seit er seine anfängliche Zurückhaltung in puncto Waffenlieferungen
an die Ukraine aufgegeben hat. Und nun klappt auch endlich der [1][lang
angekündigte Ringtausch]: Deutschland schickt 14 Leopard- und einen
Büffel-Panzer nach Prag im Gegenzug zu den T-72, die Tschechien der Ukraine
zur Verfügung gestellt hat.
Mit freundlichem Applaus empfängt ihn das Publikum in der Aula der
Universität, darunter viele Studierende. Wie Maria zum Beispiel, die im
zweiten Jahr an der humanistischen Fakultät studiert und aus Interesse an
den großen Themen hier ist: am Krieg in der Ukraine und an der Zukunft der
Europäischen Union. Scholz, so war es angekündigt, wollte die
[2][Zeitenwende], die er vor einem halben Jahr im Bundestag ausgerufen
hatte, hier europäisch ausbuchstabieren.
Eine Universität als Bühne, um große Ideen zur europäischen Zukunft
auszubreiten – dieses Setting wählte auch der damals frisch ins Amt
gekommene französische [3][Präsident Emmanuel Macron, als er 2017] vor
Studierenden der Sorbonne für ein starkes, souveränes Europa warb und für
ein europäisches Finanzministerium. Die damalige Kanzlerin hüllte sich in
freundliches Schweigen, Macrons Initiative verpuffte.
## Die Reihen schließen
Die deutsche Antwort auf Macrons Rede kommt nun, fünf Jahre später und
unter dem Druck der äußeren Verhältnisse: Russland hat einen Krieg gegen
seinen Nachbarn angezettelt, hat die europäische Nachkriegsordnung
inklusive Achtung der territorialen Integrität aufgekündigt, und der Westen
schließt die Reihen gegen den gemeinsamen Feind. Eine starke und souveräne
EU ist gefragt wie nie.
Dieses Bedürfnis ruft Scholz in Prag ab: „Wir müssen die Reihen schließen,
alte Konflikte überwinden“, sagt Scholz in der Aula der ältesten Uni
nördlich der Alpen. Er beschwört die EU als Wertegemeinschaft, die es zu
verteidigen gilt gegenüber einem autoritären, imperialistischen Russland.
Man werde die Ukraine wirtschaftlich, finanziell und militärisch weiterhin
unterstützen, verspricht der Kanzler denn auch. „Verlässlich und vor allem:
so lange wie nötig.“ Bei der militärischen Unterstützung wirbt er für mehr
Absprache und für Arbeitsteilung unter den EU-Ländern; schlägt einen Rat
der Europäischen Verteidigungsminister vor; oder die gemeinsame Beschaffung
von Rüstungsgütern. Bislang folgt das Beschaffungswesen in allen
europäischen Ländern den Bedürfnissen der heimischen Rüstungswirtschaft.
Und apropos Arbeitsteilung: Er könne sich vorstellen, dass Deutschland sich
insbesondere auf den Aufbau der ukrainischen Artillerie und
Luftverteidigung konzentriere, sagt Scholz und kündigt an, dass „wir in
Deutschland in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere
Luftverteidigung investieren“ werden.
## Ein europäisches Silicon Valley
Wunde Punkte der Vergangenheit wie [4][die Migrations-] und Finanzpolitik,
tippt Scholz ebenfalls an, mahnt mehr Pragmatismus und weniger Ideologie
an. Das kann man durchaus auch als deutsche Selbstkritik verstehen.
Scholz wirbt auch für mehr wirtschaftliche Kooperation in der ursprünglich
als Wirtschaftsgemeinschaft gegründeten Union. Es brauche ein Update des
europäischen Binnenmarktes, sagt Scholz und ruft eine Art europäisches
Silicon Valley aus. „Ich möchte ein Europa, das Vorreiter ist bei wichtigen
Schlüsseltechnologien“, sagt Scholz und wirft gar die kühne Idee einer
wettbewerbsfähigen europäischen Raumfahrt auf. So richtig ab heben die
vielen jungen Zuschauer:innen im Saal bei seinen Worten nicht, was auch
daran liegen mag, dass Scholz seine hochfliegenden Pläne vom Blatt abliest.
Dort findet sich immerhin auch die Antwort auf die europapolitischen
Vorschläge Macrons. Einen Verfassungskonvent einberufen und die
europäischen Verträge überarbeiten? „Verträge sind nicht in Stein
gemeißelt“, antwortet Scholz konziliant, freilich müsse man sich konkret
anschauen, was geändert werden müsse.
Macrons Idee einer europäischen politischen Gemeinschaft, also einer Art EU
plus Freunde, begrüßt Scholz. Macht aber auch seine Skepsis deutlich: Das
dürfe für beitrittswillige Länder keine Alternative zum eigentlichen
Beitritt sein. Scholz spricht sich erneut dafür aus, die sechs
Westbalkanländer, die seit Jahren in der Warteschleife hängen, in die EU zu
lassen und perspektivisch auch die Ukraine, Moldau und Georgien.
