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# taz.de -- Denkmal für Hachschara-Landgut: Itzak Baumwol erinnert sich
> Jutta Bamwol wollte – wie Tausende jüdische Jugendliche auch – in den
> 30er Jahren nach Palästina auswandern. Doch sie wurde in Auschwitz
> ermordet.
Bild: Zur Einweihung des Denkmals für Jutta Baumwol und die Hachschara-Bewegun…
Mit 15 Jahren hatte Jutta Baumwol große Träume. Sie war ein jüdisches
Mädchen, 1925 geboren, spielte Theater, musizierte, interessierte sich für
Literatur. Ihre Familie, neben Jutta noch zwei ältere Schwestern und ein
kleiner Bruder, lebte damals in Danzig. Ihr Bruder, Itzhak Baumwol,
erinnert sich sehr gut an diese Zeit: „Sie war nur fünf Jahre älter als
ich“, sagt er. „Sie brachte mich zur Schule, zum Kindergarten und holte
mich ab, sie spielte mit mir. Jutta war nicht nur meine Schwester. Sie war
meine Freundin, mein Kindermädchen.“ Als jüdische Kinder Ende der 1930er
Jahre [1][von den Schulen ausgeschlossen] wurden, unterrichtete sie ihren
Bruder zu Hause.
Doch Jutta blieb nicht in Danzig. In einer immer bedrohlicher werdenden
Situation löste sie sich aus ihrer Familie, ließ das Stadtleben hinter
sich, und ging nach Schniebinchen, einem Dorf im heutigen Westpolen, auf
das dortige [2][Hachschara-Landgut]. Auf diesen Landgütern bereiteten sich
ab den 1930er Jahren immer mehr jüdische Jugendliche darauf vor, nach
Palästina auszuwandern. Sie lernten, Gemüse und Obst anzubauen, übten sich
im Handwerk und lernten Hebräisch, jüdische Geschichte und die Geografie
Palästinas.
Jutta gewöhnte sich wohl schnell an ihr neues Leben und fand Freunde dort,
erzählt ihr Bruder. Und sie wusste, was sie wollte. Denn während die
Familie sich 1940 auf eine unsichere Flucht begibt, bleibt Jutta auf dem
Hachschara-Landgut – in der Hoffnung, von dort aus Palästina zu erreichen.
„Meine Eltern erlaubten es ihr. Es erschien viel wahrscheinlicher, dass sie
über die [3][Hachschara-Bewegung] schließlich Palästina erreichen könnte,
denn wir wussten ja gar nicht, was mit uns werden würde“, sagt ihr Bruder.
Jutta kam ein letztes Mal nach Danzig, um sich zu verabschieden. „Meine
Eltern dachten, wer wird einem 15-jährigen Mädchen schon etwas tun. Ihr
ganzes Leben lang haben sie es sich nie verziehen, dass sie Jutta wieder
gehen ließen.“
Die Familie schafft es, Deutschland über Österreich und die Donau zu
verlassen. Irgendwo im Schwarzen Meer kommen sie mit knapp 2.000 anderen
jüdischen Flüchtlingen auf das griechische Frachtschiff „Atlantic“. „Dr…
Monate sind wir durch vermintes Meer geirrt, es war ungewiss, wo wir
anlegen konnten und ob wir überhaupt ins Land gelassen werden“, erinnert
sich Itzhak Baumwol.
## Die Angst – und das Ausgeliefertsein
In seinem Fluchtbericht klingt vieles an, was Flüchtlinge auch heute
erzählen. Die Angst, das Ausgeliefertsein, die Ungewissheit, welches Land
sie aufnehmen wird, die Leichen im Meer …
Nach dem Willen der Engländer sollen die jüdischen Flüchtlingen in der
Bucht von Haifa auf ein anderes Schiff, das sie nach Mauritius bringen
soll. Die Einreise nach Palästina wird ihnen aber nicht gestattet.
Jutta Bauwol kommt Anfang der 1940er Jahre auf das Hachschara-Landgut in
Neuendorf im Sande (siehe Grafik). Auch von dort aus schreibt sie
regelmäßig Briefe an die Familie. Die ist inzwischen doch in Palästina
angekommen: Weil die Mutter schwer krank ist, dürfen sie schließlich
einreisen, leben dort zunächst in einem Lager.
