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# taz.de -- Lila Avilés über ihren Film „Tótem“: „Der Moment, bevor es…
> Sterben und Abschied nehmen: Der Film „Tótem“ ist Mexikos Beitrag für d…
> Oscars. Regisseurin Lila Avilés über Rituale und intuitives Filmemachen.
Bild: Sol (Naíma Sentíes) will ihren Vater an seinem Geburtstag sehen
Tona hat Geburtstag und im Haus der Großfamilie sind die Erwachsenen mit
Vorbereitungen beschäftigt. Seine siebenjährige Tochter Sol beobachtet das
Treiben, ihr unbefangen kindlicher Blick ist offen für die Geheimnisse und
Geister der Familie. Ihr Vater ist sterbenskrank, die Feier wird so auch
ein Abschied. Mit „Tótem“ gelang der mexikanischen Regisseurin Lila Avilés
ein bittersüßes Kinowunder und [1][einer der schönste Filme der
diesjährigen Berlinale], der nun für Mexiko ins Oscarrennen geht.
taz: Frau Avilés, wie kamen Sie auf den Titel Ihres Films?
Lila Avilés: Ich liebe Worte, die viele Bedeutungen haben, wie „Tótem“ od…
„Talisman“. Linguistik fasziniert mich. In jedem Land erzählen mir Leute
etwas anderes, was dieses Tótem ist. Und ich antworte immer sehr
emphatisch: Ja! Auch wenn es ein sehr persönlicher Film ist, sieht jede*r
etwas anderes darin. Er gehört jetzt allen. Das finde ich wundervoll.
Trotzdem bedeutet er etwas für Sie persönlich.
Ich kann nicht anfangen ein Drehbuch zu schreiben, solange ich nicht weiß,
wie der Film heißt. Das Wort „Tótem“ kam mir, als ich ein altes Foto von
meiner Tochter und mir sah, als sie noch sehr klein war, vielleicht vier.
Wir alberten herum, sie saß auf meinen Schultern und wir hatten eine Decke
übergeworfen, so dass nur ihr Kopf zu sehen war und sie wie ein Riese
wirkte. Als ich es sah, dachte ich: wie ein Totem. In dem Moment kamen mir
alle möglichen Assoziationen, ich verband es mit den Totems, die wir aus
indigenen Kulturen kennen, aus Nordamerika, aus Australien, auch hier in
Mexiko von den Tolteken. Ein Totem ist etwas Animistisches, es geht um das
Verhältnis des Tierreichs mit den Menschen, mit dem Stamm. Ab dem Moment
wusste ich, was ich erzählen wollte und ich konnte anfangen zu schreiben.
Sie haben den Film Ihrer inzwischen 17-jährigen Tochter gewidmet. Warum?
Weil es eine sehr persönliche Geschichte ist. Ich wollte etwas
Eindrückliches und Bleibendes für meine Tochter schaffen. Es fiel mir sehr
schwer, eine Distanz zu finden und die Geschichte zugleich lebendig werden
zu lassen. Ich musste sie verfremden, dennoch bleibt sie nah an unseren
Erinnerungen. Der Film ist unser Totem.
Im Zentrum des Films steht die siebenjährige Sol, die beobachtet, wie die
Familie die Geburtstagsfeier für ihren krebskranken Vater vorbereitet.
Warum wollten Sie sich auf diesen Moment konzentrieren?
Ich liebe Rituale. Für mich vereint diese Feier Geburt und Tod
gleichermaßen. Und ich mag es, einen Mikrokosmos zu erschaffen, in dem
alles passiert. Der Film handelt von einer Familie und einem Haus und wie
ein Haus zu einem Heim wird, wie wir leben und Heimat finden, im Kleinen
und in dieser Welt als Ganzes. Das Haus repräsentiert auch Mexiko, wie wir
uns selbst sehen, unsere Vergangenheit, unsere Spiritualität. Wir sind wie
Schlangen, wir legen unsere Häute ab, verändern uns ständig, werden andere,
durch das, was wir erleben. Diese Momente sind es, die zählen. Das Leben
ist unbeständig, ein dauernder Wandel. Es ist wichtig, das wahrzunehmen,
präsent zu sein.
Der Film ist voll von diesen sehr lebendigen, organischen Momenten, bei
denen man sich als Zuschauer wie ein unsichtbarer Beobachter mittendrin
fühlt. Wie sind Ihnen diese gelungen?
Ganz verstehe ich es selbst nicht. Ich bin wahnsinnig intuitiv. Ich habe
nie Film studiert, ich kam als Außenseiterin. Ich verehre [2][Werner
Herzog], ich bin so ein komischer Vogel wie er. Ich liebe es zu spielen,
dem Mysterium des Mediums nachzuspüren. Kino ist letztlich unergründlich.
