# taz.de -- Corona in Kolumbiens Armenvierteln: Wenn die Bagger kommen | |
> Mitten im Lockdown lässt die Stadtverwaltung von Bogotá Häuser in | |
> Armenvierteln abreißen. Die Bewohner*innen wissen nicht, wo sie | |
> hinsollen. | |
Bild: Bei der Zwangsräumung eines Armenviertels am 11. Mai in Bogota | |
BOGOTÁ taz | „Sie sagten uns, dass wir zwei Stunden Zeit hätten, um unsere | |
Sachen zu packen“, berichtet die 33-jährige Patricia Villaraga. „Wir | |
schafften es nicht, wegen unserer kleinen Kinder.“ Während die Polizisten | |
sie hinauszerrten, stürzten um sie bereits die Wände ein. Ihren wenigen | |
Besitz warfen sie auf die Erde. Weil es geregnet hatte, war das meiste | |
danach unbrauchbar. | |
Im Arm hält Villaraga ihren vierjährigen Sohn Santiago. Er ist Epileptiker | |
und hat am Kopf mehrere tiefe Wunden, die noch nicht verheilt sind. „Von | |
dem Tränengas bekam er einen Anfall, stürzte und verletzte sich am Kopf“, | |
sagt seine Mutter. | |
Seitdem sind Villaraga, ihre Söhne und fünf weitere Verwandte bei ihrer | |
Schwägerin Floralba Hernández Quiroga untergekommen. Statt bislang vier | |
leben nun zwölf Menschen im Haus der 36-Jährigen. „Wir müssen überleben u… | |
schauen, wie wir das schaffen“, sagt Floralba Hernández. | |
Vor 20 Jahren floh sie vor dem bewaffneten Konflikt aus ihrer Region in die | |
Hauptstadt Bogotá, baute sich als Straßenverkäuferin für sich und ihre | |
Familie eine bescheidene Existenz auf. Jetzt habe sie Angst, dass der | |
nächste Tag auch ihr die Bagger bringt, sagt die kleine, rundliche Frau mit | |
der leisen Stimme. Dass die Polizisten sie und ihre Familie aus dem Haus | |
schleifen und es abreißen. Eben so, wie es ihrer Schwägerin Patricia | |
Villaraga passiert ist vor zwei Wochen, die mit ihrer Familie weiter unten | |
an diesem steilen Hang in Altos de la Estancia wohnte. | |
## Mindestens 350 Hütten wurden bisher zerstört | |
Seit über 20 Jahren gilt der steile Hang in Altos de la Estancia im armen | |
Stadtbezirk Ciudad Bolívar als Hochrisikogebiet für Erdrutsche. Die 72 | |
Hektar über dem Häusermeer im armen Süden von Bogotá sind eines der größt… | |
derartigen Gebiete in Lateinamerika. Der Distrikt Bogotá hat Millionen in | |
Kanäle und Auffangmauern investiert, um unterirdisches Wasser, Regenfälle | |
und Bäche abzuleiten. | |
Das Institut für Risiken und Klimawandel des Distrikts beobachtet seit | |
Jahren Erdbewegungen. Immer wieder schlug es Alarm. Seit 2010 gilt der | |
Boden offiziell als geschützt, ist Teil eines Umweltkonzepts, das dort nur | |
ein Naherholungsgebiet zulässt. | |
Trotzdem stehen viele der Hütten hier seit über zehn Jahren. Insgesamt | |
sollen es 500 bis 600 Familien sein, die hier leben. Sie verdienen sich | |
ihren Lebensunterhalt als Müllsammler*innen oder fliegende Händler*innen. | |
Viele von ihnen sind wie Floralba Hernández Vertriebene. Ausgerechnet | |
während der Pandemie, [1][wo alle Kolumbianer*innen seit Monaten zu Hause | |
bleiben sollen], beginnt die Distriktregierung mit dem Abriss ihrer Häuser. | |
Mindestens 350 Hütten wurden unter Einsatz der Polizei bisher dem Erdboden | |
gleichgemacht, weitere sollen folgen. Hugo Acero, Sekretär für Sicherheit, | |
[2][nannte es in einer Pressekonferenz] vor gut einer Woche ein | |
