# taz.de -- Roman von Richard Wright: Um seine Geschichte kämpfen | |
> Einer der großen Romane über die USA zu Zeiten der Segregation ist wieder | |
> aufgelegt worden: „Sohn dieses Landes“ ist packend geschrieben. | |
Bild: Schwarze US-Amerikaner*innen 1956 an einer Haltestelle, getrennt durch ei… | |
Als Bigger Thomas auf seine Hinrichtung wartet, dem Tod auf dem | |
elektrischen Stuhl entgegensieht und alleine mit seinem Anwalt Max in | |
seiner Zelle ist, da fragt sein Verteidiger ihn, ob er noch etwas für ihn | |
tun könne. Bigger, jung, schwarz, verurteilt wegen Mordes und | |
Vergewaltigung an einer weißen Frau, überlegt. | |
Er will etwas sagen, will sich seinem (weißen) Verteidiger erklären, | |
verstummt aber wieder: „Er konnte nicht sprechen. (…) Gab es denn keine | |
Möglichkeit, die Mauer zu durchbrechen, die sie trennte? (…) Er hatte an | |
dem Leben der Menschen nicht teilgenommen. Ihre Mittel der Verständigung, | |
ihre Symbole und Bilder waren ihm fremd geblieben“, denkt er in innerer | |
Rede – und ringt weiter um Worte, die seine Taten beschreiben könnten. | |
Vergeblich. „Wut stieg in ihm hoch. Aber er wusste, dass Wut ihm nichts | |
nützte“, denkt Bigger. | |
Diese Passage in Richard Wrights Roman „Sohn dieses Landes“ verdeutlicht, | |
worum es in diesem Werk (auch) geht: um Sprachlosigkeit, um | |
Artikulationsunfähigkeit, um das Versagen von Worten und Erklärungen, um | |
das Leben in unterschiedlichen Zeichensystemen. Der Roman, 1940 in den USA | |
unter dem Titel „Native Son“ im Original erschienen, gilt als Klassiker des | |
afroamerikanischen sozialen Realismus, kürzlich ist er erstmals vollständig | |
auf Deutsch aufgelegt worden. | |
## Chicago Black Renaissance | |
Wright ist neben Schriftstellerinnen wie Margarete Walker und Musikern wie | |
Louis Armstrong einer der bedeutendsten Vertreter der Chicago Black | |
Renaissance. Er war einer der frühen Förderer James Baldwins, ausgerechnet | |
an „Native Son“ aber übte Baldwin scharfe Kritik: die Figuren seien | |
klischiert, der Text reproduziere das Stereotyp des aggressiven Schwarzen. | |
Wrights Protagonist, Bigger Thomas, stammt aus ärmlichsten Verhältnissen, | |
er lebt mit seinen zwei Geschwistern und seiner Mutter in einer winzigen | |
Einzimmerwohnung in der Southside von Chicago. Seine Mutter beschimpft ihn | |
als arbeitsscheuen Nichtsnutz („Wir brauchten nicht in diesem Loch zu | |
wohnen, wenn du ein richtiger Mann wärst“, sagte sie zu Beginn zu ihm), | |
drängt ihn dazu, einen Job als Chauffeur einer weißen Millionärsfamilie | |
anzunehmen. | |
Am ersten Tag seiner Anstellung bringt er die Tochter der Familie nach | |
Hause, die so betrunken ist, dass er sie in ihr Schlafzimmer tragen muss. | |
Als die – erblindete – Mutter in den Raum tritt, fürchtet Bigger, zusammen | |
mit der weißen Tochter in deren Zimmer erwischt zu werden. Um sie | |
ruhigzustellen, drückt er ihr ein Kissen auf den Mund und erstickt sie. | |
Daraufhin verbrennt er ihre Leiche. Auch seine (dunkelhäutige) Freundin | |
Bessie ermordet er, weil sie zu viel weiß. Nachdem er später auf der Flucht | |
gefasst wird, gilt er öffentlich als Vergewaltiger und Mörder, Forderungen | |
nach Lynchjustiz werden laut. „Verbrennt ihn!“, „Hängt ihn auf!“, | |
„Erschießt ihn!“, fordert der Mob. | |
## Die Frage nach Race und Class | |
Inhaltlich versucht Wright erkennbar, auf ziemlich schlichte Weise Fragen | |
nach Race und Class zusammen zu verhandeln. Schreiben würde man einen | |
solchen Text heute so ganz sicher nicht mehr, in Teilen ist das sehr | |
schematisch angelegt. Die Figuren sind größtenteils eindimensional: Da ist | |
der „Negerpfarrer“, der im Gefängnis zu Bigger hält und ihm den Weg zu Go… | |
weisen will. | |
Da sind die Kommunisten, die „Roten“, die Bigger ausschließlich als Opfer | |
der Verhältnisse sehen (sein Anwalt kommt am Ende gar zu dem Ergebnis, dass | |
er gar „nicht getötet hat“). Da ist die reiche Familie seines ersten | |
Opfers, die Gutes tun will und Böses erntet. Aus heutiger Sicht erinnert | |
das in Teilen eher an sozialistischen Realismus denn an sozialen Realismus, | |
so ungebrochen, wie etwa die Figur des Anwalts Max daherkommt. | |
Aber da ist eben auch noch die Figur des Bigger Thomas. Die Erzählerfigur | |
macht in diesem Fall den Unterschied, denn sie ist eben nicht so klar | |
angelegt. Bigger bereut seine Taten nicht, aber er sieht sich auch nicht im | |
Recht; er denkt sich, es musste so kommen. Er versucht seine Wut, seine | |
Angst, seine Handlungen zu verstehen, ohne dass es ihm gelingt. Zugleich | |
entzieht sich diese Figur allen Zuschreibungen und Vereinnahmungen. | |
## Der eigenen Biographie beraubt | |
Bigger bewundert zwar irgendwie, wie sein kommunistischer Anwalt sich für | |
ihn einsetzt („dass Max überhaupt eine Rede gehalten hatte, um sein Leben | |
zu retten“, erfüllt ihn mit Stolz), aber fern und suspekt bleiben ihm die | |
„Roten“ auch. Bigger ist eine Figur, die von vornherein ihrer eigenen | |
Biografie beraubt ist, die um ihre eigene Geschichte kämpft. Das ist dann | |
doch etwas anderes als – im Wortsinne – Schwarz-Weiß-Malerei. Und auch | |
keine stereotype Figur eines Schwarzen. | |
Wrights packend geschriebener Roman liest sich in diesen Zeiten auch wie | |
eine Warnung. Mithin ist man schockiert, wie sich das Amerika von 2019 | |
wieder an jenes von 1940 annähert. Da passt es, dass dieser Roman mit einer | |
Szene in einer Slum-Wohnung mit Ratten beginnt – Trumps Baltimore-Schmähung | |
und seine „Shithole Countries“-Äußerungen lassen grüßen. Als großer | |
zeitgeschichtlicher Roman über die USA zu Zeiten der Segregation darf „Sohn | |
dieses Landes“ sowieso gelten. | |
4 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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