# taz.de -- Austausch über Krise der Linken: Gefangen im Nebenwiderspruch | |
> Sahra Wagenknecht und Wolfgang Engler diskutieren über die Krise der | |
> Linken. Wagenknecht macht die Identitätspolitik als Hauptgrund aus. | |
Bild: Sahra Wagenknecht bei Kundgebung der Initiative „Aufstehen“ vor zwei … | |
BERLIN taz | „Eigentlich hätte der Siegeszug des neoliberalen Regimes | |
Wasser auf die Mühlen der Linken sein müssen“, stellt Wolfgang Engler fest. | |
Stattdessen gebe es einen beunruhigenden Aufschwung der neuen extremen | |
Rechten. Warum das so sei? Gemeinsam mit der Linken-Politikerin Sahra | |
Wagenknecht diskutierte der Kultursoziologe und Publizist diese Frage am | |
Donnerstagabend an der Berliner Volksbühne. Von einem Streitgespräch konnte | |
an diesem Abend zwar keine Rede sein, die beiden war sich in nahezu allen | |
Fragen einig. Schließlich sind beide gute Bekannte: Gemeinsam gründeten sie | |
2018 die heute gescheiterte [1][Sammlungsbewegung „Aufstehen“.] | |
Wagenknechts Antwort auf die zentrale Frage des Abends ist eindeutig: „Die | |
Menschen fühlen sich von der Linken nicht mehr ausreichend vertreten, sie | |
fühlen sich im Stich gelassen.“ Klassische linke Wähler*innen hätten sich | |
in den meisten Ländern nach rechts gewandt. Dazu zählten in erster Linie | |
jene aus prekären Milieus sowie die „alte Mittelklasse“. | |
Damit nimmt Wagenknecht Bezug auf das [2][neue Klassenmodell des Soziologen | |
Andreas Reckwitz]: Auf der einen Seite die „neue Mittelklasse“, die | |
überwiegend akademisch geprägt ist sowie liberale Werte und kosmopolitische | |
Lebensformen vertritt. Auf der anderen Seite Menschen mit mittlerer | |
Bildung, die in kleinstädtisch-ländlichen Regionen beheimatet sind und eine | |
eher konservativ-traditionelle Lebensform pflegen – die „alte | |
Mittelklasse“. | |
Wagenknecht wirft den linken Parteien vor, ihre Politik und soziale Basis | |
verändert zu haben: Sozialdemokratische Parteien in Europa hätten das | |
neoliberale Politikmodell übernommen – das sich nun in einem wachsenden | |
Niedriglohnsektor und explodierenden Mieten widerspiegele. Zudem brächten | |
die stark akademisch und großstädtisch geprägten Mitglieder aufgrund ihrer | |
Sozialisierung wenig Verständnis für die Themen auf, die beispielsweise | |
Handwerker, Paketboten oder Putzfrauen bewegten. | |
## Kritik an der neuen, kulturellen Linken | |
Besonders deutlich zeige sich dies, so Wagenknecht, derzeit bei der Debatte | |
um Lebensmittelpreise oder Klimaschutz, bei denen häufig die soziale | |
Dimension missachtet werde. Linke Politik müsse den klaren Anspruch haben, | |
die Schwächeren zu vertreten und vor sozialem Abstieg zu schützen. Nur die | |
Wenigsten wählten autoritäre rechte Parteien wie die AfD aus Überzeugung, | |
vielmehr sei dies für viele Menschen die einzige verbliebene Möglichkeit, | |
ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. | |
Wagenknecht beklagt, dass das Label „links“ heute nicht mehr für | |
Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich stehe, sondern für | |
identitätspolitische Themen sowie eine belehrende Sprache und einen | |
bestimmten Gestus. Damit schlägt sie in dieselbe Kerbe wie andere | |
prominente marxistische Intellektuelle: Der slowenische Philosoph Slavoj | |
Žižek, der österreichische Buchautor Robert Pfaller und die | |
