# taz.de -- Bedrohliche Stimmung vor Jahrestag: Präsident Mursi spaltet Ägypt… | |
> Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Muhammad Mursi bereitet sich das Land | |
> auf ein politisches Kräftemessen vor. Millionen unterschrieben für | |
> Neuwahlen. | |
Bild: Klare Ansage einer Demonstrantin: Herr Mursi, bitte gehen Sie jetzt. | |
KAIRO taz | Es ist ein wenig so, als ob ein ganzes Land einfach zusieht, | |
wie sich auf einer eingleisigen Strecke zwei Züge entgegenkommen. Und es | |
ist nicht unwahrscheinlich, dass es in Ägypten dieses Wochenende zum | |
Aufprall kommt. Seit Tagen herrscht im Nilland eine angespannte Atmosphäre. | |
In den Supermärkten kommt es zu Hamsterkäufen. Die Menschen holen sich noch | |
ausreichend Bargeld vom Automaten. Um die bedrohliche Stimmung noch zu | |
verstärken, ist die Armee an den strategisch wichtigen Punkten Kairos mit | |
Panzern aufgefahren. In der Nacht zu Samstag [1][starben bei Protesten | |
bereits drei Menschen]. Mitarbeiter und Familienangehörige der US-Botschaft | |
verließen nach Angaben aus Sicherheitskreisen per Flugzeug das Land. | |
Spätestens am Sonntag wird die Konfrontation zwischen dem | |
islamisch-konservativen und dem liberalen Lager einen neuen Höhepunkt | |
erreichen. Es ist die Tamarud, die sogenannte Rebellenbewegung, die den 30. | |
Juni, den Jahrestags des Amtsantritts des von den Muslimbrüdern stammenden | |
Präsidenten Muhammad Mursi, auf den Terminkalender aller Ägypter gesetzt | |
hat. | |
Die Kampagne behauptet, über 18 Millionen Unterschriften gesammelt zu | |
haben, um Mursi das Vertrauen zu entziehen und vorgezogenen | |
Präsidentschaftswahlen zu fordern. Mursi war 2012 mit 13,2 Millionen | |
Stimmen gewählt worden. „Wir wollen unsere Revolution fortsetzen und die | |
Rechte zurückerobern, die uns von Mursi und den Muslimbrüdern weggenommen | |
wurde. Wir wollen unsere ägyptische Identität verteidigen“, erklärt Muhanad | |
Ramadan, einer der Koordinatoren der Kampagne. Er erwartet, dass die | |
Ägypter am 30. Juni in Massen auf die Straße gehen, um Mursi die Rote Karte | |
zu zeigen. | |
Aber auch die Muslimbrüder mobilisieren für Freitag noch einmal ihre | |
Anhänger zu einer Großdemonstration in Kairo. „Die machtlose Opposition | |
versucht nun in einer Allianz mit Vertretern des alten Regimes, das Land | |
illegitim in eine Spirale des Chaos, der Verwirrung und der Zerstörung zu | |
schicken“, heißt es in einer Erklärung der Freiheit- und | |
Gerechtigkeitspartei FJP, die von den Muslimbrüdern gegründet wurde. | |
## Kampf bis zum Letzten | |
„Der Aufruf für den 30. Juni ist ein Aufruf zur Gewalt, zu einem Blutbad | |
und zu Vandalismus“, erklärt deren Generalsekretär Hussein Ibrahim. Und | |
besonders unter den Verbündeten der Muslimbrüder, einem Teil der | |
Salafisten, herrscht Endkampfstimmung. „Wir werden alles opfern, um die | |
Legitimität zu schützen“, erklärt Assem Abdel Maged, jener Mann, der den | |
Tod des in Deutschland lebenden Islamkritikers Hamed Abdel Samad gefordert | |
hatte. | |
Der Ton hat sich auf beiden Seiten in den letzten Wochen extrem verschärft. | |
Die Gegner der Muslimbrüder bezeichnen diese nur noch als Schafe. Die | |
Islamisten marschierten letzte Woche auf ihrem Millionenmarsch unter dem | |
Motto „Nein zur Gewalt, ja zur Legitimität“ mit Plakaten, auf denen sie | |
ihren politischen Gegnern eine Schlinge um den Hals gelegt haben. | |
Das mag auch an den zweifelhaften Bündnispartnern beider Lager liegen. Die | |
Muslimbrüder paktieren inzwischen mit dem radikalsten Teil der Salafisten, | |
die sich in Kampf gegen die Ungläubigen sehen. Die Opposition bekommt | |
Unterstützung von Vertretern des diskreditieren alten Regimes. Ihr einziges | |
Ziel es ist, das neue Ägypten zu sabotieren, um zu beweisen, dass das alte | |
unter Mubarak besser war. | |
## Zwei Welten | |
Dabei sind zwei Parallelwelten entstanden. Die Muslimbrüder argumentieren, | |
dass sie die demokratische Legitimität besitzen und dass die Opposition | |
durch ihre Proteste wirtschaftliche Fortschritte zerstört und dass | |
Vertreter des alten Regimes im Staatsapparat alle Initiativen des | |
Präsidenten sabotieren. | |
Die Opposition und die Rebellenkampagne erklären dagegen, dass die Ägypter | |
dem Präsidenten das Vertrauen entzogen hätten. Der habe ursprünglich | |
versprochen, der Präsident aller Ägypter zu sein, habe seitdem aber nur | |
seine eigenen Anhänger in den Schaltstellen des Staates platziert. Eine | |
Politik, die „Muslimbruderisierung“ genannt wird. Die Gegner Mursis weisen | |
auf die sich verschlechternden Lebensverhältnisse hin, Stromausfälle, | |
Preissteigerungen und eine hohe Kriminalitätsrate. Sie verweigern den | |
Dialog mit Mursi. Dieser hatte in seiner Rede am Mittwoch vorgeschlagen, | |
ein Versöhnungskomitee zu schaffen. Ein Angebot, dass die Opposition | |
ablehnen werden wird. | |
Die Gegner Mursis spüren Aufwind. In einer aktuellen Umfrage haben drei von | |
fünf Ägyptern angegeben, Tamarud zu kennen. Noch letzten November, bei | |
einer anderen Umfrage, war nur einem Drittel der Befragten das wichtigste | |
Oppositionsbündnis, die „Nationale Rettungsfront“, ein Begriff. | |
## Euphorie und Trotz | |
Tatsächlich hat sich in den letzten Wochen etwas qualitativ verschoben. Das | |
erste Mal haben die Liberalen durch Tamarud auch in den Armenvierteln, | |
Kleinstädten und Dörfern mobilisiert und so ein Potenzial geschaffen, das | |
bei den nächsten Wahlen entscheidend sein könnte. | |
Die Gegner Mursis befinden sich in einem euphorischen Gemütszustand, als | |
sei die Absetzung des Präsidenten nur noch reine Formsache. Bei den | |
Muslimbrüdern herrscht dagegen eine trotzige Stimmung, wie bei Belagerten | |
in einer Festung. | |
Und über alldem steht die Frage: Wie wird sich die Armee verhalten, sollte | |
es am Wochenende zu einer Konfrontation zwischen beiden Seiten kommen? | |
Armeechef und Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi hatte noch vor | |
wenigen Tagen erklärt, dass sich die Armee aus der Politik heraushalten | |
werde, die Streitkräfte aber bereit seien, zu intervenieren, um das Land | |
davor zu bewahren, in einen „dunklen Tunnel“ zu geraten. Welche Form eine | |
solche Intervention annehmen könnte, bleibt offen. | |
29 Jun 2013 | |
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## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
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