# taz.de -- Neues Album von Mary Ocher: Diese Frau regiert | |
> Mary Ocher wirbelt die Pop-Ikonografie durcheinander. Auf ihrem neuen | |
> Album „Your Government“ wird sie von zwei Schlagzeugern unterstützt. | |
Bild: Königin des subkulturellen Vibrato: Mary Ocher. | |
Mary Ocher kommt von überall her und sie ist alles, was sie in ihrer | |
Weltläufigkeit gestreift hat. In Moskau geboren, in einem israelischen | |
Kibbuz aufgewachsen, seit einer Weile in Berlin, aber eigentlich immer | |
unterwegs auf Reisen, ist die 29-jährige Musikerin mal Schamanin, mal | |
Prophetin, oder auch exzentrischer Teen mit blauem Lippenstift und | |
übergroßer Brille. Als Künstlerin besitzt sie eine Schrulligkeit, wie man | |
sie vom seltsamen US-Folk kennt. Ähnlich der wunderbar markig singenden | |
Joanna Newsom setzt auch Ocher ihre Stimme eigenwillig ein, ähnlich dem | |
US-Freakbrother Devendra Banhart präsentiert sich die Ocher stets kauzig. | |
Ocher zitiert, kopiert und bringt Style, Sounds und Texte zu einer | |
eigenständigen Melange zusammen. Auf ihrem Album „War Songs“ (2010) | |
schwankt sie zwischen Banjo-Country und jenem schrammeligen Punk des Songs | |
[1][“Six dead white men“], in dessen Refrain sie trällernd die Kritik an | |
der Machtposition des toten weißen Mannes in den Wissenschaften in ein | |
Narrativ eines Spätwesterns verpackt: „Six men on the run / Six dead white | |
men“, singt sie, „if you want to die / This could be your lucky day, son.“ | |
Im Jahr 2013, demselben Jahr, als sie mit ihrem zweiten Album „Eden“ | |
Protestsongs und Musicalballaden zitiert, veröffentlicht Mary Ocher mit | |
[2][“I Human“] einen veritablen Popsong. Partyhit mit | |
Achtzigerjahre-Anleihen und Emanzipationsaufruf zugleich. Wie sehr sie sich | |
auch wandelt, bei den Genres wie in einem Selbstbedienungsladen zugreift | |
und dabei die Pop-Ikonografie durcheinanderwirbelt, Mary Ochers Gesang | |
bleibt dabei immer eine feste Größe. Virtuos bebt ihre Stimme, dehnt sich, | |
springt und trällert, bis ihre Schwingungen plastisch vor Augen erscheinen. | |
Nun also bringt die Königin des subkulturellen Vibrato unter dem Titel | |
[3][“Your Government“] ein neues Album heraus. Doch ihr Gesang hat starke | |
Widersacher. Jeder der 14 Songs wurde mit zwei Schlagzeugern eingespielt. | |
Mit ihnen gemeinsam hat sie die Kompositionen entwickelt. Auf dem Album | |
werden die Musiker, die hinter dem Double-Drum-Kit stecken, nicht genannt, | |
dafür haben sie einen Namen: „Your Government“ – „Deine Regierung“. | |
Ein schöner rhetorischer Kniff ist dieses „Your“, zwischen Zueignung und | |
Aufzwingung schwankend. Eine Regierung für dich – also für mich, euch, uns, | |
Sie, für alle. Mary Ocher hat den Gedanken, den Drums die höchste Autorität | |
zu geben, in ihrem Album radikal durchgezogen. „Mary Ocher + Your | |
Government” ist vor allem Rhythmus. Hier geht es um Beats und den | |
knallharten Sound von Schlagzeug. Ochers Signaturinstrumente – Gitarre und | |
Keyboard – rücken dafür in den Hintergrund, tauchen in manch einem Song gar | |
nicht mehr auf. Auch die Melodie spielt nur eine Nebenrolle und damit gibt | |
es auch weniger von Ochers kapriziösem Gesang. | |