Frei schreiben kann Jutta nicht, 25 Wörter pro Brief sind erlaubt. So
erfährt die Familie auch nicht, dass Neuendorf inzwischen kein
Hachschara-Landgut mehr ist, sondern ein Zwangsarbeiterlager. Im letzten
Brief, den sie von ihr erhalten, findet sich ein versteckter Hinweis auf
ihr Schicksal: „Sie schrieb uns, ich fahre zur Oma. Und die Oma war lange
tot“, sagt Itzhak Baumwol. „Seid stark, schrieb sie, und am Ende auf
Wiedersehen mit einem Fragezeichen. Sie wusste, dass sie nach Auschwitz
kommt, sie kannte ihr Schicksal.“
## Itzhak Baumwol wünscht sich ein Denkmal
Itzhak Baumwol ist inzwischen fast 90 Jahre alt. Jahrzehntelang hatte er
sich bemüht, mehr über den Ort herauszufinden, an dem seine Schwester
gelebt hatte, bevor die Nazis sie deportierten und vernichteten. Zwei
Freundinnen von Jutta, die mit ihr zusammen in Neuendorf und dann in
Auschwitz waren und überlebt haben, hatten der Familie später ein Foto aus
Neuendorf gebracht und erzählt, dass Jutta in Auschwitz von einem Tag auf
den anderen weg gewesen sei.
Durch Zufall stieß Baumwols Sohn auf die Webseite des Vereins Kulturscheune
Neuendorf, die dort vor einem Jahr eine Ausstellung über das
Hachschara-Landgut zusammengestellt hatten. Itzhak Baumwol rief beim Verein
an und kam kurzerhand zur Eröffnung. Und er wünschte sich ein Denkmal.
Es ist seinem Engagement und seiner Energie zu verdanken, dass es nun, ein
Jahr später, an der Zufahrt zum Gutshof steht. Die lebensgroße Silhouette
einer jungen Frau, aus rostbraunem Eisen, auf einem Baumstumpf. Sie steht
mit selbstbewusst erhobenem Kopf, der Rocksaum umspielt ihre Waden. Ein Arm
in die Seite gestützt, der andere wie schützend, nah am Körper. Anscheinend
hat sie gerade die Feldarbeit unterbrochen, denn vor ihr steckt eine Harke
in der Erde. Sie blickt in die Ferne – oder in eine ungewisse Zukunft.
„Das Denkmal ist Jutta Baumwol und ihrer Geschichte nachempfunden. Aber es
erinnert stellvertretend an die vielen jungen Menschen, die hier herkamen
in der Hoffnung auf ein neues Leben“, sagt Arnold Bischinger vom Verein
Kulturscheune Neuendorf. „Die Hachschara-Bewegung war Selbsthilfe der
jüdischen Bevölkerung.“ In der [4][Gedenkstätte Yad Vashem] wird Jutta
deshalb als Hachschara-Aktivistin aufgeführt. „In Neuendorf ist es neun
Jahre lang gut gegangen. Es ist ein Denkmal, wo wir eigentlich nah bei dem
stehen bleiben, wie es vielleicht damals war, dass also Jugendliche in
Neuendorf gehofft haben, dass sie von hier aus einem guten Ende
entgegensehen können.“
## Die Verantwortung kommender Generationen
Die Zufahrt zum Gutshof liegt nur wenige hundert Meter entfernt von den
Häusern, die sich um den Dorfanger von Neuendorf aneinanderreihen. Im April
1943 werden die letzten 159 Bewohner*innen des Gutshofs – unter ihnen auch
Jutta Baumwol – erst nach Berlin und dann nach Auschwitz deportiert. Als
Zwangsarbeiter*innen wurden sie auch auf den umliegenden Bauernhöfen
eingesetzt.
„Dass all das in Sichtweite der Menschen passiert ist, die hier gelebt
haben, das ist es, was mich umtreibt, wenn ich an einem Ort wie diesem
stehe“, sagt Itzhak Baumwols Sohn Nir Eilon bei der Eröffnung. „Wie
deutlich wir an der Landschaft sehen können, dass die
Dorfbewohner*innen etwas mitbekommen haben müssen, dass sie gewusst
haben müssen, was hier passiert.“
Sein Vater mahnt bei der Einweihung, die kommenden Generationen hätten die
Verantwortung, die Zukunft so zu gestalten, dass so etwas nie wieder
geschieht. Er richtet sich dabei an die Schüler*innen der
Clara-Grunwald-Grundschulen aus Kreuzberg und Hangelsberg, die in einem
Projekt die Einweihung mit vorbereitet haben.
Der [5][Verein Kulturscheune Neuendorf h]at Baumwols Wunsch nach einem
Denkmal von Anfang an unterstützt und mit umgesetzt. Die Vereinsmitglieder,
allen voran Frauke und Arnold Bischinger, engagieren sich seit mehreren
Jahren dafür, dass das Andenken an die besondere Geschichte des Landguts
nicht in Vergessenheit gerät. Von offizieller Seite aus passierte nicht
viel. Vor 30 Jahren wurde eine Gedenktafel an einem der Gebäude angebracht,
auf Initiative des damaligen Gutshofleiters, Georg Weilbach. Inzwischen
gehört das Landgut der Bima, der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Seit
einem Jahr steht es zum Verkauf. 2017 wurde es außerdem unter Denkmalschutz
gestellt.
