# taz.de -- Das Ringen um den Parkraum: Platz da! | |
> Lange galt es als selbstverständlich, dass Autos große Teile des | |
> Stadtraums besetzen dürfen. Jetzt formiert sich auch in Hamburg | |
> Widerstand. | |
Bild: Parkraum oder Verkehrsfläche, wo man sich auch bewegen kann. Das ist die… | |
So richtig voran ging’s erst durch die Pandemie. In den [1][Parkbuchten, wo | |
früher Autos abgestellt wurden], haben Kneipen ganz offiziell ihre Tische | |
und Wetterverschläge installiert. Sie heißen „Gazoline“ (Ironie nicht | |
beabsichtigt) oder auch „Laundrette“, eine Mischung aus Waschsalon und Bar. | |
Um den Kneipen ein Überleben in der Seuchenzeit zu ermöglichen, hat der | |
Hamburger Senat eine heilige Kuh geschlachtet: den Stellplatz fürs Auto. | |
Der Stadtteil Ottensen im Bezirk Altona ist ein Ort, an dem sich Konflikte | |
um den Straßenraum buchstäblich verdichten. Ottensen war in der Mitte des | |
19. Jahrhunderts noch ein Dorf. In unmittelbarer Nachbarschaft zu der | |
holsteinischen Stadt Altona entstanden im Zuge der Industrialisierung: | |
Glashütten, Schiffschrauben- und Kranfabriken. Das geschah ungeplant, | |
sodass ein Viertel mit engen verwinkelten Straßen entstand, in dem | |
Gründerzeithäuser direkt neben Fabriken hochgezogen wurden. Heute ist das | |
charmant, weil es überall in den Straßen kleine Geschäfte, Cafés und | |
Kneipen gibt. | |
ln dem 2,8 Quadratkilometer großen Stadtteil wohnen 36.000 Menschen. Das | |
ist eine Menge, aber nicht so viel wie in anderen, großzügiger geplanten | |
Gründerzeitquartieren. 41 Prozent der Wahlberechtigten haben bei der | |
jüngsten Bundestagswahl ihre Stimme den Grünen gegeben. Nur 27 Prozent der | |
Einwohner besitzen ein Auto, gegenüber hamburgweit 34 Prozent. Aber schon | |
diese 27 Prozent tun sich schwer, ihre Pkw in den engen Straßen | |
unterzubringen. Dazu kommen die Leute, die hier einkaufen, Sport treiben, | |
ausgehen oder ihre Kinder in den Kindergarten bringen wollen. | |
Es ist voll in Ottensen. Wer hier durchfahren will, muss sich auskennen. Er | |
muss sich aufs Schritttempo beschränken wegen der Radfahrer, die ihm | |
entgegen kommen, und wegen der Fußgänger, die von den schmalen Gehsteigen | |
auf die Straße treten. Abends beim Feiern sitzen die Leute auf den | |
Kantsteinen, weil sie rauchen wollen oder die Bar überfüllt ist. Es ist ein | |
erzwungenes Miteinander, das eigentlich ganz gut funktioniert, zumindest | |
wenn man nicht hier wohnt. | |
Vielen Anwohnern ist das zu viel. 2017 haben sie eine Bürgerinitiative für | |
eine Verkehrswende gegründet. „Wir finden, dass unser Stadtteil extrem von | |
Autos dominiert ist“, schreiben die Leute von [2][Ottenser gestalten]. | |
Durchfahrende Autos, ihr Lärm und ihre Abgase gefährdeten zunehmend die | |
Gesundheit und Sicherheit der Anwohner. „Wir wollen diesen Trend umkehren“, | |
sagt Marit Petersen von Ottenser gestalten. | |
Die Initiative fordert, den Durchgangsverkehr aus dem Viertel | |
herauszuhalten und stattdessen die Alternativen zum Kfz-Verkehr zu stärken. | |
Der Lieferverkehr soll umweltfreundlich werden oder auf bestimmte Zeiten | |
und Zonen beschränkt werden. Und schließlich soll es „neue grüne Oasen | |
geben“. Dafür sollen die Parkplätze im Straßenraum reduziert, zweiseitiges | |
Parken und Parken auf Bürgersteigen unterbunden werden. Den Ausgleich | |
