# taz.de -- Eine brandenburgische Dorf-Geschichte: Ein Ruf in die Zukunft | |
> In Neuendorf im Sande wurde eine Zeitkapsel aufgespürt. Nun hat man sie | |
> mit Erinnerungen an die NS-Zeit und um aktuelle queere Perspektiven | |
> ergänzt. | |
Bild: Eine alte Tradition, neu belebt: Die Zeitkapsel wird wieder befüllt | |
NEUENDORF IM SANDE taz | An den Moment, als sie mit dem Pastor die | |
Kirchenwand aufstemmten, kann Reinhard Dase sich noch gut erinnern. Es war | |
im Frühjahr 1975 und er war 15 Jahre alt, relativ frisch konfirmiert und | |
Teil einer Gruppe von Jugendlichen, die den Pfarrer bei kleineren Arbeiten | |
rund um die Kirche unterstützten. „Da ist noch was in der Wand“, hatte der | |
Pfarrer ihnen gesagt, und die Jugendlichen hatten daraufhin voller Spannung | |
die Wände des Kirchturms abgeklopft, bis sie den Ort fanden, an dem es hohl | |
klang. | |
Eingemauert im Kirchturm, an einer Stelle, die über die Kirchturmtreppe gut | |
zu erreichen ist, fanden der Pfarrer und die Jugendlichen eine Zeitkapsel | |
aus dem Jahr 1938. Die Zeitkapsel war in diesem Fall eine Apothekerflasche | |
aus braunem Glas mit Unterlagen zur [1][abgetragenen Kirchturmspitze]. Die | |
war nämlich in dem Jahr zurückgebaut worden, damit Piloten den nahe den | |
Dorf Neuendorf im Sande neu angelegten Flugplatz besser anfliegen konnten. | |
Der Flugplatz war Teil der Kriegsvorbereitungen. „Der Ort konnte damals | |
wenig dagegen machen, sie haben aber wohl im Gegenzug die Straße im Dorf | |
gepflastert“, erzählt Dase. | |
Zeitkapseln sind Gefäße, in denen Dinge oder Unterlagen für künftige | |
Generationen verwahrt werden. Sie werden oft beim Baubeginn in den | |
Grundstein mit eingemauert. In Kirchen sind sie häufig in der Kugel der | |
Kirchturmspitze – und damit eigentlich nur bei Renovierung zugänglich. In | |
Neuendorf, einem Ort in der Nähe von Fürstenwalde östlich von Berlin, mit | |
seiner fehlenden Kirchturmspitze, ist sie nun leichter zugänglich. | |
Der Pfarrer habe damals ein paar Zeilen zur aktuellen Situation in | |
Neuendorf geschrieben und zusammen mit einem Foto der Konfirmanden und ein | |
paar Münzen zurück in die Kapsel getan und sie wieder eingemauert. Als Dase | |
eines Abends im vergangenen September in einer Runde mit anderen | |
Neuendorfer*innen von seinen Erinnerungen erzählt, sind die sofort | |
begeistert. Noch am selben Abend gehen sie mit dem heutigen Pfarrer in die | |
Kirche und klopfen die Wand an der Stelle ab, an die Dase sich erinnert. | |
„Das hat dann ganz viel ins Rollen gebracht“, erzählt Dase. Eine Gruppe von | |
Kunststudent*innen rund um Flora Wedel und Leon Bischinger nimmt sich | |
der Zeitkapsel an. Bischinger ist selbst in Neuendorf aufgewachsen, seine | |
Eltern betreiben dort mit der Kulturscheune einen [2][Kultur- und | |
Geschichtsort]. Mit Einverständnis des Landesdenkmalamts öffnen sie die | |
Kirchturmwand an der von Dase erinnerten Stelle. Den Moment, an dem sie die | |
Kapsel rausholen, übertragen sie per Beamer live in den Kirchenraum, in dem | |
Anwohner*innen zugucken. Einige der Anwesenden erkennen sich auf dem | |
Foto der Konfirmanden von 1975 wieder. Im Anschluss stellen die | |
Student*innen den Inhalt der Zeitkapsel in der Kirche aus und laden dazu | |
ein, etwas für die nächste Befüllung beizutragen. Diesmal sollen sich | |
möglichst viele daran beteiligen. | |
## Ergänzungen aus der Gegenwart | |
Und nun, an einem frühlingshaften Abend Anfang Mai, sind wieder viele | |
Kinder und Jugendliche dabei, als die Neuendorfer die Kapsel erneut | |
einmauern. Ergänzt ist sie um Texte und Gegenstände aus der jetzigen | |
Gegenwart, eine aktuelle Ausgabe der Märkischen Oderzeitung und ein in Harz | |
eingelassenes Stück der Dorfeiche, die fast 500 Jahre alt wurde und von der | |
nur noch der Stumpf steht. | |
