| # taz.de -- Armut in Ägypten: Ein Euro am Tag | |
| > Wenn alle Gedanken ums Essen kreisen: Wie eine Familie in Kairo versucht, | |
| > mit minimalen Mitteln über die Runden zu kommen. | |
| Bild: Kein Geld für Milch: Umm Naama in ihrer Küche. | |
| KAIRO taz | Jenseits der großen Ringstraße, die die | |
| 18-Millionen-Einwohner-Stadt umgibt, ist nur noch die Armut zu Hause. | |
| Eselskarren und kleine Motorrikschas, sogenannte Tuk-Tuk, sind hier, wo die | |
| Straßen nicht asphaltiert sind und die letzten Häuser der Stadt in | |
| Kleefelder übergehen, das Hauptverkehrsmittel. Die Gassen im Viertel sind | |
| so eng, dass sich die Nachbarn über die Straße die Hände reichen könnten. | |
| Bevölkerungsdichte lässt sich in Ägypten immer an der Menge der Wäsche | |
| ablesen, die an einer Leine vor den Balkons hängt. Hier gibt es an diesem | |
| Tag keinen einzigen Balkon, dessen volle Wäscheleine nicht auf beengte | |
| Wohnverhältnisse deutet. | |
| In einer Parterrewohnung des illegal errichteten Häuserblocks lebt Nour | |
| Zaki. Sie wird meist Umm Naama gerufen, die Mutter von Naama, nach ihrer | |
| ältesten Tochter. Neben Naama, 8 Jahre alt, gibt es drei weitere Kinder, | |
| den sechsjährigen Mahmud, seine zwei Jahre jüngere Schwester Zeinab und die | |
| zweijährige Fatma, die alle die „kleine Kartoffel“ nennen. Sie toben durch | |
| die kleine Zweizimmerwohnung, nur Zeinab stoppt für kurze Zeit das Spiel, | |
| um ihrer Mutter in der Küche zu helfen. | |
| Sie schält die schrumpeligen Kartoffeln, die so winzig sind, dass sie in | |
| ihrer kleinen Kinderhand verschwinden. Die Ausschussware vom nahe gelegenen | |
| Markt ist das Einzige, was sich die Familie leisten kann. Eine halbe Stunde | |
| später sitzen die Kinder zu viert rund um einen Teller Pommes Frites – ihr | |
| Mittagessen. | |
| Umm Naama serviert Tee, stellt das Tablett auf einen Plastikhocker und | |
| entschuldigt sich, dass sie keinen Tisch besitzt. Alle Gedanken der | |
| 33-Jährigen kreisen darum, wie sie ihre Familie durchbringen kann. „Ich | |
| habe am Tag 10 Pfund für Essen zur Verfügung“, berichtet sie. Das sind für | |
| die Familie umgerechnet 1 Euro und 10 Cent. „Morgens kaufe ich Fool, braune | |
| Bohnen und Brot für zwei Pfund“, rechnet sie vor. Weitere 3 Pfund gehen für | |
| ein Kilo Ausschusskartoffeln und die billigsten überreifen Tomaten drauf. | |
| Eine Packung Reis kostet mindestens 3 Pfund. Bleiben 2 Pfund für Speiseöl, | |
| Salz oder ein anderes Angebot vom Markt . | |
| ## Saisongemüse bunkern | |
| Als das Spiel der Kinder in der engen Wohnung immer wilder wird, zückt Umm | |
| Naama eine Viertelpfundmünze und schickt die Kinder zum Kiosk, damit sie | |
| sich dort die kleinste Chipstüte besorgen. Es ist ein Paradox der Armut, | |
| dass man sich immer nur die kleinsten Packungen leisten kann, auch wenn man | |
| bei einer großen Chipstüte im Verhältnis mehr für sein Geld bekäme. | |
| Auf die Frage, wann die Familie das letzte Mal Fleisch gegessen hat, muss | |
| Umm Naama lachen und schiebt ihr blaues Kopftuch zurecht. „Das war während | |
| des großen Bayram-Festes nach dem Fastenmonat Ramadan.“ Das ist ein paar | |
| Monate her, eine reichere Familie hatte das Fleisch gestiftet. | |
| Einige von Umm Naamas Nachbarn kaufen Gemüse immer nur, wenn es Saison hat, | |