Schon meinen ersten Spielfilm, „Das Zimmermädchen“, haben in Mexiko viele
für einen Dokumentarfilm gehalten. Für mich liegt alles im Schauspiel, das
so natürlich wie möglich sein soll. Ich liebe die Filme von John
Cassavetes, dieses Vibrierende, selbst wenn es nicht perfekt ist, spürt
man, dass etwas passiert, das echt ist. Viel hat mit der Besetzung zu tun,
mir ist beim Casting wichtig, ein Gespür für die Person zu bekommen. Egal,
ob Profi oder Laie, es sind weniger Sprechproben als intensive Gespräche,
bei denen ich schnell merke, ob jemand offen ist und mir vertraut. Das ist
das A und O. Es geht darum, präsent zu sein, den Moment wahrzunehmen,
darauf lege ich viel mehr wert als auf die richtige Ausleuchtung. Das
bringt mich oft in Schwierigkeiten mit meinen Regieassistenten, weil es mit
mir sehr schwer ist, alles unter Kontrolle zu behalten. Ich probiere aus
und manchmal gelingt ein magischer Moment.
Wie entstand zum Beispiel die lange Feierszene am Ende des Films?
Die haben wir innerhalb von zwei Tagen gedreht. Mir geht es immer um
Freiheit und Intuition, im Leben wie im Beruf. So ticke ich. Meine Mutter
sagte immer: „El trabajo nunca te abandona“ – die Arbeit verlässt dich n…
Beim Dreh reagiere ich auf den Moment, ändere ständig etwas. Es gibt
Regisseure, die für ihren prägnanten Stil bekannt sind. Ich finde die
Geschichte und die Menschen wichtiger, ich passe die Form daran an. Ich
suche nach etwas Wahrhaftigem, der Seele des Films, vielleicht ist das mein
Stil.
Das Spiel Ihrer jungen Hauptdarstellerin Naíma Santíes hat nichts
Aufgesetztes, wirkt natürlich. Wie haben Sie sie gefunden?
Der Film lebt von seinen Figuren, das wusste ich von Anfang an. Ich bin
besessen von naturalistischem Schauspiel. Wir schauten uns kaum mehr als 30
Mädchen an. Naíma hatte noch nie vor einer Kamera gestanden und ihr erstes
Vorsprechen war ein ziemlicher Reinfall. Aber dann fingen wir an, uns zu
unterhalten, mir gefiel, wie sensibel sie über Dinge redete. Ich lernte
Naíma in einer schwierigen Phase kennen. Es war während Covid, sie war
damals acht, hatte ihre Freunde lange nicht gesehen, lebte bei ihrem
Großvater, der sie unterrichtete. Sie wirkte ziemlich verloren. Wir haben
uns auf eine Art gegenseitig gefunden. Ich erkenne viel von mir in ihr
wieder.
Sie verzichten fast komplett auf Filmmusik. Erst im Abspann ist ein Stück
zu hören, das wie das Einstimmen eines Orchesters klingt, eine Art
komponierte Kakofonie.
Wie schön, dass Sie das erwähnen. Es ist der Sound, den ich auf der ganzen
Welt am meisten liebe. Ich komme vom Theater und der Oper, ich habe
jahrelang an Bühnen gearbeitet. Es ist der Moment, bevor es losgeht, ein
magischer Augenblick. Ich setze es an den Schluss des Films, weil ein Ende
auch der Beginn von etwas Neuem ist. Und dann ist eine Mädchenstimme zu
hören. Das ist meine Tochter, eine Aufnahme aus ihrer Kindheit. Ich konnte
den Film nur mit ihr beenden. Sie ist meine härteste Kritikerin, aber als
sie den Film zum ersten Mal sah, im Februar in Berlin, flossen bei uns
beiden die Tränen. Diesen Moment werde ich nie vergessen.
„Tótem“ ist nun der mexikanische Beitrag für die kommenden Oscars. Die
nächsten Monate werden wohl aufregend. Gibt es schon Pläne für die Zeit
danach?
Ich war smart genug, noch vor Berlin ein neues Drehbuch zu schreiben. Das
war mir wichtig, weil ich nicht einschätzen konnte, wie lange ich mit
„Tótem“ um die Welt reisen würde. Und ich hatte Angebote, aus meinem
Debütfilm eine Serie zu machen, habe daran aber kein Interesse: Ich will
meinen eigenen Weg gehen. Und das funktioniert nur, wenn ich nicht zu viel
Zeit zwischen Filmen verstreichen lasse. Aber die Suche nach Geld ist immer
wieder ein Kampf.
7 Nov 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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