## Die Stimme als Percussioninstrument | |
„A new language that you speak“, singt sie scheinbar programmatisch im | |
zweiten Song, „Reveals the features on your face / We are more capable of | |
change / More capable than you think.“ Die Wandlungsfähigkeit ihrer Stimme | |
führt sie gleich zu Beginn des Albums vor: Sie singt nicht, sie quäkt, | |
ruft, bellt, und wirft Töne fast mit Schnappatmung aus. Ihre sonst so | |
virtuose Stimme wird zum pointierten Percussioninstrument. | |
Zwei Schlagzeuger, das ist eine alte Geschichte: Siehe auch Grateful Dead, | |
Frank Zappa und Tortoise, um nur drei Vertreter zu nennen, die die Drums in | |
zweifacher Ausführung einsetzen. Die Idee dazu, so verrät Ocher im | |
Gespräch, soll ihr beim Lesen der Autobiografie von Adam Ant gekommen sein. | |
Der britische Künstler, mit bürgerlichem Namen Stuart Leslie Goddard, war | |
Frontman der Punk- und New Romantic-Band Adam and the Ants. In den | |
Achtzigern erreichten die Ants ihren trotzigen, treibenden Sound mit zwei | |
Drums, die sie mal gedoppelt und mal einander ergänzend einsetzen. | |
„DreamX3“ ist der Song auf Ochers Album, bei dem das ganze Volumen des | |
doppelten Drum-Kits hervortritt. Ein einfacher, schneller Beat, der zu | |
wirbelnden Sequenzen aufbraust. Synchron werden die Schlagzeuge bedient: | |
Zweimal Snare-Drum, zweimal Bass-Drum, zweimal die Toms. Das ist fett. | |
## Krasse Zackigkeit | |
Diesem dick aufgetragenen Beatgerüst fügt Mary Ocher keine Harmonien zu, | |
sondern setzt ihm sphärische Synthies entgegen. Wabernd changieren sie | |
zwischen tiefer und hoher Tonlage. Krasse Zackigkeit versus ungreifbare | |
Umschmeichelung. Dazu singt sie auf ihre Art: Sie springt mit Leichtigkeit | |
zwischen den Tonleitern, verweilt beim höchsten Ton und dehnt ihn mit einem | |
derben Vibrato aus. Im Videoclip zu „Dream X3“ zeigt sich Mary Ocher als | |
majestätische Waldhexe. Zärtlich nestelt sie an ein paar Grashalmen. Ihre | |
herrschaftliche Insignienkrone und ihr Brustschild sind aus Silberfolie und | |
Edding zusammengeschustert. | |
Mary Ocher kommt von überall her und zitiert mit einer charmanten Melange | |
aus Trash, Dilettantismus und hoher Musikalität, was sie auf ihren | |
Lebensstationen findet. Seit ein paar Jahren ist Berlin ihr | |
Lebensmittelpunkt. Und der Sound der Stadt schimmert auch auf dem Album | |
durch, wenn im Finale plötzlich der „Potsdamer Platz“ und die „Nürnberg… | |
Straße“ in die englischen Lyrics rollen. | |
Auf einem zittrigen Akustikbeat – nur Snare und Hi-Hat – den sie mit | |
minimalen Synthieeffekten umwebt, singt sie schließlich „A man lost in time | |
near KaDeWe“. Ihr Song ist eine gelungene Coverversion von [4][David Bowies | |
„Where are we now“] aus dem Jahr 2013: Bowies Hymne auf Berlin, von Mary | |
Ocher als trockene Drumadaption neu interpretiert. Ein trauriger, ein | |
schöner Zufall. | |
21 Jan 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=Q16QkD3Qwmg | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=rUDUENV2igE | |
[3] https://www.youtube.com/watch?v=qQ3OOL1a5sY | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=QWtsV50_-p4 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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