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# taz.de -- Zur UN-Megastadtkonferenz: Der unstillbare Hunger des Zements
> 30 Jahre Fehlplanung rächen sich nun: Das Wachstum der Stadt Kairo ist
> den Planern längst entglitten. Es droht der totale Verkehrskollaps.
Bild: Ein Moloch, aber ein schöner: Kairo
Kairo taz | Als vor wenigen Tagen die Schule in Kairo nach mehreren Monaten
Sommerferien begann, machten sich allein am östlichen Nilufer der Stadt
mehr als 1,7 Millionen Kinder und Jugendliche morgens auf den Weg in die
Schule. Da sie am ersten Schultag nicht von Bussen abgeholt werden, sondern
privat in die Schule gebracht werden müssen, machen sich an diesem Tag in
Privatautos, öffentlichen Bussen, Taxis aller Größen und Motor-Rikschas
mehr Menschen auf den Weg in die Schule, als die Stadt München Einwohner
hat.
Kairos Verkehr, das ist wie eine zähflüssige Masse, die langsam in der
Wüstensonne trocknet, bevor sie ganz hart wird und zum Stehen kommt. Mit
jedem Jahr kommt diese Masse in der ägyptischen Hauptstadt mit seinen
geschätzten 20 Millionen Einwohnern diesem Punkt der endgültigen Aushärtung
und des vollkommenen Stillstands ein wenig näher. Schon jetzt kommt die
Stadt diesem Zeitpunkt mehrmals im Jahr gefährlich nahe. Etwa im
Fastenmonat Ramadan, wenn es fast alle gleichzeitig eilig haben, zum
Fastenbrechen nach Hause zu kommen. Oder eben zum Schulanfang.
Eine Studie der Weltbank hatte vor zwei Jahren versucht, die Kosten zu
beziffern, die durch Kairos permanenten Stoßverkehr entstehen. Dabei wurde
der volkswirtschaftliche Preis von Verspätungen und den damit
einhergehenden Gesundheitsschäden errechnet. Die Weltbank kam auf die
atemberaubende Summe von 6,5 Milliarden Dollar im Jahr. Bis 2030 sollen
sich diese Kosten mehr als verdoppeln, vorausgesetzt, die Masse hat sich
bis dahin nicht vollends erhärtet und Kairo, arabisch al-Qahira, die
Siegreiche, hat sich nicht endgültig selbst niedergerungen.
Um dem zuvorzukommen, werden in Kairo überall Straßen und Brücken
erweitert. Gerade in den Außenbezirken entstehen neue Trassen und
Ringstraßen. Aber für die Stadt gilt wohl der Spruch des amerikanischen
Stadtbaukritikers Lewis Mumford, der schon in den 1950er Jahren erklärte:
„Eine weitere Schnellstraßenspur gegen die Verkehrsstaus bauen ist, als ob
man den Gürtel lockert, um die Fettleibigkeit zu heilen“.
Da rächt sich nun auch, dass unter den 30 langen Regierungsjahren Mubaraks
und der turbulenten Folgezeit nach dessen Sturz der Ausbau des öffentlichen
Nahverkehrs- und vor allem des U-Bahn-Netzes vernachlässigt wurde.
## Informelle Stadtviertel
Überliefert ist eine Aussage Mubaraks, bei der Planung einer
Verbindungsstrecke in die Stadt des 6. Oktober, einer Trabantensiedlung mit
2,5 Millionen Einwohnern im Osten Kairos, in die in den letzten Jahren vor
allem die Bessergestellten gezogen sind, um dem Kairoer Chaos zu
entfliehen. Die Stadtplaner wollten dorthin eine S-Bahn bauen. Mubarak tat
ihre Pläne ab, „weil die, die dort leben, eh alle ein Auto haben“. Ein
Denkfehler, hatte er die Menschen vergessen, die die Häuser der Reichen
putzen, ihre Wäsche bügeln und ihre Autos reparieren.
Viele von ihnen leben, wie die meisten Kairoer, in informellen, schwarz
gebauten Vierteln, die in den letzten drei Jahrzehnten dreimal so schnell
gewachsen sind wie der formelle Teil der Stadt. Als vor wenigen Jahren das
Armenviertel Saft al-Laban mit seinen hunderttausend Einwohnern in die
Schlagzeilen geriet, weil dort keine Wasseranschlüsse existierten, gab der
damals zuständige Gouverneur zu, dass Saft al-Laban noch nicht einmal auf
den Karten der Stadtplaner eingezeichnet gewesen ist. Solche informellen
Viertel haben in den letzten Jahrzehnten mehr wertvolle landwirtschaftliche
Fläche aufgefressen, als der Wüste durch teure Neulandgewinnung abgerungen
werden konnte.
Fährt man am westlichen Nilufer in Richtung Gizeh, kommt man an unzähligen,
unverputzten, zum Teil zehnstöckigen Gebäuden vorbei, die regelrecht
aneinanderkleben und nur ab und an von engen Gassen durchzogen sind. Die
meisten dieser Viertel sind in den letzten zehn Jahren, einige in den
letzten Monaten entstanden. Hier passen keine Autos durch, geschweige denn
Feuerwehrfahrzeuge. Wie viele Menschen in diesen Häusern leben, erkennt man
an den übervollen bunten Wäscheleinen, die vor die Fenster und Balkone
gespannt sind und die auch vom Nachbarn gegenüber abgehängt werden könnten.
Unten in den Gassen liegen die Märkte, Kinder spielen Fußball. Das
Tageslicht schafft es nicht dahin. Nur ab und an öffnet sich eine der
düsteren Häuserschluchten und ein Kleefeld, das dem Hunger des Zements noch
nicht zum Opfer gefallen ist, kommt zum Vorschein. Mit etwas Glück lässt
sich da tatsächlich ein kurzer Blick erhaschen auf eine der berühmten
Pyramidenspitzen.
19 Oct 2016
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
## TAGS
Kairo
Verkehr
Kopten
Ägypten
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