# taz.de -- Miss Kittins neues Doppelalbum: Schizophrener Schachzug | |
> Auf Miss Kittins „Calling from the Stars“ untermalen einprägsame Lyrics | |
> new-wavige Popmelodien. Auf CD 2 wabern esoterische Ambientklangwolken. | |
Bild: Elektrisierend: Miss Kittin. | |
Becks letztes Album „Song Reader“ erschien als reine Notenpartitur: Von den | |
Songs konnte sich nur einen Eindruck machen, wer selbst zum Instrument | |
griff. Björks [1][„Biophilia“] wiederum offerierte ein ausuferndes | |
Universum an audiovisuellen Einfällen: Es erschien als App für das iPad – | |
eine endlose animierte Astralreise durch Lieder, Remixe, Spiele, Texte, | |
Filme. | |
Auch Miss Kittin hat sich für ihr neues Album „Calling from the Stars“ | |
etwas Besonderes ausgedacht. Neu erfunden hat sie sich nicht, aber immerhin | |
zeigt sie nun eine bisher unbekannt gebliebene Seite von sich. Klar, sie | |
ist nicht ganz so berühmt wie Björk oder Beck. Aber am Himmel der | |
elektronischen Musik ist Miss Kittin ein heller Stern. Außerdem findet sie | |
auf die allgemein sinkenden Plattenverkäufe konzeptionelle Antworten. | |
Miss Kittin, mit bürgerlichem Name Caroline Hervé, gelang 1998 der | |
Durchbruch mit ihrem Track [2][„1982“], den sie mit ihrem Musikerkollegen | |
The Hacker veröffentlichte. Ihr Markenzeichen hat sich seither bewährt: | |
Unschuldig derbe Songzeilen mit lakonisch kühlem, französisch akzentuiertem | |
Gesang, gepaart mit leichtgängigen Synthie-Popmelodien und minimalen | |
Technobeats. | |
## Elektroklänge mit Glamrock-Attitüde | |
Über die Jahre begeistert die 39-Jährige zudem mit ihrer Gabe, | |
verschiedenste Musikrichtungen zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen – | |
sowohl in den eigenen Produktionen als auch am DJ-Pult. Straighte, kalte | |
Elektroklänge vereint sie mit Glamrock-Attitüde. Nicht umsonst zählt sie zu | |
den gefragtesten Techno-DJs der Welt. | |
Nun, nach vierjähriger Produktionspause, erscheint „Calling from the | |
Stars“, ein Doppelalbum. Es ist weder so ausufernd wie „Biophilia“ noch so | |
radikal wie „Song Reader“. Miss Kittins Musik ist sehr persönlich. Alle | |
Songs habe sie erstmals alleine produziert, schreibt sie einleitend im | |
CD-Booklet. Und obwohl die Künstlerin im Laufe ihrer Karriere schon | |
beeindruckend viele Facetten von sich zeigte, überrascht der Neuling mit | |
einem fast schizophrenen Schachzug: „Die erste CD ist typisch Miss Kittin“, | |
sagt die Künstlerin über sich selbst. Der Sound auf der zweiten CD geht in | |
Richtung Ambient. „Ein Stil, den ich immer geliebt, aber bis jetzt selbst | |
nie veröffentlicht habe.“ | |
Und so liefert Album 1 tatsächlich ein freudiges Wiedersehen mit einer | |
liebgewonnenen Miss Kittin: Einprägsame Lyrics, mal peitschende, mal von | |
fern hallende Beats, während synkopische HipHop-Takte new-wavige | |
Popmelodien untermalen. Das ergibt hartnäckige Ohrwürmer, ein Kribbeln im | |
Tanzbein und rundum gelungenen elektronischen Pop. Zu jedem der Tracks | |
liefert Miss Kittin kurze, persönliche Texte. Sie erzählen Anekdoten, | |
berichten von Inspirationsquellen, geben zu jedem Song ein Urteil ab und | |
offenbaren den Zustand ihrer Gefühlswelt. | |
So trauert sie in „Night of Life“ um ihren verstorbenen Großvater. Ihre | |
Coverversion von „Everybody Hurts“ findet R.E.M.-Sänger Michael Stipe | |
angeblich sogar besser als seine Originalfassung, während sie selbst die | |
Bassline auf „Maneki Neko“ für unoriginell hält. | |
## Am Strand von Goa | |
Die zweite CD hingegen wabert sich durch esoterische Ambientklangwolken, | |
wirkt introspektiv, klischeehaft, manchmal gar etwas hippiesk verzopft: Als | |
wäre Miss Kittin am Strand von Goa hängen geblieben. | |
„Tamarin Bay“ soll sie tatsächlich geschrieben haben, nachdem sie bei | |
Sonnenaufgang auf Mauritius mit Delfinen geschwommen war. Der Song klingt | |
allerdings wenig erhebend, als würde jemand beliebig auf den Tasten eines | |
Synthesizers herumdrücken. Im Vergleich dazu wirkt der verspielte Track | |
„Mind Stretching“ schon stringenter, reflektierter. | |
Wenn nicht alle Stücke der zweiten CD überzeugen, so liegt das vielleicht | |
daran, dass sie ursprünglich als Nebenprojekt unter anderem Namen | |
erscheinen sollte. Beim Gesamtgefühl gehe es ihr nicht um das für sie | |
typisch aggressive Miss-Kittin-Gehabe, gesteht sie, sondern „um Raum, | |
Farben, Formen, Landschaften und Abstraktionen“. Man schließt einfach die | |
Augen und sieht, was man möchte. Soll das ein meditativer Sound sein, der | |
zum Träumen anregt? Auch das ist Miss Kittin. | |
Miss Kittin: „Calling from the Stars“ (Wagram/Indigo) | |
1 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] /Bjoerks-neues-Album-Biophilia/!79444/ | |
[2] http://www.youtube.com/watch?v=ASNnl-jgu38 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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Berlin | |
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