| # taz.de -- Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“: Im Lügengebäude | |
| > Missbrauch und Rassismus waren in der Dozier School for Boys in Florida | |
| > systemisch. Davon handelt Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“. | |
| Bild: Blutspuren auf der Wand des „Weissen Hauses“ der Arthur G. Dozier Sch… | |
| Politische Romane sind eine zwiespältige Angelegenheit. Sie stehen unter | |
| dem Verdacht, die Mittel der Literatur als Instrument der Propaganda zu | |
| verwenden. Bekannt ist [1][James Baldwins] strenges Verdikt über den | |
| berühmten Anti-Sklaverei-Roman „Onkel Toms Hütte“ von Harriet Beecher | |
| Stowe. | |
| Der Roman sei ein schlechtes, ein sentimentales Buch, das als Literatur und | |
| als politische Intervention gleichermaßen scheitert, weil es beide Ebenen | |
| auf ungute Art vermengt, weil hier der Kitsch der Literatur auf den Kitsch | |
| eines schwachen politischen Denkens stößt. Baldwins Fazit: „Literatur und | |
| Soziologie sind nicht dasselbe.“ | |
| Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“ ist ein politischer Roman, der die | |
| Probleme politischer Literatur nach Möglichkeit vermeidet – ein Beispiel | |
| dafür, wie eine gelungene engagierte Literatur heute aussehen könnte, die | |
| nicht nur agitiert, sondern auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen | |
| kann. | |
| Whitehead verarbeitet die reale Geschichte der Dozier School for Boys in | |
| Florida – eine Besserungsanstalt für „schwer erziehbare“ Jugendliche, wo | |
| über einen Zeitraum von über 100 Jahren junge Männer gefoltert, | |
| vergewaltigt und ermordet wurden. | |
| ## Der Sommer der Proteste gegen Polizeigewalt | |
| Der Autor selbst sagte im Interview mit dem New Yorker, er habe sich im | |
| Sommer 2014, als er zum ersten Mal von den Verbrechen an der Dozier School | |
| hörte, nutzlos gefühlt. Es war der Sommer der Proteste gegen Polizeigewalt | |
| in Ferguson. Und über Dozier zu schreiben, habe ihm dabei geholfen, sich | |
| weniger nutzlos zu fühlen. | |
| Entstanden ist der Roman also aus einem Bedürfnis heraus, sich in den | |
| politischen Kämpfen der Gegenwart als Schriftsteller nützlich zu machen – | |
| ein Bedürfnis, dessen Aktualität sich kaum bestreiten lässt: In Zeiten | |
| Donald Trumps und #BlackLivesMatter ist es angezeigt, das moderne | |
| Ressentiment gegen Protestliteratur aufzugeben, besonders wenn sie so gut | |
| gemacht ist wie „Die Nickel Boys“. | |
| Erzählt wird die Geschichte der „Nickel School“ als Analyse eines | |
| rassistischen Systems. Der Autor nutzt dabei die Freiheiten und Mittel der | |
| fiktionalen Literatur, um zu verdichten und um Emotionen auszulösen – allen | |
| voran die politisch effektive Emotion der Empörung. | |
| Whitehead hat einen historischen Stoff gefunden, der für sich selbst | |
| spricht, der das bis in die Gegenwart reichende Erbe der Diskriminierung in | |
| horrender Perfektion verkörpert. So kann ein grundsätzliches Problem | |
| politischer Literatur vermieden werden, nämlich die Tendenz, die Botschaft | |
| durch Erzählereingriffe oder Figurenrede vermitteln zu müssen – ein | |
| Problem, das etwa im letzten Teil des Romans „Native Son“ von [2][Richard | |
| Wright] auftritt, wo die Figur eines Anwalts in einem langen Plädoyer | |
| erklärt, wie der Protagonist Bigger Thomas durch ein rassistisches System | |
| zum Mörder gemacht wurde. | |
| Wrights Roman von 1940 gilt heute zu Recht als Klassiker der | |
| Protestliteratur. (Er wurde dieses Jahr von HBO neu verfilmt.) Gleichzeitig | |
| steht er für die Probleme der Gattung: die literarisch wenig dynamischen | |
| Einschübe politisch-theoretischer Analyse und die Funktionalisierung der | |
| Figuren als Typen. | |
| ## Bittere Pointen | |
| Die Funktionalisierung der Figuren ist eine Eigenschaft politisch | |
| engagierter Romane, die sich kaum ganz vermeiden lässt. Politische Wirkung | |
| geht immer auf Kosten von moralischer und charakterlicher Ambivalenz. Das | |
| gilt auch für den Protagonisten von „Die Nickel Boys“. Curtis Elwood ist in | |
| vielfacher Hinsicht das Gegenteil von Bigger Thomas, der kein politisches | |
| Bewusstsein besitzt und dessen unkontrollierte blinde Wut ihn zu einem | |
| destruktiven Charakter macht. | |
| Elwood dagegen ist bildungshungrig und aufgeklärt, ausgestattet mit dem | |
| brennenden Ehrgeiz, dem Schicksal, das eine rassistische Gesellschaft für | |
| ihn vorgesehen hat, zu entgehen. Er hört die Reden Martin Luther Kings auf | |
| einer Schallplatte und arbeitet in Nebenjobs, um aufs College gehen zu | |
| können. Elwoods tragischer Fehler ist der naive Glaube an die | |
| transformative Kraft der Bildung in einem System, das darauf angelegt ist, | |
| ihn zu vernichten. | |
| Hier zeigt sich dann auch der Vorteil der einfachen Charakterisierung: | |
| Gerade weil Elwood ein uneingeschränkt guter Mensch ist, dem die | |
