| # taz.de -- Neues Album von Mary Ocher: Sehnsucht aus der Meerestiefe | |
| > Sarkastisch, wild und wuchtig: Die in Russland geborene und in Tel Aviv | |
| > aufgewachsene Musikerin Mary Ocher und ihr fabelhaftes neues Album | |
| > „Eden“. | |
| Bild: Auch ohne Riesenbrille eine Erscheinung: Mary Ocher. | |
| Der Titel von Mary Ochers neuem Album „Eden“, das Paradies, ist | |
| irreführend. Man mag fast annehmen, sie hat seit ihrem Debüt „War Songs“ | |
| eine Art innere Ruhe gefunden, doch auch den neuen Songs fehlt es nicht an | |
| kritischer Wucht gegen Fremdenhass, Abgrenzung, Gier. | |
| Aus reinem Sarkasmus habe sie sich für den widersprüchlichen Titel | |
| entschieden, denn nach wie vor beschreibt und beanstandet Ocher eine Welt, | |
| fern von jeglichem Frieden oder biblischer Harmonie. „In my town, no harm | |
| is caused unless you’re foreign / Or if you’re limp or slightly plump“, | |
| singt sie in dem Song „My Town“. Damit beschreibt Mary Ocher ihre zweite | |
| Heimat: Israel. | |
| ## Von Tel Aviv nach Berlin | |
| Anfang der Neunziger, als sie mit ihren Eltern von Russland nach Tel Aviv | |
| auswanderte, sah sie sich einer latenten Diskriminierung ausgesetzt. Später | |
| richtete sich diese oft gegen andere Gruppen, doch in einer Gesellschaft | |
| mit grundsätzlich ethnizistisch aufgeladenen Konflikten wollte sie nicht | |
| ewig bleiben. Heute sitzt die Musikerin artig an einem Kiosktisch in | |
| Friedrichshain und erzählt, wie sie 2007 nach Berlin emigrierte, mit wenig | |
| mehr als einem Koffer voll Antikriegssongs und ihrer frisch gegründeten | |
| Band Mary & The Baby Cheeses im Schlepptau. Damals kannte in der deutschen | |
| Hauptstadt niemand die 21-Jährige. | |
| Während die Cheeses nach und nach entmutigt in die Heimat zurückkehrten, | |
| bohrte sich Mary Ocher beharrlich den Weg in die Berliner Subkultur: Selbst | |
| die kleinste Off-Bühne hat die Wasserstoffblondine mit der | |
| überdimensionierten Brille heute mindestens einmal bespielt. „Mir ist keine | |
| andere Strategie eingefallen, um sicherzugehen, dass man mich irgendwann | |
| bemerkt“, sagt sie. „Es heißt, zum Weiterkommen sei es notwendig, die | |
| richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt kennenzulernen. Ich dachte mir, so | |
| ein Glück werde ich nicht einfach haben.“ | |
| Also spielte sie, so oft und an so vielen Orten wie nur möglich. Nach drei | |
| Jahren Konzertmarathon wurde das Indie-Label Haute Areal auf sie | |
| aufmerksam. Anfang 2011 erschien ihr Debütalbum „War Songs“. Es zahlte sich | |
| aus, dass sie das Aufgeben nie als Option wahrgenommen hatte: Ihr Werk aus | |
| wehmütigen und punkig bissigen Folksongs wurde getragen von ihrem | |
| facettenreichen, kraftvollen Gesang. Die Musik machte sie schnell zum neuen | |
| Stern am glitzernden Undergroundhimmel. „Ich sehe für mich in der | |
| Gesellschaft keine andere Rolle als die der Musikerin“, sagt Ocher schlicht | |
| über ihre Beharrlichkeit. | |
| ## Gehasste Blockflöte | |
| Und das ist ihr bereits sehr früh klar geworden. Es ging als Kind mit einer | |
| Blockflöte los. „Ich hatte fünf Jahre Unterricht. Aber ich habe es | |
| gehasst.“ Und zwar nicht wegen des Instruments, wie sie betont, sondern | |
| wegen der Lehrerin: „Sie verkörperte diese konservative Idee, wonach | |
| entschieden wird, was gute oder gar richtige Musik ist.“ Formale | |
| Fußfesseln, das widerstrebte Mary zur Gänze. | |
| Mit elf beendete sie den quälenden Flötenunterricht und erklärte sich | |
| fortan zur Autodidaktin, weil ihr „nichts anderes übrig blieb“. Sie brachte | |
| sich selbst Gitarre und Klavier bei, schrieb die ersten Songs. Und „wie | |
| durch ein Wunder“ fiel ihr das alles „sehr, sehr, sehr leicht“. So klingt | |
| auch ihre Stimme, während sie spricht: zart, klirrend und unheimlich | |
| kostbar. Pragmatismus gehöre nicht zu ihrer Natur, sagt sie. | |
| Doch sie muss früh feststellen: „Es hilft dir keiner, solange du dir nicht | |
| selbst hilfst.“ Auch von der allgegenwärtigen pessimistischen | |
| Grundeinstellung, man solle seine Träume und Ziele nicht zu hoch stecken, | |
| will sich Ocher nicht unterkriegen lassen. Lieber konzentriert sie sich auf | |
| die Details, das Momentane, das Unmittelbare, während sie sich Schritt für | |
| Schritt den übergeordneten, aus der Ferne unerreichbar wirkenden Zielen | |