## Landgut steht zum Verkauf
Die Bima teilt auf Nachfrage mit, dass sie sich „dabei der historischen
Bedeutung der Liegenschaft bewusst“ sei, wie deren Sprecher Thorsten
Grützner sagt. Man werde die Verkaufsverhandlungen mit der notwendigen
Sensibilität führen. Sie werde „beim Verkauf größtmögliche Rücksicht auf
die Wahrung der historischen Belange nehmen“ und „habe dies bereits bei der
Auswahl ihrer Verhandlungspartner berücksichtigt“.
Doch wer mit Bischinger spricht, bekommt schnell den Eindruck, dass dies
nicht von Anfang an so war, sondern dass der Verein der Bima diese Zusage
regelrecht abgetrotzt hat, immerhin mit einigem Erfolg. „Die Gruppe, die
zurzeit mit der Bima verhandelt und das Gelände kaufen möchte, hat einen
Verein gegründet und unseres Wissens nach auch Ideen und ein Konzept, um an
die Geschichte des Ortes zu erinnern“, sagt er. Äußern möchten sich die
potenziellen neuen Käufer allerdings noch nicht.
Ein Denkmal, „koste es, was es wolle“, hatte Itzhak Baumwol vor einem Jahr
gesagt. Und schnell solle es gehen, denn er wisse nicht, wie viel Zeit ihm
– als damals 87-Jährigem – noch bleibt. Jetzt, wo er nach dem Tod der
Eltern und der anderen beiden Schwestern der Letzte ist, der die Geschichte
von Jutta noch erzählen kann.
Mit rund 1.000 Euro haben sie für das Denkmal geplant, bestätigt
Bischinger, die nach erstem Stand tatsächlich Baumwol selbst getragen
hätte. Rolf Lindemann, Landrat des Landkreises Oder-Spree, der auch bei der
Eröffnung sprach, ist erstaunt und auch leicht fassungslos, als die taz ihn
am Rande der Einweihung darauf anspricht, wie er es denn bewerte, dass
Itzhak Baumwol als Überlebender das Denkmal stifte. Er sagt spontan zu,
sich beim Landkreis um eine Finanzierung zu kümmern – oder den Betrag
„sonst aus eigener Tasche zu begleichen“. Der Landkreis hat inzwischen 700
Euro fürs Denkmal bewilligt, die Gemeinde Steinhöfel wird eventuell auch
einen Teil übernehmen.
## Ein später, aber wichtiger Trost
Zur Eröffnung des Denkmals verlesen Schüler*innen der
Clara-Grunwald-Grundschulen aus Berlin und dem brandenburgischen
Hangelsberg die Namen der 159 Menschen, die mit den letzten beiden Zügen
aus Neuendorf deportiert wurden. Die meisten kamen nach Auschwitz, die
meisten wurden dort ermordet und vernichtet. Unter ihnen ist neben Jutta
Baumwol auch die Montessori-Pädagogin und Namensgeberin ihrer Schulen,
[6][Clara Grunwald]. Die Schüler*innen haben die Namen auf weiße Wimpel
geschrieben, die nun zwischen den Bäumen an der Zufahrt zum Gutshof
flattern.
Ein später, ein kleiner, aber ein wichtiger Trost für Itzhak Baumwol. „Es
ist mir etwas aus dem Herzen herausgekommen, denn alles, was drinnen war,
ist jetzt draußen“, sagt Baumwol direkt nach der Einweihung im Juni.
Seinen drei Kindern, den Nichten und Neffen und Enkel*innen, von denen
viele bei der Einweihung anwesend sind, hat er das Versprechen abgenommen,
dass sie oft an diesen Ort zurückkehren werden, um ihrer Tante, die sie aus
seinen Erzählungen kennen, zu gedenken. „Für mich bedeutet es, dass Jutta
ein Grab hat. Dass nicht nur ihre Asche irgendwo übrig geblieben ist“, sagt
er. „Es ist mir jetzt viel, viel leichter, dass auch meine Nachfolger einen
Ort für Jutta haben, wenn sie für einen Ausflug oder zu Besuch hierher
kommen.“
Dieser Text ist Teil eines Schwerpunktes in der taz.berlin am Wochenende
vom 28./29.7.2018.
28 Jul 2018
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Judenfeindlichkeit
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Hachschara
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Hachschara
[4] https://www.yadvashem.org/de/node/53076.html
[5] http://kulturscheune-im-sande.de/willkommen.html
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Clara_Grunwald
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
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