| uneingeschränkt bösen Vertreter einer rassistischen Institution | |
| gegenüberstehen, trifft sein unverschuldetes Scheitern die Leser*innen mit | |
| besonderer Wucht. | |
| Whitehead gelingt es, den Gedanken der Meritokratie als ideologische | |
| Propaganda zu entlarven, und zwar zum einen, indem er dem naiv-integren | |
| Elwood einen weiteren Insassen der „Besserungsanstalt“, den | |
| sympathisch-zynischen Turner, beiseite stellt. Zum anderen, indem er | |
| zahlreiche bittere Pointen über die Romanhandlung verteilt. Diese Pointen | |
| erzeugen schmerzhafte Momente der Erkenntnis, ohne dabei auf plumpe Art | |
| transparent zu sein. | |
| ## Ein Lexikon, dessen Seiten sich als leer erweisen | |
| Das beginnt damit, dass Elwood ausgerechnet deshalb verhaftet und ins | |
| Nickel geschickt wird, weil er auf dem Weg zum College aus Geldmangel | |
| trampen muss und in ein gestohlenes Auto steigt. Schon auf dem Weg zur | |
| erhofften emanzipativen Bildung wird Elwood also von den Vertretern des | |
| Systems abgefangen. Hier spiegelt sich eine frühe Szene des Romans, in der | |
| Elwood in einem Abspülwettbewerb ein Lexikon gewinnt, dessen Seiten sich | |
| später als leer erweisen. | |
| Zu Beginn seiner Zeit im Nickel äußert sich Elwood hoffnungsfroh über das | |
| Bildungsangebot der Institution, der Aufseher verweist auf den | |
| erzieherischen Segen der Feldarbeit. Und tatsächlich ist das | |
| Bildungsangebot der sogenannten Schule kaum existent; stattdessen werden | |
| die Jugendlichen als billige Arbeitskraft ausgebeutet. Die Nickel School | |
| ist eine Institution, die unter dem Deckmantel von Bildung und Besserung | |
| das Zwangssystem der Sklaverei reproduziert. | |
| Auch die allgegenwärtige Gewalt innerhalb der Institution ist geprägt von | |
| grausamen Pointen. Geprügelt werden die Jugendlichen in einem Gebäude, das | |
| das „Weiße Haus“ genannt wird oder auch „Eiscreme-Fabrik“, weil man es… | |
| schillernd bunten Blessuren verließ“. Der Ort, an dem Vergewaltigungen | |
| stattfinden, heißt „Lover’s Lane“. | |
| Wie sich zeigt, wird politische Analyse in „Die Nickel Boys“ vor allem mit | |
| dem Instrument der poetischen Ironie in ihrer bittersten Form | |
| vorangetrieben. Die Botschaft lautet: Hinter dem Lügengebäude der hehren | |
| Ideen, das eine Gesellschaft aufgebaut hat, steht das stabile System | |
| rassistischer Ungleichheit. Unter der Oberfläche einer | |
| Fortschrittsgeschichte verbirgt sich eine Geschichte der Gewalt. | |
| ## Der geheime Friedhof der Schule | |
| Der Roman beginnt mit dem zentralen Bild der Gräber, die in der Gegenwart | |
| der Erzählung im geheimen Friedhof der Schule entdeckt werden. Diese | |
| Exhumierung ist ein Verweis auf den Horror der realen Geschichte und steht | |
| gleichzeitig stellvertretend für das politisch-poetische Projekt des | |
| Romans: eine Archäologie der Geschichte des systematischen Rassismus in den | |
| USA. | |
| Wie erzählt man diese Geschichte, ohne instrumentell oder gar | |
| sensationslüstern mit realem Leiden umzugehen? Whitehead nutzt eine | |
| zurückgenommene Form erlebter Rede, die einerseits die respektvolle Distanz | |
| zum Schicksal der Betroffenen aufbaut, andererseits Nähe erzeugt, indem er | |
| einen alltagssprachlich-sardonische Ton anschlägt, der die Stimme der | |
| Jugendlichen durchscheinen lässt. | |
| Leider ist die Übersetzung dieser Herausforderung nicht immer gewachsen. | |
| Ständig stolpert man über seltsam antiquierten Jugendwortschatz. Essen wird | |
| „verputzt“ oder „gefuttert“, es wird „malocht“, Menschen werden | |
| „vermöbelt“, Jugendliche sind „Rabauken“, „Halbstarke“ oder „Kid… | |
| dass Figuren einfach weggehen, fliehen oder verschwinden, müssen sie | |
| „verduften“ oder „abzwitschern“. Weitere Beispiele ließen sich anführ… | |
| (Auftritte haben: eine „üppige Oberweite“, ein „ungehobelter Rotschopf�… | |
| schließlich auch ein unbegreiflicher „Wutbürger“). | |
| Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass die Erzählung seltsam brav und | |
| harmlos klingt. So heißt es etwa über einen Mann, der sich mit besonderer | |
| Freude an der Folter der Jugendlichen beteiligt, er würde über das | |
| Anstaltsgelände „latschen“. Und ist es wirklich angemessen, dass ein junger | |
| Mann, der durch Isolation in einer dunklen Zelle gebrochen wird, danach als | |
| ein „Trauerkloß“ wieder durch die Welt geht? | |
| Die Entscheidung von Übersetzung und Lektorat, die Erzählung im Deutschen | |
| streckenweise klingen zu lassen wie eine Dokumentation über westdeutsche | |
| Jugendkriminalität in den 1980er Jahren, nimmt dem Roman ein wenig von | |
| seiner politischen Schlagkraft. Das ist unerfreulich, zeigt aber auch, wie | |
| stark die politische Wirkung an ästhetische Fragen gebunden ist. | |
| 8 Jul 2019 | |
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