# taz.de -- Berliner Staatsoper während der NS-Zeit: Versteckt zum Opernfreund… | |
> Die Staatsoper in Berlin ist wieder offen. Hier suchten in der Nazizeit | |
> verfolgte Juden Zuflucht, so wie Walter Frankenstein. | |
Bild: In der Staatsoper glaubte sich Walter Frankenstein sicher vor seinen Häs… | |
Das abgegriffene Notizbuch mit linierten Seiten ist fast vollständig mit | |
handschriftlichen Notizen gefüllt. Unter dem Datum des 23. Juni steht da: | |
„Staatsoper. ‚Tristan und Isolde‘. Dirigent: Furtwängler“. | |
Die Einträge stammen aus dem Kriegsjahr 1944, und der junge Mann, der die | |
Notizen schrieb, war damals nicht ganz freiwillig regelmäßiger Besucher der | |
Staatsoper Unter den Linden. Walter Frankenstein ist heute 93 Jahre alt. | |
Erst vor ein paar Tagen, bei einem seiner Besuche in der alten Heimat, hat | |
er davon gehört, dass in der Staatsoper nach langer Renovierungspause | |
endlich wieder gespielt wird. Das hat ihn sehr gefreut. „Da wäre ich gerne | |
dabei gewesen“, sagt er über das Eröffnungskonzert, bei dem am Tag der | |
Deutschen Einheit Szenen aus Goethes Faust, zu denen Robert Schumann die | |
Musik schrieb, gezeigt wurden. | |
Die Erinnerungen, die Frankenstein an die Staatsoper hat, sind etwas anders | |
als die der üblichen Opernhausbesucher. Denn Frankenstein ist Jude. Damals, | |
1944, lebte er untergetaucht in Berlin, gesucht von Gestapo und Spitzeln. | |
Sein sicheres Versteck in der Königsallee 44 in Grunewald, wo ihn | |
monatelang ein hilfreicher christlicher Chemiker verborgen hielt, war im | |
Februar durch eine Fliegerbombe zerstört worden. Ein anderes Versteck aber | |
besaß Walter Frankenstein nicht. Er übernachtete auf Trümmergrundstücken | |
oder wo sich sonst noch eine Gelegenheit bot. | |
## Bei Wagner Schlaf nachholen | |
So kam es, dass der hochgewachsene, schlanke junge Mann auf die Idee | |
verfiel, die Theater-, Konzert- und Opernhäuser der Stadt zu nutzen, um | |
sich auszuruhen und ein bisschen Schlaf nachzuholen. Dort lief selbst im | |
fünften Kriegsjahr noch nahezu das volle Programm; die „Volksgenossen“ | |
sollten nach dem Willen von Propagandaminister Joseph Goebbels weiterhin | |
Gelegenheit erhalten, sich bei Kunst und Kultur von der tristen Gegenwart | |
mit ihren Bombennächten abzulenken. Von Juden komponierte Stücke waren | |
freilich streng verboten, auch „artfremde Musik“ wie Jazz war nicht | |
zugelassen. | |
Aber was kümmerte das einen gesuchten Juden auf der Flucht? Frankenstein | |
besuchte das Schauspielhaus und das Deutsche Theater, er verschlief | |
Aufführungen im Theater am Schiffbauerdamm wie die Stücke in der Deutschen | |
Oper. Vor allem aber zog es ihn immer wieder in die Staatsoper, die erst im | |
Dezember 1942 nach schweren Kriegsschäden wiedereröffnet worden war. „Ich | |
habe einmal die ganzen ‚Meistersinger‘ verschlafen“, erinnert er sich. Die | |
Spieldauer von Richard Wagners Oper beträgt immerhin fünf Stunden. | |
Hier, selbstverständlich auf den billigsten Plätzen ganz oben im Saal, | |
glaubte sich Walter Frankenstein sicher vor seinen Häschern. „Ich war gar | |
nicht nervös“, sagt er heute. | |
## Spitzel unter den Besuchern | |
Was er nicht wusste: Gerade die Staatsoper zählte zu den Häusern, die von | |
der Gestapo streng überwacht wurden. Jüdische Spitzel, „Greifer“ genannt | |
und von den Nazis mit Todesdrohungen zum Dienst gepresst, gingen dort ein | |
und aus, suchten nach den „U-Booten“, wie sich die untergetauchten Juden | |
selbst nannten. Unter den Spitzeln befand sich neben Stella Kübler, das | |
„blonde Gift“ genannt, auch Günther Abrahamsohn, ein alter Bekannter von | |
Frankenstein. „Der hätte mich bestimmt erkannt“, ist sich Frankenstein | |
sicher. „Festhalten, Jude!“ rief Stella Kübler, als sie am 16. Dezember | |
1943 den untergetauchten Moritz Zajdmann mitsamt seiner Familie erwischte. | |
Passanten ergriffen Moritz, den Rest besorgte die Gestapo. Die Familie | |
wurde nach Auschwitz deportiert. | |
Frankenstein wusste davon nichts. „Ich hatte keine Ahnung. Dort fühlte ich | |
mich sicher, es gab keine Militärpolizei“, sagt er heute. Die Staatsoper | |
Unter den Linden galt als bevorzugtes Haus von Hermann Göring, der dort | |
regelmäßig die Vorstellungen verfolgte. Frankenstein ist sich nicht ganz | |
sicher, ob er einmal nur wenige Meter vom Oberbefehlshaber der deutschen | |
Luftwaffe entfernt den Takten des Dirigenten Karajan oder Furtwängler | |
gefolgt ist. | |
Frankensteins Notizbuch mit den linierten Seiten und einer schwedischen | |
Deckadresse auf dem Innendeckel liest sich fast wie ein Opernkurzführer: am | |
6. April Beethovens „Fidelio“, am 7. der „Lohengrin“ von Wagner, am 12. | |
„Orpheus und Euridike“. Für den 21. April 1944 trug Frankenstein die | |
„Entführung aus dem Serail“ von Mozart ein, am 24. tauchte er bei dessen | |
„Hochzeit des Figaro“ in der Staatsoper auf. „Gedankenlos“ sei es gewes… | |
damals dieses Notizbuch zu führen, meint er. | |
Der verfolgte Frankenstein, der die Oper ursprünglich nur als praktische | |
Schlafstelle verstanden hatte, entwickelte schon bald ein reges Interesse | |
an Musik und Inszenierung. Die Sopranistin Erna Berger wurde sein Idol, | |
noch heute erinnert er sich an ihren Auftritt als Gilda, der Tochter des | |
Rigoletto, in der Oper von Giuseppe Verdi. Und bis heute liebt Frankenstein | |
die Oper. | |
Am 5. Oktober 1944 brechen die Eintragungen in Frankensteins Notizbuch mit | |
der „Sinfonie Nr. 8 von Bruckner“ ab. Etwa zur gleichen Zeit fand er ein | |
neues Quartier in Berlin-Wilmersdorf, Emser Straße 16. Seine Retterin trug | |
den Namen Sophie Döring, sie war eine Hausfrau, deren Mann als Soldat in | |
Polen stationiert war. | |
Heute lebt Walter Frankenstein in Stockholm und interessiert sich lebhaft | |
für die Geschehnisse in Berlin. Er hat von der Anhebung der Saaldecke im | |
Zuge der Renovierung der Staatsoper gehört. „Da soll es ja eine fantasische | |
Akustik geben“, sagt er. Und, ja, eine Einladung zum Besuch würde er gerne | |
annehmen. | |
10 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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