| also wenn es am billigsten ist, und frieren es ein. Auch das ist eine | |
| Überlebensmethode. In Umm Naamas Küche stehen eine Spüle, ein Plastikregal | |
| und ein kleiner Holztisch; einen Kühlschrank aber kann sie sich ebenso | |
| wenig leisten wie das, was dort hineingehört. „Ich weiß, dass die Kinder | |
| eigentlich Milch trinken sollten, wegen des Kalziums“, sagt sie, die selbst | |
| nur vier Jahre die Schule besucht hat und gerade einmal lesen und schreiben | |
| kann. | |
| Naama bringt ihr letztes Halbjahreszeugnis. „Sie ist Klassenbeste“, erklärt | |
| die Mutter stolz. Aber gerade die Schule stellt die Familie vor Probleme. | |
| Zwar ist sie eigentlich kostenlos, aber die Kinder brauchen Hefte und | |
| Stifte und zu Schuljahresbeginn neue Kleidung oder Uniform. Hinzu kommen | |
| Nachhilfestunden, durch die die schlecht bezahlten Lehrer ihren | |
| Lebensunterhalt aufbessern. Der Deal ist einfach: Wer keine | |
| Nachhilfestunden nimmt, fällt eben durch. | |
| ## Unfall am Tahrirplatz | |
| Die Tage des Aufstands gegen Mubarak hat Umm Naama nur im Fernsehen | |
| verfolgt. „Damals habe ich gehofft, dass alles besser wird“, sagt sie. Aber | |
| das Gegenteil ist eingetreten. „Mubarak war ein Dieb, aber wenigstens | |
| hatten wir zu essen und zu trinken.“ Von der Möglichkeit, wählen zu gehen, | |
| hat Umm Naama bisher keinen Gebrauch gemacht. Weder die regierenden | |
| Muslimbrüder unter Präsident Mohammed Mursi noch die liberale Opposition | |
| kümmerten sich um die Probleme der einfachen Menschen, glaubt sie. Dann | |
| hält sie plötzlich inne und sagt. „Ich möchte Ihnen gerne meinen Mann Tamer | |
| vorstellen.“ | |
| Tamer Zaki, ein apathisch blickender Mann mit Dreitagebart, sitzt in einem | |
| dünnen Bademantel im Nebenraum vor einem winzigen Fernsehgerät. Die Beine | |
| hat er hochgelegt. Der eine Fuß ist doppelt so dick wie der andere und | |
| lila-blau gefärbt. „Früher hat mein Mann 500 Pfund (weniger als 60 Euro) | |
| monatlich nach Hause gebracht. Aber seit drei Monaten kann er nicht mehr | |
| arbeiten“, sagt sie. Umm Naamas Familie ist arm, aber die Armut ist nur ein | |
| Teil ihrer Geschichte. | |
| Früher hat Tamer Zaki in einer kleinen Sandwichbude am anderen Ende der | |
| Stadt gearbeitet. 16 Stunden war er täglich unterwegs, 500 Pfund brachte er | |
| dafür nach Hause. Mitte November ist er dann mit ein paar Freunden während | |
| der Proteste gegen Präsident Mursi auf dem Tahrirplatz gewesen, mehr aus | |
| Neugier als aus politischer Überzeugung. | |
| Bei den Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den in Panik | |
| geratenen Demonstranten stürzte er und ein Polizeifahrzeug fuhr über seinen | |
| Fuß. Im staatlichen Krankenhaus schickte man ihn mit einem „Das wird schon | |
| wieder“ nach Hause, man habe schlimmere Fälle zu behandeln, hieß es. Als | |
| der Fuß nicht heilte, lieh sich die Familie Geld und ließ den Fuß röntgen. | |
| Der vollkommen versteifte Fuß ist mehrfach gebrochen. „Die Operation würde | |
| 20.000 Pfund kosten“, sagt Tamer resigniert, umgerechnet über 2.200 Euro, | |
| eine astronomisch hohe Summe für die Familie. | |
| ## Drastische Verschlechterung | |
| Die Lage der ärmsten Haushalte in Ägypten hat sich seit dem Machtwechsel | |
| dramatisch verschlechtert, das dokumentiert auch ein Vierteljahresbericht | |
