# taz.de -- Debatte Frauen und Identitätspolitik: Denken ohne Ausschluss | |
> Die Identitätspolitik der Minderheiten hat den „kleinen weißen Mann“ und | |
> die Umverteilung vernachlässigt? Das wird oft behauptet, ist aber falsch. | |
Bild: Einiges passt eben nicht zur Vorstellung von weißer männlicher Dominanz | |
Seit einiger Zeit bin ich an der AfD schuld. Und Leute wie ich sind an | |
Trump schuld. Wir mit unseren identitätspolitischen Frauenforderungen und | |
dem Multikulti-Gerede mitsamt dieser vermaledeiten Political Correctness. | |
Wir tun so unterprivilegiert, dabei geht es uns nur noch darum, dass Frauen | |
in Aufsichtsräten sitzen. | |
Genauer gesagt hat ein Segment der unteren Mittelschicht und ein Segment | |
der Arbeiterschaft rechts gewählt und zu den weißen kleinen Männern kann | |
man eine erkleckliche Zahl von weißen „kleinen Frauen“ rechnen, die aber | |
meist unterschlagen werden. Dieses Vorgehen nennt sich „Frauen vergessen“, | |
aber ach ja, ich soll ja keine Identitätspolitik mehr machen. Und wenn nun | |
die People of Color kommen und finden, sie würden ebenso „entnannt“, also | |
ignoriert, oder die Trans*menschen fordern eigene Toiletten, und dann noch | |
diese Genderideologen in ihrem Elfenbeinturm, dann halten die alle bitte in | |
Zukunft die Klappe, denn sie ärgern damit den weißen kleinen Mann nur noch | |
mehr, der dann wieder AfD wählen muss. | |
Die Aufzählung macht eines gleich sonnenklar: Menschen, die | |
Diskriminierungen abbauen wollen, sollen schweigen. Und leider greifen auch | |
vermeintlich Linke zu dieser Argumentation. | |
Frage eins, eher auf der Identitätsebene: Haben wir den kleinen weißen Mann | |
vergessen? Damit verknüpft Frage zwei: Haben wir die linke Politik | |
vernachlässigt, die Abstiegsängste der Mittelschicht ignoriert, weil die | |
„Kulturlinke“ eben eher von der Globalisierung profitiert? | |
## Enttäuschtes Anspruchsdenken | |
Die erste Frage: Der weiße Mann wurde nicht vergessen, ihm wurden vielmehr | |
einige Zumutungen angetragen. Denn die Antidiskriminierungsaktivist*innen | |
kümmern sich nicht um x-beliebige Randerscheinungen. Sondern sie kümmern | |
sich zufälligerweise genau um die Gruppen, denen der „kleine Mann“, weiß, | |
heterosexuell und cis (also mit seinem Körpergeschlecht einverstanden), und | |
meist auch nicht behindert, sich bisher überlegen fühlen konnte. | |
Nun sollen all diese Gruppen aufgewertet werden, das gefällt dem | |
Anspruchsdenken einiger kleiner (und auch einiger großer) Männer nicht. | |
Wenn die Frauen ihren eigenen Kopf durchsetzen, die Schwarzen auf Respekt | |
drängen, die Transsexuellen eigene Klos wollen, dann passt das nicht zu | |
seiner Vorstellung von weißer männlicher Dominanz. | |
Da diese kleinen Männer das aber nicht laut sagen können (verdammte PC!), | |
stellen sie sich als die wahren Benachteiligten hin. Obwohl sie de facto | |
nur ein paar ihrer Privilegien mit mehr Menschen teilen sollen. Das ist | |
keine egoistische Identitätspolitik, das ist Gemeinschaftspolitik im besten | |
Sinne: Alle sollen teilhaben. | |
Einige der „kleinen Männer“ dagegen kühlen nun ihr Mütchen, indem sie ei… | |
Partei für sich hetzen lassen. Vergessen wir dabei nicht die Frauen, die | |
AfD wählen. Auch sie fühlen sich in der alten Sortierung der Privilegien | |
wohler, dass sie vermeintlich wieder auf die klassische Ehe verlassen | |
können, werten sie höher als das Recht, berufstätig zu sein. Und sie wollen | |
eben ihr Überlegenheitsgefühl gegen People of Color und anderen | |
Minderheiten auch nicht aufgeben. | |
## Identität per Ausschluss | |
Ist Teilhabepolitik „egoistische Identitätspolitik“? Man versucht, | |
Behinderte zu „inkludieren“, weil sie vorher (und größtenteils bis heute) | |
exkludiert waren. Sie haben ihre Identität als Behinderte entwickelt, weil | |
diese zu ihrem Stigma gemacht worden ist. Die Identitäten hat also eher die | |
Mehrheitsgesellschaft kreiert – durch Ausschluss. Schwarze identifizierten | |
sich als Schwarze, nachdem sie jahrhundertelang aufgrund ihrer Hautfarbe zu | |
Sklaven, Kriminellen oder Untermenschen erklärt worden waren. Es war ihre | |
einzige Chance, diesem Stigma etwas entgegenzusetzen. | |
Und dann die Frauen. Sie hatten einen Kampf um die Verfügungsgewalt über | |
ihren Körper auszufechten, dessen eingeschriebene Differenz wieder mal | |
nicht von ihnen stammt, sondern von Kohorten von Theologen, Biologen, | |
Medizinern, kurz Männern, die sie zum „Anderen“ des Mannes erklärt haben. | |
Mit anderen Worten, Identitätspolitik beruht auf einem „Othering“, das | |
jahrtausendelang die dominante Schicht von Männern vorgenommen haben. Man | |
muss ihnen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1 | |
entgegenhalten: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten | |
geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im | |
Geist der Brüderlichkeit begegnen“. | |
Frage 2: Eine ganze Flut von Texten verbindet mit der Identitätspolitik | |
eine Vernachlässigung von Umverteilungsfragen, Themen, die die | |
Linksliberalen angeblich vergessen haben. An dieser These ist viel dran, | |
sie erfasst die AfD-WählerInnen aber nur in Verbindung mit der Betrachtung | |
von Frage 1. Wer nur Umverteilung gewollt hätte, hätte einfach die Linke | |
wählen können. Es geht eben auch um das Nichtertragen von Ansprüchen von | |
Gruppen, die man vorher ganz in Ruhe diskriminiert hat. Aber nun scheint | |
der gesamte Hype um SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz und seine Korrekturen | |
an der Agenda 2010 zu zeigen, dass auch viel für These 2 spricht. | |
Die Agenda 2010 hat nachhaltige Schocks verursacht. Die Armen werden | |
seitdem drangsaliert und gezwungen, schlechte Jobs anzunehmen. Die untere | |
Mittelschicht ist durch den Wegfall der Arbeitslosenhilfe akut vom Abstieg | |
bedroht. | |
Also: Die SPD ist schuld? Nicht nur. „Der dritte Weg“ von Anthony Giddens | |
war die Bibel der europäischen Sozialdemokraten in den Neunzigern, und das | |
nicht von ungefähr. Die Gegenseite hatte es geschafft, linke | |
Umverteilungspolitik als faule Betonierung eines Status quo darzustellen, | |
den „wir“ uns nicht mehr leisten können. Die Gegenseite, das waren die | |
ProfiteurInnen der Globalisierung. Und die sozialdemokratischen Parteien | |
glaubten ihnen, wollten sich fit für den Weltmarkt machen und bauten den | |
Sozialstaat ab. Letztendlich ist die AfD also auch ein Produkt der | |
Sozialdemokratie, die sämtliche kleine Leute im Regen stehen ließ. | |
## Doppelstrategie mit unterschiedlichem Resonanzraum | |
Aber die These lautet ja, dass neben der Sozialdemokratie die | |
linksliberalen, feministischen Identitätsaktivist*innen den „kleinen Mann“ | |
vergessen habe. Aber das stimmt nicht. Anerkennungspolitik und Umverteilung | |
werden seit Jahrzehnten als Doppelstrategie propagiert. Nur hatte die | |
Umverteilung plötzlich keinen Resonanzraum in der (westdeutschen) Politik | |
mehr, aus eben erwähnten Gründen, da blieb die Anerkennungspolitik allein | |
übrig. | |
Man kann das gut erkennen in der Übersetzung der Allgemeinen Erklärung der | |
Menschenrechte in europäische Politik: Artikel 2 der Menschenrechtscharta | |
besagt: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte | |
und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, | |
Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, | |
nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ | |
Die soziale Frage ist in die Antidiskriminierungspolitik einbezogen. Aber | |
als die Europäer ihre Gleichbehandlungspolitik definierten, da waren die | |
drei sozialen Merkmale aus dem Katalog verschwunden. Man kann diese Lücke | |
auch daran erkennen, dass Anerkennungs- und Umverteilungspolitik etwa in | |
der sozialtheoretischen und im feministischen Diskurs gründlich debattiert | |
und schließlich zusammen gedacht wurden. Die feministische Philosophin | |
Nancy Fraser befürwortete einen „perspektivischen Dualismus“, der beides | |
einschließen sollte. | |
Die heute bekanntesten Feministinnen, Angela McRobbie und Laurie Penny, | |
leisten beide eine Kapitalismusanalyse aus feministischer Sicht und | |
plädieren für einen linken Feminismus samt Umverteilung. Das ganze Konzept | |
der Intersektionalität besteht darin, Diskriminierungen aufgrund mehrerer | |
Merkmale, insbesondere „Race, Class, and Gender“, zusammen zu denken. Und | |
in der Praxis haben die Feministinnen nicht nur eine Aufsichtsratsquote für | |
die Reichen durchgesetzt, sie wollen auch eine bessere Anerkennung der | |
Pflegeberufe durch eine gemeinsame Ausbildung und streiten gerade für ein | |
Lohngleichheitsgesetz. Beides dient der Umverteilung. | |
Man kann das fortsetzen: Transpersonen, People of Color, Behinderte wollen | |
alle den Zugang zu besseren Jobs, alles Umverteilungsbemühungen. Man könnte | |
sagen, dass über die Identitätspolitik der „Minderheiten“ die | |
Umverteilungspolitik überhaupt über neoliberale Zeiten hinweggerettet | |
wurde. | |
Und nun? | |
In der Umverteilungspolitik liegt sicher ein Teil der Antwort auf die AfD. | |
Einen anderen aber sollten wir desto stärker betonen, je mehr er unter | |
Beschuss gerät: Antidiskriminierungspolitik und Identitätspolitik sind ein | |
wichtiger Teil dieser Umverteilungspolitik. Jetzt zu kuschen und zugunsten | |
des „kleinen weißen Mannes“ alle anderen Gruppen zu vergessen ist schlicht | |
Verrat an den Menschenrechten. | |
8 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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