# taz.de -- Mutek-Musikfestival in Montreal: Elektronische Archäologie | |
> Mehr als nur ein Rave: Das Mutek-Festival in Montreal ist eine der | |
> interessantesten Bühnen für elektronische Musik. Ein Einblick. | |
Bild: Auch beim Mutek-Festival: Laurel Halo. | |
„Wir haben ein Gespenst im Raum.“ Fieberhaft sucht der Soundmann im Theatre | |
Monument National in Montreal nach dem Fehler im System. Eigentlich soll | |
jetzt der Detroiter Technoproduzent Robert Hood im Q & A Rede und Antwort | |
stehen. Stattdessen ist Unheimliches zu hören, ein Mikrofon aus einem | |
anderen Raum „überspricht“. Die Geisterstimme schaltet sich abrupt für | |
Sekundenbruchteile ein. Wahrscheinlich stammt sie von einem Soundcheck zwei | |
Stockwerke tiefer im großen Saal. | |
Es ist früh am Samstagnachmittag. Dass die Technik streikt, auch das gehört | |
beim Mutek zum Programm. Gerade deshalb ist und bleibt es das spannendste | |
Festival für elektronische Musik. Das liegt zum einen am sorgfältig | |
ausgewählten, aber mit bescheidenem Budget kuratierten Line-up: Pioniere | |
wie Robert Hood, Talente wie die New Yorkerin Laurel Halo, unbekannte | |
kanadische Eigengewächse wie der junge HipHop-Produzent Maxime Robin, | |
namhafte Künstler aus Europa, Süd- und Nordamerika. | |
Zum anderen werden in Montreal elektronische Lebensaspekte und Musik ohne | |
weiteres auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Zum Teil sind die Konzerte | |
umsonst, täglich ab 17 Uhr kann man in dem Gebäude des Radiosenders 2-22 | |
über den Dächern der Stadt dem Nachwuchs zuhören – etwa dem jungen | |
kolumbianischen Duo De Juepuchas, es kreuzt Cumbia mit Big Beats auf eine | |
freche Weise. Dabei lässt sich ein Panoramablick auf die Skyline Montreals | |
werfen, die schroffen Wechsel im Stadtbild werden sichtbar, hier die | |
brutalistischen Downtown-Skyscraper, da die Brownstone-Häuser, dazwischen | |
Brachflächen, die offenen Wunden einer Metropole. | |
Die elektronische Musik passt zur allgemeinen Gemütsruhe ihrer Bewohner, | |
die Mutek seit 14 Jahren mit wachsender Begeisterung mit tragen. Es ist ein | |
„Festival für digitale Kreativität“, wie es im Untertitel heißt. Nur, mit | |
New Economy hat dies gar nichts zu tun. Eher mit Improvisation und DIY. Das | |
Sponsoring ist verglichen mit dem Branding-Overkill hiesiger Festivals | |
dezent. | |
## Der reinste Groove | |
„Smartphones hindern uns an der Kommunikation, sie machen uns zu Daddlern“, | |
schimpft Robert Hood. Sein Sound ist reinster Groove, was von ihm ablenken | |
könnte, ist ausgesiebt. Mit einem Sequenzer und einer Drummachine kreierte | |
Hood in den frühen neunziger Jahren die Blaupause des Minimal Techno, einen | |
forensischen Sound, der nun eine Renaissance erfährt. Nicht als leeres | |
Versprechen eines Futurismus früherer Zeit, sondern als kulturelle | |
Realität. | |
Aus seiner Heimatstadt Detroit ist Hood nach Alabama übergesiedelt. Hood | |
erzählt, vor Kurzem habe die Stadtverwaltung von Detroit Konkurs | |
angemeldet. „Egal ob ich auf dem Mond lebe oder sonst wo, die Motorcity | |
bleibt mein Getriebe.“ | |
Er spricht auch ohne Mikro mit der britischen Autorin Jennifer Lucy Allan | |
über seine Motive. Ihm ginge es darum, mit elektronischer Musik einen | |
„tranquil state“ zu erreichen. Sein Kommunikationsmittel sind die Drums. | |
Speziell die Hi-Hat bringt er zum Singen. Sie ist die Seele seiner Musik. | |
Und die Maschinen? „Zweitrangig. Die Maschinen bedienen nicht mich. Ich | |
zapfe Blut aus ihnen ab, bis sie mit mir eins werden.“ | |
Was diese Transfusion bedeutet, zeigt Robert Hood mit beeindruckender | |
Präzision in der Nacht auf Samstag im alten Konzertsaal Métropolis vor 700 | |
euphorisierten Zuhörern. Seine 909 Drummachine markiert Härte. Aber sie | |
klingt geschmeidig, zerfließt wie Butter in einer heißen Pfanne, bis die | |
Wucht allmählich zu Swing transzendiert und die Hi-Hat eine Melodie pfeift. | |
Der Saal tanzt, betreibt Spannungsabfuhr getreu dem Diktum des digitalen | |
Philosophen Vilém Flusser, „beim Musikhören wird der Körper Musik und die | |
Musik wird Körper“. Das heißt, wir konzentrieren Hoods Schallwellen in | |
unser Inneres. Hallöchen, Popöchen. | |
Raven ist beim Mutek aber nicht alles. Stunden zuvor werden auf eine | |
riesige Leinwand Grafiken geworfen, die die unsichtbaren Prozesse der | |