## Kafkaeskes Europa
Eine [5][Erweiterung der EU] geht nach Auffassung des Deutschen aber nicht
ohne Reformen im Innern, wie er schon öfter gesagt hat. Neben einigen neuen
Gedanken – im Bereich der Kommissariate schlägt Scholz das Prinzip der
Doppelspitze vor, um deren Zahl nicht ins Unendliche auszuweiten –
bekräftigt Scholz bereits Gesagtes und im Koalitionsvertrag Vereinbartes
und warnt in diesem Zusammenhang, bezugnehmend auf „einen großen Sohn
dieser Stadt“, vor „kafkaesken Verhältnissen“.
So will er, das derzeit geltende Einstimmigkeitsprinzip unter den 27
Mitgliedern aufweichen, um schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen
überzugehen. Man könne ja zunächst in den Bereichen beginnen, wo es darauf
ankomme, als Europa mit einer Stimme zu sprechen, schlägt Scholz vor, etwa
in Fragen der Sanktionspolitik.
[6][Premier Petr Fiala] erteilt diesem Vorstoß anschließend eine höfliche,
aber eindeutige Absage. „Wir wehren uns gegen solche Debatte nicht, aber
sind sehr zurückhaltend.“ Man sieht als kleines, gerade mal zehn Millionen
Einwohner zählendes Mitgliedsland eigene Interessen gefährdet.
Dass Scholz aber gerade die Sanktionspolitik als Türöffner für Reformen
vorschlägt, ist schlau. „Viele wollen, dass die EU auf Russland noch mehr
Druck macht“, berichtet Studentin Maria. Sie findet Scholz’ Rede großartig,
das seien Gedanken, die alle hören sollten, sagt sie. Mila, die hinter ihr
sitzt und gerade eine Weiterbildung im Bereich Steuerung sozialer
Organisationen macht, vermisst Vorschläge zu aktuellen Themen. „Wie die
europäische Solidarität im Bereich Energie aussieht, hätte ich gern
erfahren“, sagt sie. Auch in Tschechien mache man sich Gedanken, wie man im
kalten Winter heizen solle, wenn die Preise stiegen.
## Tschechien will was vom Flüssiggas abhaben
Um die hohen Energiepreise geht es beim anschließenden Treffen mit Petr
Fiala. „Wir stimmen überein, dass wir nach gesamteuropäischer Lösung suchen
müssen“, so Fiala. Er wolle dieses Thema zu einem Schwerpunkt der
europäischen Ratspräsidentschaft machen, hatte am Vormittag darüber auch
mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesprochen.
Demnächst wollen sich die europäischen Energieminister dazu auch in Brüssel
treffen. Auch Scholz versichert, dass es darum gehen müsse, den
europäischen Strommarkt zu reformieren, damit die Preise wieder sinken. Ob
durch einen Gaspreisdeckel oder andere Instrumente, darauf ging er auch auf
Nachfrage nicht ein.
Konkrete Solidarität forderte der tschechische Ministerpräsident von
Deutschland beim Flüssiggas ein. Tschechien wolle sich am [7][Bau der
Terminals in Lubmin und Greifswald] beteiligen, sprich etwas abhaben vom
Flüssiggas. Scholz verspricht das. „Das sind Infrastrukturen, die wir nicht
nur für uns bauen, sondern auch für unsere Freunde, die keine Küstenlinie
haben.“ Er nickt Fiala aufmunternd zu. Der steht im eigenen Land unter
Druck und kann mit Scholz’ Besuch nun auch innenpolitisch punkten.
Wieso sollte Tschechien also weitere Zugeständnisse machen? Deutschland
hält von dem Vorstoß, [8][keine EU-Visa mehr an russische Bürger:innen]
auszuhändigen, wenig, doch Tschechien bleibt hart. Es sei der russische
Präsident, der den Krieg angezettelt habe, so Scholz.
Es gibt also viele Themen, die auf der EU-Außenministerkonferenz in den
nächsten Tagen hier in Prag besprochen werden. Scholz’ Rede dürfte nicht
dazugehören. Fiala befürchtet, dass eine schwierige Debatte die neu
gewonnene Einigkeit wieder zerstören könnte.
29 Aug 2022
## LINKS
[1] /Gepard-Panzer-fuer-die-Ukraine/!5855486
[2] /Deutsche-Reaktion-auf-Russlands-Krieg/!5876987
[3] /Rede-des-franzoesischen-Praesidenten/!5448050
[4] /Migration-in-die-EU/!5728251
[5] /Erweiterung-der-EU/!5862049
[6] /Regierung-in-Tschechien/!5861912
[7] /Deutschlands-Energie-Gemeinde/!5871912
[8] /Touristenvisa-fuer-Russinnen/!5874632
## AUTOREN
Anna Lehmann
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