sollen Anwohnerparkzonen, neue Carsharing-Stationen und Parkhäuser | |
schaffen. | |
Den Impuls hat die Politik aufgegriffen. CDU und Grüne in der | |
Bezirksversammlung – dem Stadtteilparlament – beschlossen, eine | |
Experimentierklausel im Straßenverkehrsgesetz zu nutzen, und einen | |
Verkehrsversuch zu starten. | |
## Den öffentlichen Raum zurückgeben | |
Die hohe Einwohnerdichte des Stadtteils sei eigentlich ein Vorteil, sagt | |
der Grünen-Bezirksabgeordnete Holger Sülberg, weil nachhaltig im Sinne von | |
ressourcenschonend. Zugleich bedeute sie Stress für die Bewohner. Deshalb | |
müsse es darum gehen, „den Menschen den öffentlichen Raum zurückzugeben“. | |
Für das Projekt sperrten die Behörden im September 2019 einige belebte | |
Straßen im Zentrum des Stadtteils für den Autoverkehr. Arbeiter malten | |
Fahrbahnabschnitte gelb an und mit blau „Ottensen macht Platz“ auf. Die | |
Bevölkerung war aufgefordert, sich des frei gewordenen Raums kreativ zu | |
bemächtigen. Es wurden Sitzgelegenheiten aufgebaut. Bei einem Straßenfest | |
rollten Anwohner Kunstrasen aus und spielten Tischtennis auf der Straße. | |
„Es soll ein Flanierquartier werden“, hatte Tim Schmuckall, Fraktionsvize | |
der CDU-Bezirksfraktion angekündigt. Ganz autofrei wurde das Quartier | |
freilich nicht. Ausnahmen galten für Krankentransporte, Taxen und | |
MarkthändlerInnen. Lieferanten dürfen zwischen 23 und elf Uhr einfahren, | |
AnwohnerInnen brauchen eine Sondergenehmigung. 163 Parkplätze fielen auf | |
fünf halben Straßen weg. Wer keinen privaten Stellplatz hatte, musste sich | |
einen Platz in den umliegenden, wenige Gehminuten entfernten Parkhäusern | |
suchen. | |
Auf Kritik stieß der Verkehrsversuch insbesondere bei Gewerbetreibenden. | |
„Ich bin seit ewigen Zeiten in Ottensen“, sagt die Apothekerin Anette | |
Kaiser-Villnow, die in der Bürgerinitiative [3][Ottensen bewegt] aktiv ist. | |
Immer wieder seien in der Vergangenheit Vorschläge gemacht worden, wie sich | |
die [4][Verkehrssituation im Stadtteil verbessern] ließe. „Ich bin nicht | |
dagegen, dass etwas verändert wird“, versichert sie. Die Zahl der | |
Parkplätze zu verringern, wäre sicher eine gute Sache, wenn der Raum | |
sinnvoll genützt würde. | |
Kaiser-Villnow stört sich aber an der Art der Umsetzung. Die Anwohner seien | |
nicht „mitgenommen“ worden, was die Atmosphäre im Stadtteil vergiftet habe. | |
„Als Autofahrer wurden Sie beworfen, beschimpft und angehalten“, erinnert | |
sie sich. Dabei sei ja nicht zu sehen gewesen, ob jemand zu seinem privaten | |
Parkplatz wollte. | |
Für die Betriebe sie eine Beschränkung der Lieferzeiten problematisch. Ein | |
Wäscherei litt darunter, dass ihre Kunden nicht mehr einfach vor der Tür | |
parken konnten. Und was, fragt Kaiser-Villnow, sei eigentlich mit „Leuten | |
jenseits der 75, die darauf angewiesen sind, dass sie von ihren Kindern | |
abgeholt werden“? | |
Der Modellversuch sollte ein halbes Jahr laufen. Nach fünf Monaten wurde er | |
von zwei Anwohnern per Eilantrag beim Verwaltungsgericht gestoppt. Die | |
temporäre Verkehrsberuhigung sei wahrscheinlich rechtswidrig gewesen, weil | |
den damit verbundenen Eingriffen in die Rechte der gewerblichen Anlieger | |
die gesetzliche Grundlage fehle, urteilte das Gericht. | |
Verkehrsbeschränkungen zu Erprobungs- und Forschungszwecken dürften nur bei | |
