# taz.de -- Bilanz des 1. Mai in Berlin: Umverteilung bewegt die Massen | |
> Die Proteste zum 1. Mai waren groß, die Umverteilung des Reichtums der | |
> rote Faden. Erst das Einschreiten der Polizei sorgt für die Eskalation. | |
Bild: Die Revolutionäre 1. Mai-Demo füllt den Hermannplatz | |
BERLIN taz | Die Karawane der [1][Grunewald-Fahraddemo] rollte auf ihrem | |
Rückweg aus dem Villenviertel bereits eine halbe Stunde über die Autobahn, | |
als das Ende der Demo am Hohenzollerndamm erst die A 100 erreichte. Die | |
Spitze, die einem Truck mit lauter Technomusik hinterher fuhr, war da | |
bereits fünf Kilometer weiter in Schöneberg. Es war eine Massenbewegung | |
von, nach Veranstalterangaben, bis zu 20.000 Demonstrant*innen, die die | |
Tour am 1. Mai in den Problembezirk auf sich genommen hatte – weitaus mehr | |
als in den ersten beiden Jahren der hedonistischen Großdemonstration. | |
Nicht anders dann das Bild am Abend am Hermannplatz. Die [2][Revolutionäre | |
1. Mai-Demo] brauchte eine gute Dreiviertelstunde, um sich vollständig in | |
Bewegung zu setzen. Auch hier dürfte die Teilnehmer*innenzahl an das | |
Rekordjahr 2014 heranreichen, als bis zu 25.000 Menschen auf der Straße | |
waren. Mindestens 1.000 Menschen – und damit weit mehr als erwartet – | |
hatten bereits am Vormittag an einer [3][klassenkämpferischen | |
Gewerkschafts- und Arbeiter*innen-Demo] teilgenommen. Die Beteiligung an | |
den linken und linksradikalen Aufzügen zum Tag der Arbeit in Berlin war | |
zusammengenommen so groß wie nie in der jüngeren Vergangenheit. | |
Das lag nicht zuletzt daran, dass es etwa der Migrantifa gelungen ist, eine | |
junge Generation auf die 18-Uhr-Demo in Neukölln zu holen, die vielfach | |
erst mit den [4][Black-Live-Matters-Protesten] ihre politische | |
Sozialisation erfahren hat. Zwar war die Revolutionäre Demo nie so | |
weiß-deutsch wie andere Proteste der radikalen Linken, aber so | |
international war sie auch noch nie. Dem Migrantifa-Frontblock mit seinem | |
„Yallah Klassenkampf“-Transpi folgten ein halbes Dutzend weiterer Blöcke | |
migrantischer Organisationen. | |
Dass für einige Beobachter*innen nun eine überschaubare Gruppe | |
Palästinenser*innen im Fokus steht, die sich mit Intifada-Sprüchen | |
und ihrem Hass auf Israel zu Recht dem Vorwurf des Antisemitismus | |
ausgesetzt sehen, ist schade für die Demo. Verantwortlich ist das | |
Organisationsbündnis, das diese Gruppen einband. | |
## Demo-Ende nach 500 Metern | |
In der großen Überzahl allerdings waren die vielfach unorganisierten | |
Jugendlichen – denen die Erinnerung an [5][Hanau] deutlich wichtiger ist | |
als die Aussicht auf ein bisschen Krawall. Dass es zu diesem dann doch kam, | |
obwohl die Organisator*innen auf einen friedlichen Verlauf gedrängt | |
hatten, darf man getrost der Taktik der Polizei zuschreiben, die anders als | |
sehr viele Jahre lang ihre Deeskalationsstrategie im Spind gelassen hatte. | |
Stattdessen hieß es Helme auf und rauf. Überrascht musste man nicht sein. | |
Das „konsequente Einschreiten“ war angekündigt, schließlich ist auch der | |
SPD-Innensenator im Wahlkampfjahr. | |
Der Angriff der Polizei, der die Demo am Rathaus Neukölln teilte und | |
schließlich beendete, war gut vorbereitet. Etwa eine Viertelstunde zuvor | |
formierten sich mehrere Züge von Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten | |
am Ende einer straßenverengenden Baustelle, um dann in die Demo zu stürmen | |
und den hinteren Teil einzukesseln. | |
Die vorzeitige Außerkraftsetzung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit | |
erfolgte nicht etwa, weil die anarchistischen und klassischen | |
linksradikalen Blöcke zuvor Gewalt ausgeübt hätten, sondern weil sie – | |
angeblich – gegen die Hygieneauflagen verstießen. Klar ersichtlich war: Zu | |
enge Abstände, die gab es, besonders am Hermannplatz und in | |
Straßenengpässen. Eine Maske hatte dagegen nahezu jeder auf, ganz gleich in | |
welchem Teil der Demo. | |
Die Polizei demonstrierte, anders als bei unzähligen | |
Coronaleugnerprotesten, Stärke und eine gehörige Portion Aggressivität. In | |
mehreren Situationen nahm sie [6][schwere Verletzungen in Kauf]. 354 | |
Menschen wurden festgenommen. 93 Beamt*innen wurden verletzt gemeldet. | |
Sie zeugen davon, dass sich nach dem Angriff auf die Demo eine Wut, | |
mitunter auch der Drang nach Eskalation entlud. | |
Einige massive Stein- und Flaschenbewürfe und mindestens drei brennende | |
Barrikaden sind das Ergebnis, das Autonome auf Indymedia vom „größten | |
Krawall seit 10 Jahren“ schwärmen lässt – der aber rechtzeitig vor Beginn | |
der Ausgangssperre sein Ende fand. Aber auch die Polizei und ihre | |
politische Führung wird mit der Bilanz gut leben können: Erstere sind | |
konsequent eingeschritten, zweitere können auf die Gewalt verweisen statt | |
sich mit der politischen Kritik zu beschäftigen. | |
## Inhaltliche Fokussierung | |
Durch die Proteste – und auch das bleibt zentral für die Bilanz des Tages – | |
zog sich ein deutlich wahrnehmbarer inhaltlicher roter Faden mit der | |
[7][Forderung nach Umverteilung]. Keine Demo, kaum eine Rede, die nicht auf | |
die 45 reichsten Deutschen einging, die so viel Vermögen besitzen wie die | |
untere Hälfte der Bevölkerung. Es ging um die Krisengewinner*innen, die | |
ihren Wohlstand trotz Pandmie vermehren konnten, um gerettete Konzerne wie | |
die Lufthansa, die zum Dank ihre Mitarbeiter*innen auf die Straße | |
setzen oder sich um ihre Steuern drücken. Und natürlich ging es in den | |
Redebeiträgen auch um die Immobilienbranche, die von der wirtschaftlichen | |
Bedrohung durch Corona noch nicht einmal gehört hat. | |
Mindestens zwei Faktoren dürften für diese inhaltliche Fokussierung | |
ausschlaggebend sein: Die Pandemie, die für sehr viele Menschen | |
wirtschaftliche Nöte bedeutet, lässt die Gegensätze zwischen arm und reich, | |
zwischen jenen, die um ihre Existenz bangen und jenen, die immer | |
profitieren, noch einmal deutlicher zu Tage treten. Die Klassengesellschaft | |
wird wieder erkennbarer. | |
Zweitens hat das [8][Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co. enteignen] den | |
Möglichkeitshorizont erweitert: Wer vor zwei Jahren Enteignung sagte, galt | |
als hängen gebliebener linksradikaler, womöglich stalinistischer Phantast. | |
Nun scheint die Vergesellschaftung plötzlich greifbar. Und, wer sich | |
umhörte auf den Demos, weiß auch: Längst wird über Immobilienkonzerne | |
hinaus gedacht, etwa an private Krankenhausunternehmen oder | |
Energieversorger. Bis zum nächsten 1. Mai bleibt wie immer viel zu tun. | |
2 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Berliner-MyGruni-Demo-am-1-Mai/!5769304 | |
[2] /1-Mai-in-Berlin-und-Hamburg/!5769306 | |
