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# taz.de -- Parkende Autos: Dieser Platz ist besetzt
> Überall stehen Autos an den Straßen herum. Ein Flächenfraß. Dass der
> überhaupt erlaubt ist, verdanken die Städte dem Bremer
> Laternenparker-Urteil.
Bild: Drinnen wird gewohnt, draußen steht das Auto
Unsere Städte sind vollgestopft mit Autos. Ganze Straßenzüge sind vom
sogenannten ruhenden Verkehr besetzt. Es scheint, als gehöre das Auto zur
Stadt [1][wie Möbel zur Wohnung].
Doch das war nicht immer so. Es gab Zeiten in Deutschland, da war das
Parken im öffentlichen Raum die Ausnahme und nicht die Regel. Zeiten, in
denen die Zulassung für ein Auto explizit an den Besitz eines privaten
Stellplatzes gekoppelt war. Was heute wie eine radikale Idee erscheint, war
bis in die 1960er Jahre in Deutschland geltendes Recht. Erst ein
bahnbrechendes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1966
legalisierte das heute gängige Parken am Straßenrand und gewährte dem Auto
ein Privileg, das bis heute unvermindert besteht.
Was war geschehen? Im Jahr 1957 entschloss sich ein Kaufmann aus Bremen,
seinen Lieferwagen über Nacht einfach in der Nähe seiner Wohnung am
Straßenrand abzustellen und nicht, wie es das damalige Gesetz verlangte,
auf einem privaten Stellplatz. Schnell merkte das Bremer Ordnungsamt, dass
hier ein Gesetzesverstoß vorlag und untersagte dem Fahrer auf Androhung
eines Bußgelds das Parken auf der Straße. Doch der Falschparker zeigte sich
uneinsichtig und parkte erneut am Straßenrand. Nach einer weiteren
Abmahnung zog der Kaufmann vor Gericht und zettelte einen Rechtsstreit an,
der über neun Jahre anhielt und vom Bundesverwaltungsgericht entschieden
werden musste.
Der Rechtsstreit drehte sich im Kern um eine Frage: Fällt das dauerhafte
Abstellen eines privaten Autos im öffentlichen Raum unter den sogenannten
Gemeingebrauch oder nicht? Der Rechtsbegriff „Gemeingebrauch“ garantiert
allen Menschen einen gleichen und kostenfreien Zugang zu öffentlichen
Flächen wie Straßen oder Stadtparks. Das Prinzip: Jeder, der nicht gegen
den Zweck des Gemeingebrauchs handelt, darf die öffentlichen Flächen
nutzen.
Verstößt ein parkendes Auto also gegen den Zweck des Gemeinguts Straße? Bis
1966 beantwortete die deutsche Gesetzgebung diese Frage mit Ja.
Laut Straßenverkehrsordnung waren Straßen dem fließenden Verkehr
vorbehalten und das Parken nur zum kurzen Be- und Entladen oder zum Ein-
und Aussteigen erlaubt. Das längere Parken regelte weiterhin die
Reichsgaragenordnung von 1944, die besagte, dass Autobesitzer:innen
ihre Fahrzeuge nur auf privaten Stellplätzen parken durften.
Doch mit der rasanten Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg war diese
Anforderung immer schwerer einzuhalten. Die Anzahl an Autos übertraf die
der privaten Stellplätze, sodass frischgebackene Autobesitzer:innen
notgedrungen damit begannen, ihre Autos einfach am Straßenrand abzustellen.
Vielerorts wurde dies von den Kommunen geduldet, auch wenn es streng
genommen einen Verstoß gegen die geltende Rechtslage bedeutete.
Als das Bundesverwaltungsgericht nun mit dem Fall des Bremer Kaufmanns
betraut wurde, sollte es die Frage klären, ob Parken Gemeingebrauch sei
oder nicht. Im Urteilsspruch vom 4. März 1966 heißt es im Wortlaut: „In
einer stürmischen Entwicklung seit Anfang der fünfziger Jahre ist das
Automobil in der Bundesrepublik (…) zu einem Gebrauchsgegenstand aller
Bevölkerungskreise geworden. Diese Entwicklung hat der Staat nicht nur
geduldet, sondern gefördert.“
Angesichts des Staatsziels, die Motorisierung der Bevölkerung zu fördern,
und der bereits gängigen Praxis des sogenannten Laternenparkens kamen
Deutschlands oberste Verwaltungsrichter:innen am 4. März 1966 zu
folgendem Schluss: „Damit erweist sich das Abstellen von Kraftfahrzeugen
über Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen an öffentlichen Straßen als
grundsätzlich den Verkehrsbedürfnissen entsprechend und damit als
grundsätzlich verkehrsüblich und gemeinverträglich.“
Kaum ein richterlicher Urteilsspruch sollte für die Städte in den kommenden
Jahrzehnten folgenreicher sein als das „Bremer Laternenparker-Urteil“. Mit
der Billigung des dauerhaften Abstellens von Fahrzeugen am Straßenrand
wurde dem Auto ein Privileg eingeräumt, das unser Stadtbild revolutionierte
und sich tief in der deutschen Rechtsprechung verankert hat. Seit 1966
gilt: Das Parken ist überall im öffentlichen Raum erlaubt, und wer das
Parken einschränken will, braucht dafür gute Gründe.
