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# taz.de -- Berlinale-Regisseur Samuel Kishi Leopo: „Nicht alles ist Dunkelhe…
> Der mexikanische Filmemacher über sein Migrationsdrama „Los Lobos“,
> postmoderne Boleros, fantasievolle Kinder und alleinerziehende Mütter.
Bild: Leonardo Nájar Márquez, Martha Reyes Arias, Maximiliano Nájar Márquez…
taz: Herr Leopo, auf der Berlinale 2014 überraschten Sie das Publikum mit
ihrem Debüt „Somos Mari Pepa“. In dem semi-dokumentarischen Spielfilm
erzählten Sie lebendig von einer Gruppe von Teenagern in Guadalajara und
ihrem Versuch, eine Punkrock-Band zu gründen. Nun sind Sie mit ihrem
jüngsten Spielfilm „Los Lobos“ (dt.: Die Wölfe) wieder zu Gast in der
Sektion „Generation“. Wovon handelt ihr neuer Film?
Samuel Kishi Leopo: Diese Geschichte entstand aus einer Übung, die ich
praktiziere, wenn ich anfange etwas Neues zu schreiben. Ich beginne mit dem
Satz: “Ich erinnere mich, dass …“. Nachdem ich „Somos Mari Pepa“ been…
hatte, gab es viele Ideen für Geschichten, die ich erzählen wollte. Also
setzte ich mich wieder vor ein weißes Blatt. Herausgekommen ist etwas, das
ich als Fünfjähriger mit meiner Mutter erlebt habe. Sie hatte sich von
unserem Vater getrennt und nahm mich und meinen dreijährigen Bruder mit in
die USA, um ein neues Leben zu versuchen. Dort fand sie eine winzige
Wohnung, die in einem sehr gewalttätigen Stadtteil lag. In dem Viertel
lebten Mexikaner, Kambodschaner und hundert andere Nationalitäten. Während
sie zur Arbeit ging, ließ sie uns eingeschlossen im Apartment zurück.
Dann ist der Film über Max, Leo und ihre Mutter Lucía also biografisch
inspiriert?
Ja, wir kamen damals nach Santa Ana in Kalifornien. Als ich dann für den
Film dort recherchierte, musste ich feststellen, dass sich der Ort sehr
verändert hatte. Außerdem war es dort sehr teuer geworden und es gab wenige
Filmteams. Dann aber habe ich in Albuquerque dieses Feeling gefunden, das
mich sehr an das Santa Ana der 1980er Jahre erinnert hat.
Heute sind die Bedingungen für den Grenzübertritt von Mexiko in die USA
vermutlich andere.
Sicher, doch obwohl in unserer kollektiven Vorstellung die Bilder von „La
Bestia“ oder riskanten Flussüberquerungen dominieren, gibt es an einigen
Stellen immer noch Wege, um die Grenze einfacher zu überwinden. Und sehr
viele Menschen kommen dort durch. Besonders die Leute aus den Grenzregionen
kennen die Schlupflöcher und Fallen, die Momente und Unzeiten, wo man
passieren kann oder nicht.
Inzwischen hat das Schicksal der aus Zentralamerika Flüchtenden längst
Eingang in Literatur und Kino gefunden. Überraschenderweise beginnen Sie in
„Los Lobos“ die Geschichte ihrer Protagonisten aber erst hinter der Grenze,
am Busbahnhof von Albuquerque zu erzählen. Was interessierte Sie besonders
an diesem Moment?
Was passiert, wenn wir an einem so leeren wie kalten Ort ankommen? Wann
wird uns dort wieder warm und wie verwandeln wir ihn in unser Zuhause? Wann
betritt man endlich das erhoffte Paradies? Schließlich fühlt man sich als
eine Art Gespenst im System. Etwas, das ich mit meiner Mutter so erlebt
habe und von dem mir auch andere Migranten erzählt haben, ist die
permanente Angst, von den Agenten der Einwanderungsbehörde entdeckt,
festgenommen oder zurückgeschickt zu werden. Man lebt immer im Schatten.
Auf was für eine Welt treffen Max, Leo und ihre Mutter dort in dem
Randbezirk von Albuqerque?
Der Ort an dem wir gedreht haben, wird „War Zone“ genannt. Es ist ein
Viertel, in dem die Leute mit dem Arbeitslosenscheck Essen und Drogen
kaufen, um sich dann zwei Wochen in ihren Häusern einzusperren. Wenn es
Geld gibt, kommen sie wieder raus. Es ist ein Alltag mit vielen Drogen und
viel Einsamkeit. Die Straßen sind tagsüber meist menschenleer – wegen der
Hitze, aber auch weil es wenig Zusammenleben gibt. Ich habe das Viertel als
einen aggressiven, aber paradoxerweise auch herzlichen Ort kennengelernt.
Das hat mir gefallen. Nicht alles ist Dunkelheit. Es gibt Licht. Davon
wollte ich in diesem Film erzählen
Während die beiden Jungen die langen Tage eingeschlossen in dem tristen
Apartment verbringen, beginnen sie ihre Superhelden auf die Wände und
herumliegende Werbezetteln zu zeichnen. In einer Sequenz verwandeln Sie
diese Ninja-Figuren in Animationen.