[3] /DGB-am-1-Mai-in-Berlin/!5769296 | |
[4] /Black-Lives-Matter-Proteste-in-Berlin/!5687710 | |
[5] /Angehoerige-zum-Jahrestag-in-Hanau/!5751926 | |
[6] https://twitter.com/Dok_Wu/status/1388590094244892672?s=20 | |
[7] /Brief-fuer-Verteilungsgerechtigkeit/!5762868 | |
[8] /Volksbegehren-Deutsche-Wohnen-enteignen/!t5764694 | |
## AUTOREN | |
Erik Peter | |
## TAGS | |
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
Polizei Berlin | |
Umverteilung | |
Migrantifa | |
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
taz Plan | |
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
Wochenkommentar | |
Reichtum | |
Schwerpunkt 1. Mai weltweit | |
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
Polizei Berlin | |
Schwerpunkt 1. Mai weltweit | |
Polizei Berlin | |
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin | |
Polizei Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
1. Mai in Berlin: Weiter Stress um 18-Uhr-Demo | |
Das Revolutionäre 1.-Mai-Bündnis erwägt gegen Streckenauflagen für die Demo | |
zu klagen. Straßenfeste könnten aber auch als Versammlungen gelten. | |
1. Mai in Berlin: Mehr als nur Folklore | |
Traditionen zu pflegen, heißt sie mit Inhalt zu füllen. Angesichts | |
drängender Krisen könnte dies der Bewegung gut gelingen. | |
Linksradikaler 1. Mai in Berlin: Revolution, wie immer | |
Revolutionäre 18-Uhr-Demo und Grundewald-Parade – die Protestklassiker gibt | |
es auch in diesem Jahr. Doch wie groß ist ihre Mobiliserungskraft? | |
Gesetzentwurf des Berliner Enteignungsbegehrens: Nicht zum Nulltarif | |
Die Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen hat einen Gesetzentwurf | |
vorgelegt – doch was taugt der tatsächlich? | |
Bericht der Bundesregierung: Die Armutsfrage | |
Wie hat sich die Armut in Deutschland entwickelt? Der Bericht liefert dazu | |
unterschiedliche Zahlen – Corona dürfte den Ausblick weiter trüben. | |
Debatte über Randale und Polizeieinsätze: Wer eskalierte am 1. Mai? | |
Die Politik diskutiert über die Demonstrationen und Polizeieinsätze. Die | |
einen sehen sinnlose Krawalle, die anderen Polizeigewalt. | |
Aufarbeitung des 1. Mai: Eskalativer Infektionsschutz | |
Im Innenausschuss verteidigen die Verantwortlichen die harte Polizeitaktik | |
auf der 18-Uhr-Demo. Die Linke sieht das Ziel des Einsatzes nicht erfüllt. | |
Reaktionen nach dem 1. Mai in Berlin: Kritik und Zuspruch für die Polizei | |
Nach der eskalierten 1.-Mai-Demo kritisiert die Oppostion den „Kuschelkurs“ | |
des Senats. Grüne und Linke wollen den Polizeieinsatz aufarbeiten. | |
1. Mai 2021 in Hamburg: Verbot und Chaos | |
Linker Protest zum 1. Mai war in Hamburg verboten, dennoch suchten sich | |
viele ihren Weg auf die Straßen. Die Polizei reagierte gewaltvoll. | |
1. Mai in Berlin und Hamburg: Riesiger Andrang | |
Bei der alljährlichen 1.-Mai-Demo ist es im Berliner Stadtteil Neukölln zu | |
Ausschreitungen gekommen. In Hamburg wurden linksradikale Demos verboten. | |
Berliner MyGruni-Demo am 1. Mai: Love Parade im Grunewald | |
Demonstrant*innen linker Bündnisse wie „MyGruni“ sind in Richtung der | |
Villenviertel im Berliner Westen gezogen. Alles ist friedlich geblieben. | |
DGB am 1. Mai in Berlin: Keine Bratwurst und linke Konkurrenz | |
Coronabedingt fällt die Kundgebung des DGB kleiner aus als in den | |
Vorjahren. Und von der FAU kriegt er auch noch Schelte für seinen „laschen | |
Kurs“. |