| nähert. Beispielsweise der Weltherrschaft, wie sie selbstironisch auf ihrer | |
| Webseite ankündigt. | |
| ## Neue Freunde | |
| Auf ihrer Reise holt sie immer wieder neue Freunde mit ins Boot und steuert | |
| selbstbewusst fremde Häfen an: Mary Ocher schreibt Gedichte, kollaboriert | |
| mit Bands, gründet eine neue – Your Government – mit zwei Schlagzeugern, | |
| begleitet musikalisch Theaterstücke und Literaten auf Tour, dreht | |
| Videoclips und experimentelle Filme. | |
| Ihre Mockumentary „The Sound of Softness“ über eine fiktive | |
| Avantgardebewegung der Siebziger mit Gastauftritten von Mitgliedern der | |
| echten Bands Malaria!, Cluster oder Einstürzende Neubauten, ist gerade kurz | |
| vor seiner Fertigstellung. Und ihr neues Soloalbum „Eden“, das in Kürze | |
| erscheint, produzierte niemand geringerer als King Khan, jener legendäre | |
| Garage-Punk-Psychedelic-Rock-’n’-Roll-Guru aus Kanada, der 2005 nach Berlin | |
| zog und Mary Ocher nach einem ihrer berüchtigten Auftritte unter seine | |
| Fittiche nahm. | |
| ## Im Wohnzimmer-Studio | |
| Über anderthalb Monate trafen sie sich regelmäßig in King Khans Moon | |
| Studios, einem „gigantischen Wohnzimmer, voll mit alten Gitarren, Büchern, | |
| Filmen, Tarotkarten und esoterischem Freak-out-Stuff an den Wänden“, so | |
| Ocher. Die meisten Songs hatte sie bereits geschrieben, nur auf der | |
| klanglichen, instrumentalen Ebene stand noch alles offen. „Wir haben | |
| einfach losgelegt, mit allen möglichen Instrumenten und verschiedenen | |
| Mikrofonen experimentiert, ohne vorher genau zu wissen, wie es am Ende | |
| wird.“ | |
| Ihr Debütalbum „War Songs“ etablierte sich als stilles, schlichtes Werk, | |
| konzentriert auf Gitarre, Klavier und Gesang, und verleitete dazu, Mary | |
| Ocher in der Traditionslinie nordamerikanischer Singer-SongwriterInnen der | |
| Sechziger zu verorten. In „Eden“ gesellen sich nun Cello, Zither und | |
| Synthie dazu. | |
| Psychedelische Spielereien und Soundeffekte erweitern den Tonraum und | |
| schaffen den Eindruck, man begebe sich auf eine Zeitreise zu obskuren | |
| Vorzeiten. Mal verschiebt und multipliziert sich Mary Ochers Stimme auf | |
| mehrere Spuren, mal türmt sie sich zu einer Art weiblichem Urchor. | |
| ## Ätherisch oder rockig | |
| Gesanglich experimentiert Ocher mit verschiedensten Techniken: von | |
| ätherischem Zischen oder rockigem Fauchen bis hin zu chinesischen | |
| Opernpassagen und tibetanischen Kehllauten ist alles dabei. Spätestens wenn | |
| ihre Stimme mit den schrillen Saitenklängen einer Gitarre verschmilzt, | |
| kommen einem Ulysses’ verhängnisvolle Sirenen in den Sinn. | |
| Auf die Frage, wozu Mary Ocher mit all dem Aufwand ihr Publikum verführen | |
| möchte, lässt sie ihre Fingerkuppen in der Luft kreisen und grinst | |
| verschmitzt: „Wenn der Masterplan aufgeht, werden die Leute aufhören, | |
| schlechte Musik im Radio zu hören.“ Darauf lässt sie die Hände in ihren | |
| Schoß fallen – zurück in ihre freundlich unaufgeregte Haltung: „Ich stehe | |
| mit Popkultur ständig auf Kriegsfuß. Die ganze Gesellschaft bewegt sich | |
| zielsicher in die falsche Richtung. Aber anscheinend will sie das so, und | |
| sich als Prophetin aufzuführen, hilft auch nichts.“ | |
| „The Android Sea“, der wahrlich melancholischste Song des neuen Albums, | |
| handelt tatsächlich von einer Sirene, deren Reize wirkungslos bleiben, die | |
| unerhört und ungeliebt als Meerschaum endet. Untermalt von aquatischen | |
| Akkorden, die klingen, als würden sie aus der Tiefe eines vereisten Meeres | |
| emporsteigen, singt Ocher: „A thousand dreams are haunting me /Like walking | |
| on a thousand knives“. Christian Andersens Figur „Die kleine Meerjungfrau“ | |
| lässt grüßen. | |
| „Das war wohl eher unbewusst“, sagt Ocher. „Ich habe erst später gemerkt, | |
| dass der Songtext eine Adaption von Andersens Märchen ist. Als ich ein Kind | |
| war, haben mir meine Eltern die Geschichte oft erzählt. Ich habe sie immer | |
| gemocht, diese tragische Figur, die etwas will, das sie nie erreichen | |
| kann.“ | |
| ## ■ „Eden“ (Buback/Indigo). Live: 6. 6., Urban Spree, Berlin. Tour wird … | |
| Juli fortgesetzt | |
| 6 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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