Die Beweislast liegt also bei der Gemeinde und nicht bei den
Autobesitzer:innen. Mit dieser Rechtslage sehen sich alle Kommunen, die
regulierend in den Parkraum eingreifen möchten, bis heute konfrontiert.
Doch ist ein 57 Jahre altes Urteil überhaupt noch zeitgemäß oder bedarf es
angesichts der ökologischen Herausforderungen, vor der unsere Städte
stehen, einer Korrektur?
Mit dieser Frage beschäftigt sich der Verkehrssoziologe Andreas Knie.
„Dieses Urteil ist völlig aus der Zeit gefallen“, so Knie. „Von einem
Staatsziel der Massenmotorisierung kann längst keine Rede mehr sein.“
Vielmehr sei angesichts des Pariser Klimaabkommens und des
[2][Klima-Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021] der
Klimaschutz zum neuen wichtigen Staatsziel aufgestiegen.
Diese Argumentation könnte Grundlage für einen brisanten Präzedenzfall
sein. Man stelle sich vor, so Andreas Knie, Anwohner:innen würden durch
das Aufstellen von Sofas, Stühlen oder Tischen auf Parkplätzen die
„kontrollierte Grenzüberschreitung“ wagen und die zu erwartende
Ordnungswidrigkeit durch alle Instanzen anfechten. Die Gerichte wären
plötzlich mit der Fragestellung konfrontiert, ob in Zeiten der Klimakrise
die Definition des Autos als „Gemeingebrauch“ noch Gültigkeit besitzt und
ob sie im Sinne des Staatsziels Klimaschutz neu gedeutet werden muss.
Tatsächlich wies das Bundesverwaltungsgericht bereits 1966 in seinem
„Laternenparker- Urteil“ auf die wandelbare Natur des Begriffs
„Gemeingebrauch“ hin und dass sich eine klare Definition nicht ein für alle
Mal festlegen lasse. Die Zurückdrängung des Autos aus dem öffentlichen Raum
könnte neben dem Klimaschutz auch mit den veränderten Verkehrsbedingungen
begründet werden.
In Großstädten wie Berlin verliert das Auto zunehmend an Bedeutung und wird
nur noch für etwa ein Viertel der Wege benutzt. Gleichzeitig stehen dem
Autoverkehr in der Hauptstadt rund 70 Prozent aller Flächen zur Verfügung.
Allein aus Sicht der Flächengerechtigkeit gehörten dem Auto deswegen seine
Privilegien entzogen, so Professor Knie.
Doch was würde geschehen, wenn Gerichte den Argumenten aktivistischer
Anwohner:innen folgen und dem Auto das Privileg des Gemeingebrauchs
entziehen würden? Autobesitzer:innen müssten sich von nun an einen
privaten Stellplatz auf eigenem Grund oder in Parkhäusern suchen. Die
Straßen würden vom stehenden Blech befreit und böten Platz für Grünfläche…
Spielplätze oder die Gastronomie. Es würde eine Revolution unseres
Stadtbilds bedeuten.
Was in Deutschland noch wie eine ferne Utopie klingt, ist in asiatischen
Großstädten längst Realität. In Tokio, Hongkong oder Singapur ist die
Zulassung eines Autos seit jeher an den Besitz eines Stellplatzes gebunden.
Während der Anwohnerparkausweis in Berlin 10,20 Euro pro Jahr kostet, zahlt
man in der japanischen Hauptstadt für einen privaten Stellplatz je nach
Lage zwischen 63 bis 381 Euro im Monat. Etwas weniger radikal ist die
Schweiz. Hier wurde die Beweislast umgekehrt: Im ganzen Land ist das Parken
im öffentlichen Verkehrsraum grundsätzlich verboten, es sei denn, es ist
explizit erlaubt.
Kann die Judikative, die die autogerechte Rechtsprechung in den letzten
Jahrzehnten mitgeschaffen und verteidigt hat, wirklich als Helferin der
Verkehrswende dienen? „Juristischen Aktivismus“ nennt man es, wenn
Richter:innen mit Grundsatzentscheidungen Politik machen.
Das historische Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem die
Regierung aufgefordert wurde, auch die Freiheitsrechte zukünftiger
Generationen zu schützen, ist das beste Beispiel, wie Richter:innen auf
den Lauf der Geschichte einwirken und ethische Grundsatzfragen in eine
bestimmte Richtung lenken. Vielleicht braucht es daher auch bei der
Verkehrswende aktivistische Richter:innen, die veränderte Verhältnisse
anerkennen und alte Urteile revidieren, damit der Rechtsweg für die
Verkehrswende geebnet werden kann.
20 Nov 2023
## LINKS
[1] /Das-Ringen-um-den-Parkraum/!5807133
[2] /Entscheidung-zum-Klimaschutzgesetz/!5763553
## AUTOREN
Ingwar Perowanowitsch
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