| # taz.de -- Clubkultur in Kairo: Die dritte Kraft | |
| > Zwei Jahre nach der Revolution auf dem Tahrirplatz ist in Ägypten vieles | |
| > möglich. Mit dem „Ten Cities“-Clubkultur-Projekt des Goethe-Instituts zu | |
| > Gast in Kairo. | |
| Bild: „Ten Cities“-Konzert im Rawabet Theater in Downtown Kairo. | |
| Wir sitzen auf drei lila Plastikstühlen, die uns der Kellner in eine | |
| Ausbuchtung der staubigen Gasse in Downtown-Kairo gestellt hat. Ein gar | |
| nicht so kleiner Lastwagen rollt zentimetergenau an unseren Füßen vorbei. | |
| Ein Roller zwängt sich hupend in die andere Richtung. Dann kommen die | |
| Fahrzeuge wieder rückwärts gerollt: ein alter Chevrolet, der gar nicht so | |
| kleine Lastwagen, andere klapprig wirkende Gefährte. | |
| Der Kellner quert souverän die Straße und stellt ein Tischchen vor uns auf. | |
| Das passt auch noch hin. Wir trinken schwarzen Tee oder Nescafé. Schräg | |
| gegenüber liegt die Townhouse-Galerie. Ein flacher Bau, das Gebäude war | |
| früher eine Autowerkstatt. Vor fünfzehn Jahren ist hier ein unabhängiger | |
| Kunstraum entstanden, der auch mit der aktuellen Demokratiebewegung auf dem | |
| Tahrirplatz verbunden ist. | |
| Heute Abend eröffnet im Townhouse die junge Künstlerin Doa Aly ihre Schau. | |
| Videoaufnahmen von Balletttänzer/innen, vervielfacht auf schmale und breite | |
| Leinwänden in den Raum projiziert. Minimalistisch, körperbetont, frei nach | |
| einem Poem von Ovid, wie sie sagt. | |
| ## Die eigene Stadt zurückerobern | |
| Direkt nebenan werden für den nächsten Abend in den engen Gassen von | |
| Downtown-Kairo die Elektronikmusiker von Diamond Version (Olaf Bender aka | |
| Byetone, Carsten Nicolai aka Alva Noto aus Chemnitz beziehungsweise Berlin) | |
| erwartet. Zusammen mit Wetrobots und Bikya aus Kairo spielen sie auf | |
| Initiative des Goethe-Instituts im Rawabet Theater. Das Goethe-Institut, | |
| Deutschlands Kulturvertretung im Ausland, will mit dem Projekt „Ten Cities“ | |
| europäische und afrikanische Clubkulturen miteinander konfrontieren. Eine | |
| weniger an Repräsentanz denn an Partizipation orientierte Kulturarbeit. | |
| „Kunsträume, Clubkultur und Musik können dazu beitragen, die eigene Stadt | |
| zu entdecken und zurückzuerobern,“ sagt Gerriet Schulz. Er kuratiert das | |
| „Ten Cities“-Projekt zusammen mit Mahmoud Refat in Kairo. Schulz hat | |
| zwanzig Jahre lang in Berlin das WMF betrieben, war Techno- und Clubpionier | |
| der ersten Stunde, als sich nach dem Mauerfall im Zentrum der größten | |
| deutschen Stadt neue Möglichkeiten auftaten. | |
| ## Im Machtvakuum | |
| Berlin und Kairo sind nicht einfach zu vergleichen, so Schulz und Refat – | |
| in Kairo, der größten Stadt Afrikas, leben um die zwanzig Millionen | |
| Menschen – doch die Dinge sind auch in der Metropole am Nil rasant im | |
| Wandel. Globalisierung, Demokratisierung, viele aufgrund unrentabler | |
| Mietgesetze leerstehende Gebäude in der City – manches erinnert an die | |
| Situation zum Ende der DDR. Mit Revolution und Sturz des Mubarak-Regimes | |
| entstand 2011 ein Machtvakuum, das weder Muslimbrüder noch Militärs | |
| eindeutig füllen können und das auch die kulturellen Initiativen für sich | |
| nutzen. | |
| Den Militärs, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen und deren | |
| Führungskaste etwa ein Drittel der Wirtschaft des Landes plan- und | |
| clanwirtschaftlich kontrolliert, geht es um die Verteidigung ihrer | |
| Pfründen. Präsident Mursi und die Muslimbrüder hingegen müssen im | |
| Weltlichen nun die Wirtschaftsmisere des Landes verwalten. Sie zeigen sich | |
| darin bislang so ideologisch wie unfähig. Ihrem islamistischen | |
| Machtanspruch lehnt vor allem auch die dritte Kraft des Landes, die | |
| revolutionäre Demokratiebewegung des Tahrirplatzes, ab. Sie scheint sich | |
| vom Schock der Wahlniederlage 2012 etwas erholt zu haben. | |
| ## Elektronische Musik aus Kairo und Nordafrika | |
| „Ten Cities“-Kokurator Mahmoud Refat residiert mit seinem Label 100 Copies | |
| ebenfalls in Downtown-Kairo, zehn Minuten vom Tahrirplatz entfernt. In dem | |
| leicht verwahrlost wirkenden Gebäude aus der Kolonialzeit in der | |
| Talaat-Harb-Straße empfängt der freundliche, große Mann mit den Rastalocken | |
| im zweiten Stock. Refat produziert in seinem professionell ausgestatteten | |
| Tonstudio elektronische Musik aus Kairo und Nordafrika. Er komponiert auch | |
