# taz.de -- Bürgerwissenschaft wird Forschungsobjekt: Willkommene Unterstützu… | |
> Die Laien von Citizen Science sind in der Wissenschaft angekommen. Sie | |
> widmen sich immer mehr Projekten – und sind selbst Forschungsobjekt | |
> geworden. | |
Bild: Interessierte Bürger und Bürgerinnen helfen bei der Bestandsaufnahme de… | |
BERLIN taz | Ursprünglich war „Citizen Science“ dafür gedacht gewesen, | |
[1][dass wissenschaftliche Laien den professionellen Forschern empirische | |
Hilfsdienste leisten,] etwa beim sprichwörtlichen Fliegenbeinzählen. | |
Heimlich, still und leise ist aber aus der Bürgerforschung selbst eine | |
Wissenschaft geworden, wie sich aus dem jetzt vorgelegten Kompendium „The | |
Science of Citizen Science“ erschließt. Unterdessen werden über einen | |
Wettbewerb des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) weitere | |
15 Citizen-Science-Projekte mit neun Millionen Euro gefördert. | |
Herausgegeben wurde das neue Standardwerk der Bürgerforschung, das auf 520 | |
Seiten über 100 Autoren aus 22 Ländern versammelt, von Katrin Vohland, der | |
neuen Generaldirektorin des Naturhistorischen Museums in Wien. Zuvor hatte | |
sie das Thema lange Zeit am Berliner Naturkundemuseum betreut. Dem [2][über | |
Open Access frei zugänglichen Buch] liegt die vierjährige Arbeit eines | |
europäischen Netzwerks zugrunde. | |
Dargestellt wird die thematische Bandbreite der Bürgerforschung, neue | |
Methoden der Datengewinnung und Ansätze zu ihrer Qualitätssicherung bis hin | |
zu den Wirkungen in das Wissenschaftssystem. „Darüber hinaus bietet das | |
Werk praktische Unterstützung zur Umsetzung von Projekten und adressiert | |
auch neu aufkommende Themen wie beispielsweise Citizen Science und | |
künstliche Intelligenz“, betont Katrin Vohland. | |
Die Autoren stellen fest, dass Citizen Science „zunehmend von der | |
politischen Ebene wahrgenommen“ werde. Zum einen würden die Daten | |
geschätzt, zum anderen die „Erhöhung der Wissenschaftsmündigkeit als | |
solche“. Bürgerforschung spiele entsprechend „in nationalen | |
Bildungsoffensiven und auch in der europäischen Forschungs- und | |
Innovationspolitik eine Rolle“. In Deutschland wird von den Akteuren der | |
Szene – das sind Vertreterinnen und -vertreter aus Wissenschaft, Museen, | |
Politik und Förderorganisationen – derzeit an einem „Weißbuch“ gearbeit… | |
das bis Ende 2021 eine „allgemein gültige Strategie für die | |
Bürgerforschung“ formulieren soll. | |
Die einstmals frei durch die Landschaft streifenden Naturliebhaber, die | |
ihre Beobachtungen genau zu Papier bringen – legendär sind die | |
[3][Krefelder Insektenzähler, die den Artenschwund dokumentierten –] werden | |
inzwischen von der Wissenschaft und der Forschungspolitik an die Hand | |
genommen. Immer in gut gemeintem Sinne. Auch die neun Millionen Euro aus | |
dem neuen [4][Fördertopf des BMBF] sind in dieser Weise gedacht. | |
## Großes Interesse an Bürgerwissenschaften | |
15 Projekte werden damit unterstützt – immer als Gespann einer | |
wissenschaftlichen Einrichtung mit einer zivilgesellschaftlichen | |
Organisation. „Wir wollen die Bürgerforschung in Deutschland nachhaltig im | |
Wissenschaftssystem verankern“, erklärte Bundesforschungsministerin Anja | |
Karliczek als Zielsetzung. „Gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie zeigt | |
sich, wie wichtig und ertragreich eine stabile Zusammenarbeit zwischen | |
Wissenschaft und Gesellschaft sein kann“, so die Ministerin. Das Interesse | |
der Bürgerinnen und Bürger an Wissenschaft und Forschung „war noch nie so | |
groß wie jetzt“. | |
„Uns hat die thematische Vielfalt der eingereichten Projektideen | |
begeistert“, erklärt Ortwin Renn, Leiter des Instituts für | |
Nachhaltigkeitsforschung IASS in Potsdam, der der elfköpfigen Auswahljury | |
vorsaß. Bei der Auswahl aus rund 80 Einreichungen wurde darauf geachtet, | |
dass das „neue Level der Bürgerforschung“ (Renn), eine wirksame Beteiligung | |
auch an der Nutzung der Ergebnisse, zur Geltung komme. So untersucht das | |
Projekt „CS:iDrop“ gemeinsam mit der Uni Bochum die Qualität des | |
Trinkwassers, wie es aus dem Wasserhahn kommt. Auf den letzten Metern durch | |
alte Bleirohre können sich andere Belastungen ergeben als im Wasserwerk. | |
Die Daten und Ergebnisse der Wasserprüfer werden auf einer openSenseMap | |