einer Gefahr für Personen oder Sachgüter angeordnet werden. | |
Die fünf Monate Projektdauer reichten der Technischen Universität (TU) | |
Hamburg, den Modellversuch auszuwerten. Vor allem die Anwohner äußerten | |
sich bei einer Befragung positiv. Das Projekt habe mehr Verkehrssicherheit | |
für Kinder und auch mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer gebracht. 56 | |
Prozent aller Befragten waren dafür, das Projekt fortzusetzen. Nur 17 | |
Prozent wünschten sich den alten Zustand zurück. | |
Unter den Gewerbetreibenden bewerteten 44 Prozent das abgelaufene | |
Modellprojekt eher positiv, 40 Prozent lehnten es eher ab, insbesondere die | |
Gastronomen. Im Falle einer Neuauflage wünschten sich die Gewerbetreibenden | |
eine großzügigere Lösung für den Lieferverkehr. | |
Angesichts der Umfrageergebnisse beschloss die Bezirksversammlung, ernst zu | |
machen. Sie lässt jetzt prüfen, „wie ein autoarmes Quartier in Ottensen | |
ohne ausgewiesene Parkflächen im öffentlichen Raum rechtlich so abgesichert | |
werden kann, dass Radverkehr und Taxen, Anliegende mit privaten | |
Stellplätzen im Projektgebiet sowie Lieferanten und Zubringerdienstleister | |
weiterhin fahren dürfen“. | |
Bei dem [5][Freiraum Ottensen] genannten Projekt will die | |
Bezirksversammlung diesmal von Anfang an die Bürger einbinden. Ein | |
dreiwöchiger Onlinedialog erbrachte 700 Beiträge und 1.400 Kommentare. Die | |
Anregungen sollen als Grundlage für ein neues Verkehrskonzept dienen. Ein | |
Beirat aus Vertretern der Zivilgesellschaft einschließlich der | |
widerstreitenden Initiativen soll für allgemeine Akzeptanz sorgen. | |
Bei dem umstrittenen Thema Parken haben die Behörden schon mal angefangen | |
zu handeln. Seit dem 5. April gilt in Ottensen im Wesentlichen das | |
„Bewohnerparken“. Gegen eine Jahresgebühr können Anwohner ihr Auto | |
jederzeit im öffentlichen Raum abstellen. Alle anderen zahlen zwei Euro die | |
Stunde für in der Regel maximal drei Stunden. | |
Bei einer Umfrage des Landesbetriebs Verkehr hatten 74 Prozent von 4.900 | |
befragten Anwohnern das Bewohnerparken für gut befunden. Verkehrsstaatsrat | |
Martin Bill (Grüne) zeigte sich erfreut: Das werde „den | |
Parkplatzsuchverkehr verringern, die Lebensqualität der Menschen vor Ort | |
erhöhen und gleichzeitig zum Erfolg der Mobilitätswende in Hamburg | |
beitragen“. | |
Auch die skeptische Initiative Ottensen bewegt findet das Bewohnerparken | |
richtig. „Wir sehen, dass der öffentliche Raum begrenzt und sehr wertvoll | |
ist“, sagt Ina Licari von der Initiative. | |
[6][2.000 Euro kostet der Quadratmeter Grund in Ottensen durchschnittlich] | |
nach Angaben des Statistikamtes Nord, macht 24.000 Euro für zwölf | |
Quadratmeter Parkplatz. Bei einem Mietzins von drei Prozent im Jahr müsste | |
die Parkplatzmiete 720 Euro im Jahr gleich 60 Euro im Monat betragen. | |
Tatsächlich soll das Bewohnerparken 45 Euro kosten – im Jahr. | |
23 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Hamburger-Parklets-Projekt-startet/!5785947 | |
[2] https://ottensergestalten.de/ | |
[3] https://ottensenbewegt.de/ | |
[4] /Streit-im-gruenen-Hamburg-Ottensen/!5713933 | |
[5] https://www.hamburg.de/altona/freiraumottensen/ | |
[6] https://www.statistik-nord.de/zahlen-fakten/regionalstatistik-datenbanken-u… | |
## AUTOREN | |
Gernot Knödler | |
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