# taz.de -- Chilly Gonzales: „Ich mag Gegensätze“ | |
> Der Kanadier Chilly Gonzales ist von Berlin nach Paris gezogen, um dort | |
> sein Spiel zu veredeln. Er möchte poetischer Pianist und vulgärer | |
> Entertainer zugleich sein. | |
Bild: Chilly Gonzales: „Ich nehme die beste aller Kombinationen aus Klassik u… | |
sonntaz: Herr Gonzales, warum haben Sie 1995 Kanada Richtung Berlin | |
verlassen? | |
Chilly Gonzales: Ich wusste immer, dass meine Werte in der alten Welt | |
liegen. Meine Eltern wanderten einst von Europa nach Montreal aus, und ich | |
hoffte, dass ich mit der Kombination aus alter und neuer Welt in Berlin Fuß | |
fassen könnte. Mein Humor und meine Vorliebe für Rap sind amerikanisch | |
geprägt, aber mein wahres Herz gehört dem Paris von 1911 – ich fühle mich | |
den Momenten in der Moderne, ihrer Musikfarbe sehr verbunden. | |
Als die Leute noch wussten, was Ausdruck bedeutet. Ich benötigte zehn | |
Jahre, mir das einzugestehen – schließlich war ich gerade 30, als ich mich | |
zur alten Musik bekannte. Ich beschloss meinen Humor zu nutzen und so das | |
Vertrauen der Menschen zu gewinnen. | |
Sie haben bis vor wenigen Jahren in Berlin gewohnt, was verbinden Sie heute | |
mit der Stadt? | |
Mehrmals im Jahr komme ich her, treffe Freunde und schreibe Songs – zum | |
Beispiel mit Peaches –, Berlin ist Vergnügen und Arbeit zugleich. Ich finde | |
genügend Anlässe, um wiederzukommen, nachdem ich vor neun Jahren | |
weggegangen bin. | |
Hat sich die Stadt seitdem verändert? | |
Berlin ist auch deshalb so faszinierend, weil sich die Stadt ständig | |
verändert. | |
Warum sind Sie dann weggezogen? | |
Paris bietet mir eine professionellere Umgebung. In Berlin gibt es den | |
Underground, weil der hier günstig leben kann. In Paris ist es | |
kommerzieller, was für mich mehr Druck bedeutet, aber auch mehr | |
Möglichkeiten, mich weiterzuentwickeln. Ich arbeite dort mit Stars wie Jane | |
Birkin und Charles Aznavour. In Berlin hat mich niemand aus der Welt der | |
properen Musik angesprochen. In Frankreich werde ich ständig gebucht. Die | |
Undergroundinsel Berlin ist toll, aber zu eingeschränkt, ich möchte meine | |
Fühler in alle Richtungen ausstrecken können. | |
Der Umzug nach Paris war also professionelle Herausforderung? | |
Berlin war ideal, um zu lernen, auf der Bühne zu stehen – ohne | |
Leistungsdruck. Ich hab das fünf Jahre gemacht und wollte dann aber auch | |
anderen musikalischen Welten zeigen, was ich kann. Das Biotop Berlin hat | |
mir den Raum gegeben, mich schwierigen Aufgaben zu stellen, nicht weniger | |
herausfordernd als Paris, aber anders. Ich konnte mich ausprobieren, ohne | |
verurteilt zu werden. Das Gute ist, dass es um 1998 stattfand, also vor | |
YouTube: Von mir gibt es keine Videos meiner peinlichen Auftritte. | |
Und jetzt in Paris? | |
Immer, wenn ich ankomme, wo ich hinwollte, gibt es Neues zu entdecken. | |
Ankommen ist reine Illusion. Alle Künstler suchen immer weiter. | |
Also ist Ihr neues Piano-Soloalbum auch eher wieder eine Momentaufnahme? | |
Ich reagiere mit jedem Projekt auf das vorangegangene und achte darauf, was | |
die nächste Szene im Chilly-Gonzales-Filmepos sein könnte. Elektronik mit | |
BoyzNoize oder Klassik mit Rap kombiniert. Die Pianostücke sind | |
Großaufnahmen. Sie bauen auf etwas Puristischem, Nichtclowneskem. Es ist | |
klar strukturierte minimalistische Musik, im klassischen Popsongformat – | |
zweieinhalb Minuten –, ohne komplizierten klassischen Firlefanz. Ich nehme | |
die beste aller Kombinationen aus Klassik und Jazz, um daraus Pop zu | |
machen. | |
Wieso spielen Sie nicht gleich klassische Musik? | |
Ich fühle mich der Klassik zwar verbunden, aber sie findet in einer | |
furchtbaren Umgebung statt, die das Publikum überhaupt nicht respektiert. | |
Ich habe gemerkt, dass ich mich zwar zu den alten Werten hingezogen fühle, | |
aber ich will nichts mit den Institutionen zu tun haben, die diese | |
repräsentieren. Ich will die Verbindung zur alten Musik haben, aber | |
gleichzeitig ein Mensch der Zeit sein – das ist mir sehr wichtig. Mein | |
Musikgeschmack unterscheidet sich zwar vom Mainstream, nicht aber mein Sinn | |
für Performance und Humor, also habe ich versucht, ein Konzept daraus zu | |
formen. | |
Indem Sie sich als eine Art Konzeptkünstler inszenieren? | |
Die Berliner haben meinen Piano-Spleen stets gut aufgenommen. Also habe ich | |
das ausgebaut und 2004 „Solo Piano I“ veröffentlicht. Das heißt nicht, da… | |