elektromagnetischen Musik als Fraktale visualisieren. Aus einem flackernden | |
Punkt wird ein Fliegenschwarm, er wandert, dehnt sich aus, tanzt, | |
zerplatzt, nimmt immer wieder neue Formen an. „Greyfields:Wavefields“ heißt | |
diese Liveperformance des kanadischen Duos Michael Trommer und Nokami. Ihr | |
Schauplatz ist die Stadt als Grauzone: „Urbane Gespenster, die sich | |
verklumpen und unsere politischen und finanziellen Zentren heimsuchen“, | |
schicken sie ihrer Arbeit voraus. | |
Das Duo nimmt die Klänge der elektromagnetischen Spektren von Toronto und | |
Montreal als Ausgangsmaterial, lässt Störgeräusche und tiefe Frequenzen in | |
immer neuen Walls of Sound brummen und bratzen, die einen nur so in den | |
Sitz drücken. Wellenförmig nimmt der Lärm an Fahrt auf, wird bedrohlich. | |
Irgendwann zittern die Wände und man ist dankbar, dass im großen Saal des | |
Theatre Monument National nach diesem Exerzitium in Hauntology wieder das | |
Saallicht angeht. Das Schrillen im Ohr bleibt, aber die Musik ist für immer | |
in den Tiefen des Computers verschwunden. | |
Zeitgleich zum Mutek-Festival läuft im Canadian Centre for Architecture in | |
Montreal die Ausstellung „Archeology of the Digital“. Vier Arbeiten von | |
Frank Gehry, Peter Eisenman, Chuck Hoberman und Shoei Yoh sind da zu sehen, | |
die als Erste ihrer Zunft in den achtziger Jahren Entwürfe mit digitalem | |
Design ausgearbeitet haben. | |
Dazu kann man die alten Gerätschaften bewundern: Floppydisks und den | |
Cray-Computer, der damals 86.000 kanadische Dollar kostete. Heute verfügen | |
Smartphones über seine Speicherkapazität. Diese versunkene Geschichte des | |
Digitalen passt ganz verblüffend zum Status der elektronischen Musik, wie | |
sie beim Mutek auch erfahrbar wird. Zur tagtäglichen Auseinandersetzung mit | |
Technik und ihren Tücken. | |
## Ein Leben aus Loops | |
Wie radikal Computer und digitale Effekte unser Klangverständnis verändert | |
haben, zeigt etwa die Musik der New Yorker Künstlerin Laurel Halo. Ihr | |
Leben gleiche den Loops und Hypnobeats ihres Sounds, sagt sie im Gespräch. | |
Ihr Groove shuffelt konstant im Stop-and-go-Rhythmus. Jede Menge „left | |
turns“ inklusive. „Die Skyline von Manhattan ist ein Friedhof. Ich fühle | |
mich in ihr wie ein Roboter in ’Matrix‘. Meine digitale Realität reibt sich | |
an der korporativen Bilderwelt.“ | |
Am Samstag gegen Mitternacht im ausverkauften Métropolis lässt Laurel Halo | |
ihre Töne purzeln, als gäbe es kein Morgen. Erstaunlich, wie gut das zur | |
Peak Hour funktioniert, wie die Menge in Bewegung gerät und die Musik in | |
sich aufnimmt. Auf der Bühne ist Laurel Halo eine linkische Erscheinung. | |
Ihr Gesicht kaum zu sehen hinter den langen, glatten Haaren, die hin und | |
her schwingen, während sie ununterbrochen Soundfiles abruft, Rückkopplungen | |
erzeugt und diese durch Effekte jagt. | |
In ihrer Jugend gab es in der elektronischen Musik keine brauchbaren | |
Rollenmodelle, deshalb habe sie sich an der Schauspielerin Gillian Anderson | |
orientiert, die in der Mystery-Serie „Akte X – Die ungelösten Fälle des | |
FBI“ die Agentin Scully verkörpert. Mysteriös ist der Aufbau von Laurel | |
Halos Musik nicht. Aber ungeheuer angespannt, beklemmend, düster, dabei | |
frenetisch. Halo sagt, dass Komponieren ein kathartischer Prozess für sie | |
sei. | |
Ein bisschen Entspannung am Sonntag tut not. Zum Piknic Elektronik geht es | |
raus aus der Innenstadt zum Park Jean Drapet, der auf der Insel Saint | |
Hélène liegt. In Sichtweite des Biosphären-Gebäudes von Buckminster Fuller | |
versammelt sich die Jeunesse dorée, führt schicke Hosenanzüge vor, trinkt | |
kalifornischen Moscato und Sangria aus kleinen Eimern und tanzt dabei zum | |
dubby Techno des britischen DJ Lee Gamble. Ganz selbstverständlich ist | |
elektronische Musik hier Teil des Savoir-vivre. | |
Am Sonntagabend blitzt kurz die Vergangenheit auf. Der deutsche Produzent | |
Pantha Du Prince präsentiert im Maison Symphonice sein Bell Laboratory. Mit | |
einer fünfköpfigen Band und Glocken will er die digitale Welt mit der | |
analogen versöhnen. Ambient und Esoterik, in homöopathischen Dosen sind sie | |
gerade so zu ertragen. „Wir fliehen vor unserer eigenen Vergangenheit. Die | |
Zukunft verfolgt uns“, postulierte Vilém Flusser. | |
3 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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