„Es ist wie ein Ruf in die Zukunft“, sagt Leon Bischinger. Und dieser Ruf | |
in die Zukunft ist vielstimmig: Gedruckt mit Laser auf Archivpapier, damit | |
sie möglichst lange halten, kommen dort nun die Gedanken des offen schwul | |
lebenden Pfarrers Kevin Jessa zu Akzeptanz und Demokratie und queerem Leben | |
in Brandenburg hinein. Außerdem Erinnerungen an die DDR und den | |
Statusverlust. Dazu Hinweise auf verändertes Leben in der Klimakrise. Und | |
schließlich auch die jüdische Geschichte des Ortes, die lange keine Rolle | |
spielte. | |
## Ein Ort für die Trauer | |
Denn Neuendorf ist seit einigen Jahren auch der Ort, an dem der gerade vor | |
wenigen Tagen mit über 90 Jahren verstorbene Itzhak Baumwol einen Ort | |
gefunden hat, um um seine Schwester zu trauern. Er war mit seiner Familie | |
1940 ins damalige Palästina geflohen und lebte sein Leben in Israel. Seine | |
große – und von dem kleinen Jungen, der er damals war, heißgeliebte – | |
Schwester Jutta aber war auf einem Hachschara-Gut in Brandenburg | |
zurückgeblieben. Auf solchen Gütern bereiteten sich jüdische Jugendliche | |
damals auf eine legale Auswanderung nach Palästina und ein Leben in der | |
Landwirtschaft dort vor. Die Familie dachte also, dass Jutta damit in | |
relativer Sicherheit sei und sie sich alle nach ihrer Flucht und Juttas | |
Ausreise wiedersehen würden. | |
Das Gut, auf dem Jutta bis zuletzt war, liegt in unmittelbarer Nähe von | |
Neuendorf. Seit 2018 steht dort auf Itzhak Baumwols Initiative hin ein | |
Denkmal, das an [3][seine Schwester erinnert] und an die Schicksale der | |
anderen, vornehmlich jungen Menschen, die dort damals lebten. Heute | |
erforscht der Verein Geschichte hat Zukunft die Vergangenheit des | |
Hachschara-Guts. Am Tag der Befüllung der Zeitkapsel erinnert Bernd Pickert | |
für den Verein daran, dass der Brief, den die Familie Jutta Baumwol zum 18. | |
Geburtstag schickte, sie dort nicht mehr erreichte. Sie war schon auf dem | |
Weg nach Auschwitz. | |
Der Hass kam damals aus der Mitte der Gesellschaft. Pickert erzählt, dass | |
lokale Nazis aus Neuendorf und Fürstenwalde das Hachschara-Gut 1938 in der | |
Reichspogromnacht überfielen – obwohl es dazu keinen Befehl gab. Denn | |
offiziell begrüßte das Regime jüdische Auswanderung. „Sie wollten Terror | |
verbreiten und den dort lebenden Jüdinnen und Juden mal zeigen, wer die | |
Macht hat“, sagt Pickert. Beim Pflanzen der sogenannten Hitlereiche, die | |
heute noch im Dorf steht, seien auf einem Foto viele Hakenkreuze zu sehen. | |
Die Hachschara wurde 1941 [4][zu einem Zwangsarbeiterlager]. 1943, vor | |
gerade mal 80 Jahren, wurden die letzten Bewohner*innen über Berlin | |
nach Theresienstadt und dann Auschwitz deportiert. „Jutta wusste damals | |
schon, dass sie abgeholt werden sollten. Im letzten Brief an ihre Familie | |
schrieb sie: ‚Seid stark. Ich bin es auch‘“, sagt Pickert. In Auschwitz | |
fiel sie der Mordmaschinerie der Nazis zum Opfer. | |
Ihr Bruder Itzhak schreibt heute in einem Brief, der nun auch in der | |
Zeitkapsel ist, auch von Dankbarkeit. Dafür, dass er sehr spät im Leben, | |
nämlich vor gut fünf Jahren, doch noch herausgefunden habe, „auf welchem | |
Weg meine Schwester gegangen ist“. Sie sei mit den anderen Jugendlichen im | |
Lager versklavt worden und habe in einem Blumenladen in Fürstenwalde | |
Zwangsarbeit leisten müssen. „Ich hoffe, dass man sie dort menschlich | |
behandelt hat“, schreibt er. | |
In Neuendorf hat er einen Ort für seinen Verlust gefunden, an dem auch | |
seine Kinder und Enkelkinder mehr über Jutta erfahren konnten. Er fühle | |
eine tiefe Verbundenheit zu den Menschen, besonders der Familie Bischinger. | |
Und er zeigt sich hoffnungsvoll, da heute Menschen in Neuendorf an das | |
Geschehene erinnern und „ein tiefes Interesse zeigen an dem, was damals in | |