| der Welternährungsorganisation aus dem vergangenen Jahr. Im September 2012 | |
| schafften es danach 86 Prozent der ärmsten Haushalte Ägyptens nicht mehr, | |
| sich das Nötigste anzuschaffen. Am dramatischsten ist die Lage in Kairo – | |
| dort betrifft es 94 Prozent. Das durchschnittliche Einkommen der ärmsten | |
| Haushalte Ägyptens liegt laut Bericht derzeit bei umgerechnet 78 Euro. | |
| Anders als auf dem Land können sich die Armen in den Slums der Großstädte | |
| nicht mit Nahrungsmitteln selbst versorgen. 20 Prozent dieser Haushalte | |
| werden finanziell von einer Frau getragen. | |
| Auch Umm Naama überlegt, sich Arbeit zu suchen. Doch ihr Mann, ihre Kinder | |
| sind eigentlich auf sie angewiesen. Tamer Zaki schafft es mit Mühe und Not | |
| und mit einer Gehhilfe auf die Toilette. Selbst wenn er eines Tages doch | |
| noch operiert werden könnte, das hat der Arzt klargemacht, gingen damit | |
| vielleicht die Schmerzen weg, aber richtig gehen können wird er nie wieder | |
| in seinem Leben. | |
| Umm Naama träumt davon, den Kindern ein Fahrrad zu kaufen oder in die Parks | |
| der Innenstadt zu führen. Das nicht zu können, „frisst dich innerlich auf�… | |
| sagt sie. Schokolade kennen die Kinder nur aus der Fernsehwerbung, das | |
| einzige Spielzeug im Haus ist ein Motorradreifen. | |
| Wie schlagen sich Menschen wie Umm Naama durch? „Sie essen weniger“, stellt | |
| die Armutsforscherin Reem Saad fest, die an der Amerikanischen Universität | |
| in Kairo soziale Anthropologie lehrt. „Beziehungsweise ihnen steht weniger | |
| nahrhaftes Essen zur Verfügung. Sie nehmen ihre Kinder aus der Schule und | |
| dabei zuerst die Mädchen. Sie schicken ihre Kinder arbeiten.“ | |
| ## Die Schule einsparen? | |
| Auch Umm Naama überlegt, ob sie den nächstes Jahr schulpflichtig werdenden | |
| Mahmud überhaupt zur Schule schicken kann – wegen der Folgekosten. Oder im | |
| Gegenzug Naama aus der Schule nehmen soll – obwohl sie doch Klassenbeste | |
| ist. | |
| Für die Armutsforscherin Reem Saad ist die herrschende Armut die Folge von | |
| 30 Jahren Diktatur. „Die Menschen haben die Fähigkeit verloren, ihr | |
| Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.“ In den unsicheren Zeiten der | |
| Revolution und des Wandels seien die Armen der Ärmsten besonders | |
| verwundbar. | |
| „Wenn ich als Tagelöhner jeden Tag von Neuem Arbeit suchen muss, dann bin | |
| ich dem Wind ausgeliefert, der mich in verschiedene Richtungen trägt, ohne | |
| dass ich dagegen angehen kann“, sagt Saad. Und dann käme irgendwann der | |
| Punkt, an dem nichts mehr geht. Wenn die Armen alles verkauft haben, was | |
| sie ihr Eigen nennen konnten: die Frauen ihr Gold, die Bauern ihr Vieh – | |
| und Umm Naama ihre Schlafzimmermöbel. | |
| „Das ist der Moment, vor dem alle Politiker Angst haben sollten“, sagt | |
| Saad. „Denn jetzt stehen die Menschen mit dem Rücken zu Wand.“ | |
| Bei Umm Naama steht die Tür zum Hausflur offen. Eine schwarz-weiß | |
| gescheckte Straßenkatze streckt erwartungsvoll ihren Kopf herein. „Tut mir | |
| leid, ich habe nur Kartoffelschalen“, scheucht sie die Katze sanft weg. | |
| „Hier gibt es nicht einmal für dich was zu holen.“ | |
| 18 Apr 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Karim Gawhary | |
| Karim El-Gawhary | |
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