„menschliches und ein Naturdrama“. | |
Laut Acero eignen sich paramilitärische, kriminelle Strukturen Altos de la | |
Estancia und andere Gegenden der Stadt illegal an, die man nicht besiedeln | |
dürfe. Sie verkauften dort Grundstücke an arme Menschen, bauten innerhalb | |
dieser Siedlungen [3][einen Drogenhandel] auf. „In vielen Fällen vertreiben | |
die Kriminellen die Familien, wenn sie sich niedergelassen haben, und | |
verkaufen das Land noch teurer an andere. Das ist eine regelrechte Mafia.“ | |
Der Hang ist oberhalb der Brache übersät mit Hütten. Die besseren sind wie | |
die von Floralba Hernández – zusammengezimmert aus Latten, Plastikwänden, | |
Planen, mit Wellblechdach, Kochstelle, Wasserschlauch und Eimern als | |
Klospülung und Dusche. Die einfachen sind Verschläge aus Planen, vor denen | |
die Bewohner*innen auf offenem Feuer ihr Essen kochen. Dazwischen | |
Trampelpfade, hohes Gras, Müll und die Haufen der Hunde, die in Gruppen | |
zwischen den Behausungen umherziehen. | |
Die Situation habe sich durch das Coronavirus verschärft, weil Menschen | |
erst ihre Arbeit und dann ihre Wohnung verloren haben – und sich in ihrer | |
Verzweiflung in Altos de la Estancia eine Hütte zusammenzimmerten. Fünf | |
solcher illegaler Siedlungsgebiete gibt es laut Sicherheitssekretär Acero | |
derzeit in Bogotá – sogar im reichen Norden. Die Staatsanwaltschaft | |
ermittle zu den Hintermännern. Es werde „sehr bald Resultate geben“, | |
kündigte Acero an. | |
Aber die Aktion in Altos de la Estancia trifft nicht die Paramilitärs, | |
sondern die Ärmsten der Armen – mit Tränengas und Gewalt. Die | |
Stadtverwaltung schickte nicht nur die Bagger, sondern auch Polizei und den | |
Esmad, die berüchtigte Antiaufstandseinheit der Polizei. | |
Der vierjährige Santiago, der durch das Tränengas einen epileptischen | |
Anfall bekam, stürzte und sich schwer verletzte, ist nicht das einzige | |
Opfer. Der eindrücklichste Fall ist der eines Jugendlichen aus Venezuela, | |
dem laut Aussage seines Vaters ein Polizist eine Tränengaspatrone an den | |
Kopf schoss, als er mit seiner kleinen Schwester an der Hand aus der | |
zusammenstürzenden Hütte floh. Der Junge erlitt einen Schädelbruch, ist | |
aber noch am Leben. Ein Baby soll an den Folgen des Tränengases gestorben | |
sein. | |
## Mit Schlägen und Tritten aus den Häusern getrieben | |
Freiwillige der sozialen politischen Bewegung Congreso de los Pueblos | |
sammeln seit Tagen Informationen und bereiten Anzeigen vor. „Was hier | |
passiert, ist unerklärlich“, sagt Menschenrechtsaktivist Julián, der zum | |
eigenen Schutz seinen Nachnamen nicht nennen will. „Wie können sie während | |
dieser Pandemie mehr als 150 Polizisten und Antiaufstandspolizisten | |
abziehen, um hier bei den Menschen Angst und Schrecken zu verbreiten?“ | |
Unter den Opfern seien Senior*innen, Mütter, Väter, Alleinerziehende, | |
Behinderte. „Sie haben uns gesagt, dass die Polizei sie mit Tritten und | |
Schlägen aus ihren Häusern getrieben hat. Auch mit Beleidigungen und | |
Bedrohungen, dass sie ihnen die Kinder wegnehmen würden.“ Vieles davon ist | |
mit Videos belegt. | |
Eine Räumung in Zeiten von Quarantäne sei zudem illegal, sagt der | |
Menschenrechtsaktivist. Tatsächlich hat [4][Präsident Iván Duque] per | |