ihrem Land geschehen ist, und versuchen, Dinge gut zu machen.“ Erinnerung, | |
schreibt Itzhak Baumwol, verhindere Gleichgültigkeit. | |
## Erinnerungsarbeit im prekären Raum | |
„Ich bin hier auf dem Landgut aufgewachsen, ich bin als Jugendlicher durch | |
die Wälder hier gestreift“, sagt Reinhard Dase. „Doch von der Geschichte | |
wussten wir nichts“, fährt er fort. „Da fügt sich für mich jetzt auch no… | |
mal viel zusammen.“ Dase wohnt heute in Fürstenwalde, kommt aber zum | |
Gottesdienst weiter nach Neuendorf, sagt er. Er verstehe den Ort nun | |
besser. Auch das habe die Zeitkapsel für ihn und viele andere im Ort | |
ausgelöst. | |
Dass Erinnerungsarbeit, Demokratie und offene Einstellung gegenüber den | |
Herausforderungen der Gegenwart trotz allem fragil sind, das zeigt der | |
Blick auf die aktuelle politische Situation im Landkreis. Dort hat bei den | |
Landratswahlen Ende April ein AfD-Kandidat die meisten Stimmen geholt, am | |
kommenden Wochenende steht er in der Stichwahl. | |
Pfarrer Kevin Jessa schreibt in seinem Text für die Zeitkapsel, wie offen | |
er von der Gemeinde aufgenommen worden sei, und auch, dass er sich mehr | |
Kontakt zwischen den alteingesessenen Einwohner*innen und den neu | |
Zugezogenen wünsche. Ein Ort, an dem das möglich werden könnte, ist im Zuge | |
des Zeitkapselprojekts schon entstanden. Gemeinsam haben die | |
Dorfbewohner*innen die ehemalige Trauerhalle in ein Begegnungshaus | |
umgebaut, das offen für alle sein soll und in dem die Anwohner*innen | |
zusammenkommen, sich austauschen, in Kontakt treten, gemeinsame Erlebnisse | |
und Erinnerungen teilen können. In der abschließenden Bauwoche kamen viele | |
mit ihren unterschiedlichen Geräten und Gefährten, vom Bagger bis zum | |
Schweißgerät, um mitzuhelfen, und sie blieben auch zum Feierabendbier. | |
Für Kunststudent Leon Bischinger war das sehr erfreulich. „Das mit der | |
Kapsel und dem Umbau der Halle war ein greifbares Vorhaben, daher haben | |
sich zwischen allen Beteiligten schnell tiefgreifende Gespräche ergeben, | |
auch wenn die Menschen ganz unterschiedliche Hintergründe haben“, sagt er. | |
Er sei gespannt, ob sich diese Kontakte nun auch am neuen Begegnungsort des | |
Dorfs fortsetzen. | |
Am Abend des 5. Mai ist die Zeitkapsel neu befüllt: nun richtiggehend | |
vollgestopft mit den neuen Texten, mit dem Inhalt der alten Zeitkapseln, | |
mit einer Ausgabe der Märkischen Oderzeitung des Tages, mit einem aktuellen | |
Foto der anwesenden Neuendorfer. Bischinger versiegelt sie mit lila Wachs, | |
und dann überträgt eine wackelige Handkamera das Bild von dem Loch in der | |
Kirchturmwand in den Kirchenraum. Aufgedreht und gespannt laufen die Kinder | |
herum und gucken zu. Und wer weiß, vielleicht wird sich in 60 oder 70 | |
Jahren eines dieser Kinder an den Abend im Mai 2023 erinnern, anderen | |
Neuendorfern davon erzählen und mit ihnen zusammen die Kirchturmwand | |
wiederum aufklopfen, um zu sehen, was die Neuendorfer in der Vergangenheit | |
so wichtig fanden, dass sie es dort einmauerten. | |
Damit die Neuendorfer*innen der Zukunft den Fund direkt feiern können, | |
stellen Reinhard Dase und der Pastor vor dem Einmauern auch noch eine | |
Flasche Schnaps neben die Zeitkapsel. Und bald sind Kapsel und Schnaps | |
hinter dem feuchten Mörtel verschwunden. | |
Transparenzhinweis: Der im Text zitierte Bernd Pickert vom Verein | |
Geschichte hat Zukunft hat Politologie studiert und ist Redakteur der taz. | |
12 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://kirchturmspitze-ne.wixsite.com/my-site/kirchturmsuche | |
[2] http://www.kulturscheune-im-sande.de/ | |
[3] /Denkmal-fuer-Hachschara-Landgut/!5520160 | |
[4] https://geschichte-hat-zukunft.org/gutshof-mit-geschichte | |
## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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