veröffentlicht. | |
Beim Projekt „IGAMon-Dog“ bringt der Verein Wildlife Detection Dogs in | |
Kooperation mit dem Unabhängigen Institut für Umweltfragen e. V. in Berlin | |
Spürhunde der besonderen Art zum Einsatz. Sie sollen mit ihrem Geruchssinn | |
in der Flora bestimmte „Invasive und gebietsfremde Arten“ (IGA) aufspüren. | |
Die gewonnenen Daten bilden für Forscher die Grundlage für die Modellierung | |
der Ausbreitungsprozesse der „Pflanzen-Migranten“. Die Ergebnisse des | |
Projektes, so eine Zielstellung, „tragen so zur Planung und Umsetzung | |
gezielter und effektiver behördlicher Maßnahmen bei“. | |
Das Projekt „FamGesund“ will die Gesundheitskompetenz in solchen Familien | |
stärken, in denen ein Angehöriger mit einer schweren Krankheit zu kämpfen | |
hat. Dazu arbeitet das Berliner Alexianer Krankenhaus Hedwigshöhe mit der | |
Katholischen Hochschule für Sozialwesen zusammen. Die gemachten Erfahrungen | |
sollen später breit gestreut werden und zwar in Gestalt eines sogenannten | |
Familienwissenschaftsladens. In ihm soll, wie es heißt, „ein nachhaltiger | |
Dialog zwischen Wissenschaft, Praxis und Bürger*innen zum Thema | |
Familiengesundheit ermöglicht“ werden. Ein interessanter Rekurs: Heutige | |
Bürgerforschung greift auf eine Frühform der zivilgesellschaftlichen | |
Wissenschaftsaneignung – die Wissenschaftsläden der 80er Jahre – | |
zurück. | |
Überhaupt ist das Bürgerengagement für wissenschaftlichen Kenntnisgewinn | |
keine Erfindung der heutigen Citizen-Science-Bewegung, ist die Meinung von | |
Martina Löw. Sie leitet das Freiwilligenmanagement beim Bund für Umwelt und | |
Naturschutz Deutschland (BUND) und war in der BMBF-Jury an der Prüfung der | |
Projekte mit Ökobezug beteiligt. „Bürgerforschung ist für uns sozusagen ein | |
altes Geschäft“, bemerkt sie für ihre Umweltschutzorganisation mit mehr als | |
500.000 Mitgliedern. Deren Naturbeobachtungen fließen in die zahlreichen | |
Arbeitskreise zu Pflanzen und Tieren. „Die Erstellung der Roten Listen der | |
bedrohten Arten wäre ohne die Arbeit unserer Ehrenamtler nicht möglich“, | |
hebt Löw hervor. | |
Als besonderes Beispiel verweist sie auf das Wildkatzen-Monitoring, bei dem | |
über 1.600 Mitglieder des BUND in den letzten Jahren die Auswilderung der | |
vom Aussterben bedrohten Tierart aktiv begleitet haben. Sie legten | |
„Lockstöcke“ für die Tiere an, um auf diese Weise ihren Bestand zu | |
erfassen, und sicherten deren Spuren im Wald, um den Fortschritt der | |
Tierschutzaktion zu dokumentieren. Mit Erfolg: „Die Wildkatze verbreitet | |
sich in Deutschland wieder“, freut sich Martina Löw. In einem weiteren | |
Großprojekt wird aktuell der Verbreitung des Gartenschläfers nachgeforscht, | |
und den Auswirkungen, die der Klimawandel darauf hat. | |
Wenn auch die traditionelle Verortung der Bürgerforschung besonders im | |
Naturschutzbereich aber auch in Vereinen für Lokalgeschichte, nach wie vor | |
bestehen bleibt, so fällt doch auf, dass es parallel zur wissenschaftlichen | |
Beschäftigung mit der Bürgerforschung in den letzten Jahren keine | |
vergleichbare Selbstorganisation auf zivilgesellschaftlicher Seite gegeben | |
hat. | |
Zwar gibt es eine Plattform im Internet ([5][„Bürger schaffen Wissen“]) – | |
dankenswerter Weise bereitgestellt von der Wissenschaft – die | |
kontinuierlich neue Projekte vorstellt; inzwischen über 100 aus allen | |
Disziplinen. Aber es gibt im Vereinsland Deutschland bisher keinen | |
eingetragenen Verein, der die vielfältigen Citizen-Science-Gruppen bündelt, | |
als ihr Sprachrohr und ihre Interessenvertretung agiert. Auch klassische | |
Aktivitäten für soziale Bewegungen, wie eine Jahreskonferenz oder eine | |
Mitgliederzeitschrift, fehlen bislang. Citizen Science – so hat es den | |
Anschein – ist in Deutschland zwar auf Seiten der „Science“ überaus akti… | |
aber bei den „Citizens“ noch eher unterentwickelt. | |
15 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Wissenschaftlerin-ueber-Insektenzaehlung/!5599322 | |
[2] https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-030-58278-4 | |
[3] /Neue-Belege-fuer-Insektensterben/!5634918 | |
[4] /Buergerforschung-im-Wandel/!5543190 | |
[5] https://www.buergerschaffenwissen.de/ | |
## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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