Dekret bis 30. Juni Mieterhöhungen und jede Art von Zwangsräumungen | |
verboten – selbst wenn Mieter*innen vorerst nicht zahlen können. Doch genau | |
das passiert in Bogotá jeden Tag – während städtische und staatliche Hilfe | |
nur unzureichend ankommt. Wie in einem anderen Teil des Bezirks Ciudad | |
Bolivar. | |
Im Viertel Brisas del Volador stehen in einer Seitenstraße vor einem | |
Lagerraum indigene Embera Katío an. Freiwillige einer Stiftung verteilen | |
Essenspakete. Die Embera-Frauen tragen bunte Kleider und Perlenketten, | |
unter ihnen sind einige Schwangere und Mütter mit kleinen Kindern. Sie | |
kommen einander nahe, einige können sich keinen Mundschutz leisten. Manche | |
von ihnen haben die verregnete Nacht auf einem Sportplatz verbracht und nur | |
etwas im Magen, weil Anwohner*innen ihnen Essen brachten. | |
## „Drei Mal hat die Regierung ihr Versprechen nicht gehalten“ | |
Seit Beginn der Quarantäne haben die indigenen Embera Katío, eine Gruppe | |
von schätzungsweise 300 Menschen, innerhalb von Bogotá drei Mal ihr Dach | |
überm Kopf verloren. Vermieter warfen sie hinaus, weil sie wegen der | |
Quarantäne ihr Kunsthandwerk nicht mehr auf der Straße verkaufen und die | |
Miete nicht bezahlen konnten. Sie demonstrierten, forderten Hilfe, | |
besetzten in ihrer Verzweiflung ein leer stehendes Gebäude in Ciudad | |
Bolivar – und wurden von der Polizei mit Gewalt und Tränengas vertrieben. | |
Mehrere wurden verletzt. | |
Schließlich versprach die Stadt, für die Familien Wohnungen in Brisas del | |
Volador und Nachbarvierteln anzumieten. Das war vor zwei Monaten, bezahlt | |
hat sie bis heute nicht, sagt Vermieterin Blanca Cardenas, Sprecherin des | |
Viertels. | |
Nach ihrer Schätzung haben in der armen Gegend 25 Familien etwa 65 | |
Embera-Familien Unterschlupf gewährt – und können ohne die staatliche Miete | |
nicht einmal die während der Pandemie gestiegenen Nebenkosten zahlen. Da | |
sie die Not der Vermieter*innen sehen, haben die Embera teils freiwillig | |
die Wohnungen wieder geräumt, bestätigen diese der taz. | |
„Drei Mal hat die Regierung ihr Versprechen nicht gehalten“, sagt | |
Embera-Anführerin Rosmira Campo Murillo. Manche der Embera sind schon | |
anderthalb Jahren in der Stadt, andere, wie Rosmira Campo, erst seit drei | |
Monaten. Alle wurden sie [5][in ihren Reservaten von bewaffneten Gruppen | |
bedroht]. Rosmira Campos Gemeinschaft, weil sie sich gegen Bergbau auf | |
ihrem Territorium wehrten. Als Zettel mit Morddrohungen auftauchten, flohen | |
sie. „Wir gehen nie mehr zurück“, sagt sie. | |
Anmerkung: Am Erscheinungstag dieses Artikels informierte die | |
Stadtverwaltung Floralba Hernández, dass sie und die restlichen Familien in | |
Altos de la Estancia zwei Tage hätten, um zu packen. Dann würden auch ihre | |
Häuser abgerissen. Ein Angebot, wohin sie dann ziehen könne mit ihrer | |
Familie, habe sie nicht erhalten, sagt Hernández. | |
26 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Morde-in-Kolumbien/!5678156 | |
[2] https://www.facebook.com/watch/live/?v=753852565019412&ref=watch_permal… | |
[3] /Drogenumschlagplatz-Ostafrika/!5683929 | |
[4] /Neuer-Praesident-in-Kolumbien/!5513668 | |
[5] /Indigene-in-Kolumbien/!5676082 | |
## AUTOREN | |
Katharina Wojczenko | |
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