| Theatermusik, war als Musiker zum Maerz-Festival nach Berlin eingeladen und | |
| natürlich 2011 auf dem Tahrirplatz dabei. | |
| Mahmoud Refat ist eine der umtriebigen Figuren der unabhängigen Kairoer | |
| Club- und Kunstszene, die sich letztlich auf wenige Orte beschränkt. Alle | |
| ein, zwei Wochen verwandelt sich die 100-Copies-Etage in einen Konzertraum: | |
| Elektromusik kostenlos für ein urbanes Publikum, das sich äußerlich kaum | |
| von dem in Europa unterscheidet. | |
| Olaf Bender und Carsten Nicolai von Diamond Version loben die | |
| unkomplizierte Zusammenarbeit mit den Kairoer Kollegen. Knappe vier Tage | |
| hatten sie, um sich auf das Konzert im Rawabet Theater gemeinsam mit den | |
| Musikern aus Kairo vorzubereiten. Mehr gab ihr voller Terminkalender nicht | |
| her, kurz danach folgen Auftritte in New York und Zagreb. „Wir sind alle | |
| auf dem gleichen Level“, sagt Nicolai, „das macht es sehr einfach, zusammen | |
| Musik zu machen.“ Bender war als Byetone bereits kurz zuvor auf dem | |
| D-Caf-Festival in Kairo aufgetreten. Das D-Caf-Festival, 2012 entstanden, | |
| will laut Selbstbeschreibung aus Downtown-Kairo „einen vibrierenden Knoten | |
| der urbanen Weltkultur“ machen. | |
| Es ist verblüffend, wie global und klassenübergreifend in gewissen Szenen | |
| bestimmte popkulturelle (und antiautoritäre!) Haltungen heute verbreitet | |
| sind. „Wir alle machen hier eine Art globalisierte Musik“, sagt Bender, | |
| „die Musik dient uns als universelle Sprache.“ Nicolai spricht von einem | |
| „Common Ground“, der über Kontinente hinweg verbinde. „Sicher gibt es | |
| lokale Einflüsse, aber in vielen sind wir näher zusammen, als wir glauben.“ | |
| ## Wasserflaschen zirkulieren | |
| Deutlich wird dies beim „Ten Cities“-Konzert im Rawabet Theater. Bei | |
| abgebauter Bestuhlung hat sich die Halle schnell mit hunderten Jugendlichen | |
| gefüllt. Dass wir in Downtown-Kairo und nicht in einem Club in Buenos Aires | |
| oder Berlin stehen, darauf weisen die Wasserflaschen hin, die statt der | |
| Bierflaschen in Umlauf sind. Nur wenige der Besucherinnen tragen Kopftuch. | |
| Bei freiem Eintritt ist die Stimmung peacig. Mobilisiert wurde über | |
| Internet und Facebook. Wetrobots, Bikya und Diamond Version betreten | |
| schließlich die Bühne. Das ergibt zusammen sieben Männer, die nun vor den | |
| Tischchen mit den Computern stehen. Jubel als die fünfzigminütige | |
| Elektro-Jam-Session beginnt, in der die Musiker miteinander agieren. Das | |
| Elektro-Big-Band-Modell wirkt gekonnt, sehr lebendig. Nicolai und Bender | |
| führen es mit einer deutlich erkennbaren Kraftwerk-Konnotation. Das kommt | |
| bei der Kairoer Clubjugend an, dürfte aber für die Ohren von | |
| Geheimdienstlern schmerzlich gewesen sein. | |
| Ägypten ist nach wie vor kein freies Land. 2012 wurden in Port Said 74 Fans | |
| des Kairoer Al-Ahly-Fußballklubs, Speerspitze der Demokratiebewegung, | |
| gelyncht. Danach versuchte die Tahrir-Bewegung das Innenministerium zu | |
| stürmen. Auch sexuelle Gewalt gegen Aktivistinnen ist an der Tagesordnung. | |
| Neu ist allerdings, dass auf dem Tahrirplatz vergewaltigte Frauen der | |
| Öffentlichkeit davon berichten. | |
| ## Medien unter Druck | |
| Die Medien stehen generell unter Druck. Im April wurde Comicautor Magdy | |
| El-Shafee vorübergehend verhaftet. Er soll aus einer Demonstration heraus | |
| versucht haben, gleich drei Polizisten umzubringen. Inzwischen soll es ein | |
| Verkehrsdelikt sein. El-Shafees Comic „Metro“ (dt. bei der Edition Moderne) | |
| bleibt verboten. Kein Rechtsstaat, nirgendwo, Korruption überall; der | |
| Zugang zu Chancen und Wohlstand ist weiterhin extrem ungleich. | |
| In der Galerie Mashrabia zeigt die Künstlerin Hala Elkoussy aktuelle Fotos | |
| von den Straßen Kairos. In „Journey Around My Living Room“ setzt sie diese | |
| dokumentarisch in Verbindung mit Orten und Gegenständen ihrer Kindheit. Die | |
| Megacity am Nil, das ist, je nach Perspektive, ein unter Autolawinen | |
| begrabener Moloch – „eine wüste Ansammlung von Hochhausblocks, deren | |
| Anordnung an eine hässliche Reihe fauliger Zähne erinnert“ (Jamal Mahjoub, | |
| „Die dunklen Straßen von Kairo“) – oder im Akt der fotografischen | |
| Selbstaneignung eine menschenleere Gasse mit ausruhendem Hund, die es so | |
| niemals gibt. | |
| 28 May 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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