ich jetzt für immer Konzept-Piano-Humor liefern muss. Nur, wenn mir danach | |
ist. Nun also, acht Jahre später, komme ich mit Piano-Album Nummer zwei. Es | |
ist mehr Pop und hat unterschiedlichere Stimmungen – so klingt die Zukunft | |
meines Piano-Spiels. | |
HipHop ist der andere rote Faden, der sich durch Ihr Werk zieht. | |
Rap ist nicht so emotional, entspricht also nicht dem Ideal der | |
italienischen Oper, dass ein tiefes Gefühl gesungen werden muss, weil es | |
sich nicht in Worten allein ausdrücken lässt. Ich bin eher ein Vertreter | |
der deutschen Idee, dass sich Gefühle am besten durch Instrumente | |
ausdrücken lassen. Das Piano-Album und die Instrumentals von „Ivory Tower“ | |
sind für mich der Gipfel der emotionalen Musik. Die Beethoven-Idee, dass | |
absolute Musik den Menschen ausdrückt, ist die erste romantische Idee im | |
Prinzip. Rap funktioniert anders. Er repräsentiert, wie Menschen | |
kommunizieren, deswegen ist er so übertrieben. Denn Sprache ist bereits | |
Teil einer Projektion von dem, was man darstellen will. Das gefällt mir, | |
und ich habe es deshalb zum Bestandteil meiner Entertainerphilosophie | |
gemacht. Fürs Gefühl ist Instrumentalmusik zuständig. Worte können keine | |
Gefühle ausdrücken. | |
Warum unterscheiden Sie zwischen Entertainer und Künstler? | |
Der Entertainer ist auch Künstler, aber er hat bereits verstanden, dass es | |
um die Kommunikation mit dem Publikum geht. Beethoven hat das Publikum | |
immer mitgedacht, auch Picasso und die Rapper sind sich bewusst, dass es | |
wichtig ist, was ihre Zuhörer denken. Nur in der Welt, aus der ich komme, | |
Indie-Rock, Elektronik –, da hängt man dem faulen Glauben an, dass das | |
Publikum schon kommt, wenn man einfach macht, was man will. | |
Sind Sie gegen zu starke Egos auf der Bühne? | |
Wer das Publikum ignoriert, ist wie ein Zahnarzt, der keine Zähne | |
reparieren kann. Kommunikation ist der Schlüssel, sie funktioniert bei Daft | |
Punk, wenn sie Helme aufsetzen, oder bei Miles Davis, der mit dem Rücken | |
zum Publikum Trompete spielte. Man muss trotzdem etwas fürs Publikum tun, | |
es zum Nachdenken anregen. Kommunikator wäre ein noch besseres Wort als | |
Entertainer. Leute, die sich Künstler nennen, sind jedenfalls oft mehr an | |
Lifestyle interessiert als an Kunst. | |
Wollen Sie Ihr Publikum beeinflussen? | |
Ich glaube nicht, dass ich das kann. Das funktioniert vielleicht bei | |
Leuten, mit denen ich arbeite, die wiederum mehr Einfluss haben – etwa | |
Peaches oder Feist. Und die beeinflussen dann vielleicht andere. Ich bin zu | |
sehr Nische, als dass ich etwas im Großen verändern könnte. Ich mache | |
nichts genuin Neues, ich verbinde nur die beiden großen Pole Klassik und | |
Rap miteinander und bringe meine Hörer vielleicht so auf neue Ideen. | |
Wie wichtig nehmen Sie Konkurrenz? | |
Es gibt positive wie negative Aspekte von Konkurrenz, an denen ich mich | |
immer noch abarbeite. Es ist eine Realität in meinem Gewerbe, aber viele | |
Künstler – ausgenommen die Rapper, denn sie sind erleuchtet, was das angeht | |
– tun so, als sollte es keinen Wettbewerb geben. Nur wegen ein paar | |
negativer Aspekte werden alle positiven ignoriert. | |
Wie oft studieren Sie einen Song ein, bevor er sitzt? | |
Machmal spiele ich das Material 40-mal, bevor es klick macht. Zum Glück | |
nehme ich die ganze Zeit auf. Ich mag es, wenn Gegensätze rüberkommen, auf | |
der einen Seite der poetische Pianist, auf der anderen Seite der vulgäre | |
Entertainer – das bin ich. Also spiele ich ein poppiges Stück wie „White | |
Keys“ eher klassisch-europäisch und ein klassischeres Stück wie | |
„Wintermezzo“ eher mit Rap im Hinterkopf, also amerikanisch. Bei den | |
Klavierstücken kann ich auch nicht einfach einen Teil ändern oder remixen – | |
es ist jedes Mal Liveperformance, die adrenalin- und schweißtreibend ist | |
und nicht einfach nur Aufnahme. | |
Wieso klappte es nicht mit den gemeinsamen Helge-Schneider-Auftritten? | |
Ich wollte ihn musikalisch involvieren, er mich komödiantisch. Es lief | |
darauf hinaus, dass wir nicht auf einen Nenner kamen. Manchmal denkt man | |
sich: Ja super, wir beide machen irgendwie das Gleiche, aber kommen aus | |
unterschiedlichen Generationen, das wird bestimmt gut, aber die Chemie | |
stimmte leider nicht. | |
Chilly Gonzales: "Solo Piano II" (Gentle Threat/Indigo) | |
9 Sep 2012 | |
## AUTOREN | |
Julia Niemann | |
Julia Niemann | |
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