Ich hatte überlegt, was man diesem traurigen und schmutzigen Ort
entgegensetzen könnte. Die Kinder benutzen das Spiel mit den Superhelden
und die Zeichnungen, um sich in der bedrückenden Situation eine eigene Welt
zu schaffen. Ich fand es deshalb sehr interessant, diese in Animationen mit
dem Film zu mischen.
Auf einem tragbaren Kassettenrekorder hinterlässt Lucía ihren Söhnen
frühmorgens Nachrichten, bevor sie zur Arbeit in eine Großwäscherei
aufbricht. Welche Rolle spielt dieses altmodische Gerät?
Der Kassettenrekorder gehört zu Lucias Vergangenheit. Auf ihm hatte sie
auch ihren Vater auf der Gitarre aufgenommen. Eine der wenigen Dinge, die
wir von ihrem früheren Leben in Mexiko wissen. Und es ist ein Drama als
Leo, der jüngste Sohn, diese Kassette mit dem Lied des Großvaters
kaputtmacht.
Für die Musik in „Los Lobos“ zeichnet Kenji Kishi Leopo verantwortlich.
Kenji ist mein jüngerer Bruder. Er hat die Musik für all meine Projekte
gemacht, auch für „Somos Mari Pepa“. Als ich mit Kenji über diesen Film
sprach, meinte er, „ich habe die ganze Musik schon im Kopf. Ich brauche
eine Woche, um sie aufzuschreiben.“ Der Film erzählt ja auch seine
Geschichte.
Welche Rolle spielt der Sound?
Kenji hat dann jeder Person ein Instrument zugeordnet. Max ist die Gitarre,
die durch den Film streift. Lucía ist ein Piano, aber etwas ernster. Leo
ist auch ein Piano, aber in Moll. So gibt es viele kleine Details, die
zusammen den Klang des Films bilden. Nur zwei Songs sind nicht von Kenji
komponiert – „Cornerstone“ von Benjamin Clementine und ein Lied, das ich
ständig gehört habe, während ich an dem Drehbuch schrieb: „Ojos del Sol“
von einer Band, die La Bamba heißt. Es ist ein Bolero mit den Akkorden
eines Boleros, aber ein postmoderner. Die Sängerin ist eine „Pocha“ wie wir
sagen – eine Mexikanerin der zweiten Generation in den USA und mit einem
Akzent.
Recht improvisiert als Ninja-Kämpfer verkleidet ziehen Max und Leo dann an
der Hand ihrer chinesischen Vermieterin an „Halloween“ durchs Viertel.
Dieser Tag markiert einen Wendepunkt im Film. Warum?
Als Mexikaner sagen sie dir von klein auf, dass der „Día de los Muertos“
uns gehöre und „Halloween“ den US-Amerikanern. Aber wir leben in der Nähe
zu den USA und am Ende mischt sich alles. In dieser Szene hat mir sehr
gefallen, wie die beiden Jungs mit der chinesischen Dame bei ihrem Rundgang
die verschiedenen Traditionen in sich aufnehmen. Es ist ein heller Moment.
Außerdem begegnet Max auf dem Streifzug einem Abhängigen, der aus einer
Glühbirne Drogen raucht. Das ist der Moment, wo der Junge ahnt, wer sein
Vater ist, und intuitiv die Trennung der Mutter zu verstehen beginnt. Das
erlaubt ihm, sie wieder in die Arme zu schließen.
In einem früheren Interview über „Somos Mari Pepa“ sagten Sie mal, dass d…
Leben der Mittelschicht im mexikanischen Kino kaum repräsentiert sei. Zu
welcher sozialen Klasse zählen Sie Lucía?
Ich wollte die Person von Lucía mit einigen Details ausstatten, die sie
eher der unteren Mittelschicht zuordnen. Sie hat eigentlich eine bessere
Ausbildung, als in einer Wäschefabrik an der Mangel zu stehen. Das ist
etwas, das vielen Migranten passiert. Sie erzählen: „In meinem Land habe
ich Ingenieur studiert, hier bin ich Taxifahrer.“ Trotzdem gibt es gute
Gründe, wegzugehen oder vor etwas zu fliehen.
Während meiner Recherche bin ich auf [1][Valeria Luisellis Buch „Das Archiv
der verlorenen Kinder“] gestoßen. Darin vermeidet sie jedes Klischee, und
obwohl sie zu einer privilegierteren Schicht gehört, fühlt sie sich dieser
Gemeinschaft der Migranten zugehörig und begreift ihr Drama vollständig. Es
ist eine Übung der Empathie, die ich auch mit meinem Film im Sinn hatte.
Auf die ein oder andere Weise sind wir alle Migranten. Wenn wir in ein
anderes Viertel, eine andere Stadt oder Land umziehen, erleben wir dieses
Getrenntsein.
22 Feb 2020
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## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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