# taz.de -- Debatte über Silvesternacht: Alis im Wunderland | |
> Nach dem unruhigen Silvester in Berlin entdecken manche ihren Fetisch für | |
> migrantische Vornamen. Es ist ein einziger, sich wiederholender Wahnsinn. | |
Bild: Silvester hat in Berlin Spuren hinterlassen | |
Der Typ war bereits mehrere Male kopfschüttelnd an mir vorbeigelaufen. Erst | |
glotzte er auf mein Namensschild am Revers, dann starrte er mich an, als | |
wäre er im Zoo. Der Vorhang im Berliner Wintergarten Varieté war längst | |
gefallen, einige Besucher nippten noch an ihren Gläsern. Ich stand an der | |
Saaltür und sehnte den Feierabend in meinem Nebenjob herbei. Zum Ende hin | |
verabschiedeten wir freundlich jeden einzelnen Gast, Varieté-Etikette im | |
Anzug. | |
Diesmal konnte der Typ nicht mehr an sich halten, mit einer abfälligen | |
Kopfbewegung zeigte er auf meinen Namen. Die Worte polterten empört aus | |
seinem Mund: „Warum steht’n da nicht Ali drauf?“ „Äh, warum sollte es?… | |
„Na, sie sind doch Türke!?“ „Heißen die alle Ali? Und nee, bin kein Tü… | |
„Aber du wohnst doch in Kreuzberg!!?“ „Und sie? Heißen sie Adolf??“ We… | |
er. | |
Fast zwanzig Jahre ist das her, und der Typ war nicht der junge Kai Wegner, | |
Spitzenkandidat der Berliner CDU mit Fetisch für migrantische Vornamen, es | |
war ein rassistischer Alman irgendwoher aus der deutschen Provinz. | |
Viele Debatten erinnern mich seitdem an diesen Dialog, auch die über die | |
Silvesternacht. Ein einziger sich wiederholender Wahnsinn. Diskussionen wie | |
ein tollwütiger Deutscher Schäferhund im Porzellanladen. | |
Ich wette, genau jetzt, an dieser Stelle schnauft so manch geneigter Leser* | |
vor sich hin, warum ich denn so einseitig sei. Die Gewalt gegen | |
Einsatzkräfte könne man doch nicht gutheißen. Tue ich das etwa? Der | |
Versuch, den Rassismus eines Diskurses zu benennen, verweigert weder die | |
Debatte, noch soll er mögliche kulturelle Aspekte relativieren. Daraus | |
folgt auch keine Forderung nach Straffreiheit für die Täter. | |
Man müsse endlich mal Klartext reden! Von Klarheit aber fehlt jede Spur: | |
Wozu die Rassifizierung von Problemen, die in der Hauptsache soziale | |
Ursachen haben, abgesehen vom Schielen auf anstehende Wahlen? Wäre die | |
kulturelle Herkunft relevante Hauptursache, warum gab es dann an Silvester | |
ähnliche Probleme auch mit Kevin, Atze und Keule? | |
Warum verhindert derselbe Migrationshintergrund bei anderen nicht die | |
Karriere als Polizistin oder Sanitäter? In den drei Ausbildungsjahrgängen | |
bis 2021 war jeder dritte Beamte bei der Berliner Polizei ausländischer | |
Herkunft. Thematisiert wird kaum, dass neben den Einsatzkräften auch andere | |
halfen, zum Beispiel migrantische Nachbarn aus der Neuköllner | |
High-Deck-Siedlung, wo der Reisebus brannte. Sie retteten noch vor dem | |
Eintreffen der Hilfskräfte die Bewohner aus den Stockwerken direkt über dem | |
brennenden Bus, wie der [1][Feuerwehrmann Baris Coban] berichtet. Deutlich | |
leiser, wenn überhaupt, erzählt man, dass auch auf Seiten der Opfer viele | |
eine Migrationsgeschichte haben. | |
Ginge es um wirkliche Lösungen, würde das ganze Bild im Zentrum der Debatte | |
stehen. Dann sprächen wir auch über Racial Profiling in den betroffenen | |
Kiezen, über Vorbehalte bis hin zu offenem Rassismus und Gewalt nicht nur | |
bei der Polizei, auch bei Rettungskräften, wie [2][die taz im vergangenen | |
Jahr herausfand]. Wir wären keine Alis im Wunderland, würden die Merzens | |
und Wegners dieses Landes, reichweitenstarke Medien und freie Radikale in | |
den sozialen Netzwerken tatsächlich ernsthaft differenzieren. Bereits | |
existierende sozio-kulturelle Initiativen in den betroffenen Quartieren | |
stünden dann zum Beispiel im Mittelpunkt. Sie kennen ihre Klientel und | |
besitzen das Knowhow für echte Lösungen, stattdessen bangen sie aber | |
wiederholt um ausreichende Mittel für ihr Engagement. Und wir? Wir läuten | |
die nächste Runde im politisch-medialen Schattenboxen ein. | |
20 Jan 2023 | |
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## AUTOREN | |
Bobby Rafiq | |
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