US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser – sie alle verbindet die Kritik | |
an einer neuen kulturellen Linken, die sich mehr um anerkennungspolitische | |
Minderheitenthemen als um die soziale Frage kümmert. | |
Als [3][„progressiven Neoliberalismus“ bezeichnet Fraser] das Phänomen, | |
dass die Progressiven, anstatt den sozialen Ausgleich zu suchen, ihr Wirken | |
auf symbolische Anerkennungspolitik verlagert hätten – und damit ein | |
Bündnis mit den Neoliberalen eingegangen seien. Fraser attackiert jedoch | |
vor allem die Politik der Clintons in den USA und wirbt für eine egalitäre | |
soziale Bewegung, die sich mit der Arbeiterklasse verbündet. Sie steht also | |
für das „sowohl als auch“. | |
## In manchen Momenten verbittert und borniert | |
Anders Wagenknecht. Sie kritisiert vor allem das eine, nämlich die | |
symbolische Anerkennungspolitik: „Ist ja toll, dass wir eine Frauenquote in | |
Aufsichtsräten haben, aber dafür haben wir einen riesigen | |
Niedriglohnsektor, in dem vor allem Frauen arbeiten.“ Wagenknecht | |
kritisiert, dass die Identitätspolitik das Teilende und nicht das | |
Gemeinsame betone. In ihren Augen sollten gemeinsame Interessen und nicht | |
differierende Identitäten im Mittelpunkt stehen. | |
Ein wenig über das Ziel hinaus schießt Wagenknecht, wenn sie | |
Identitätspolitik als „Vollendung des neoliberalen Projekts“ bezeichnet. | |
Schließlich verkennt sie dadurch den absoluten Wert emanzipatorischer | |
Fortschritte im Kampf gegen Diskriminierungsformen aufgrund von Geschlecht, | |
Herkunft oder Sexualität, auch wenn diese die ökonomische Diskriminierung | |
nicht zwangsläufig aufgehoben haben. | |
In diesen Momenten wirkt die Linken-Abgeordnete geradezu verbittert. Mit | |
solchen Positionen hat sie sich in der Vergangenheit nicht nur Freunde | |
gemacht, wie die heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen der | |
letzten Jahre zeigen, die sie letztendlich mit zum Rücktritt vom | |
Fraktionsvorsitz bewogen haben. Ihre ansonsten so rationalen Ausführungen | |
und wichtigen Anliegen schwächt Wagenknecht durch ihre in diesen Fragen | |
teilweise bornierte und polemische Argumentationsweise. Die von ihr | |
eingeforderte Toleranz und Empathie für andere Lebensrealitäten lässt sie | |
an manchen Stellen selbst missen. | |
## Keine geniale Lösung in Sicht | |
Wie kann es nun gelingen, Menschen wieder für linke Politik zu gewinnen? | |
Wagenknecht und Engler blicken nach Frankreich, wo neoliberale | |
Rentenreformen massive Massenproteste zur Folge hatten. Doch auch dort | |
hätten die Aufstände die Mehrheitsverhältnisse im Land nicht | |
durcheinandergewürfelt. | |
Etwas resigniert stellt Engler fest, dass weder die Mobilisierung von | |
unten, wie im Falle Frankreichs, noch das von oben implementierte | |
„Aufstehen“-Projekt von Wagenknecht in Deutschland funktioniert hätten. | |
Dafür weiß auch die Linken-Politikerin keine überzeugende Lösung. | |
In ihrem nächsten Buch wolle sie genau dieser Frage nachgehen und | |
untersuchen, warum es der gesellschaftlichen Linken nicht gelingt, die | |
Stimmung der Unzufriedenheit erfolgreich aufzugreifen, sagt Wagenknecht. | |
Denn von einem ist sie überzeugt: „Eigentlich müsste die Linke einen Hype | |
haben.“ | |
14 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Linke-Sammlungbewegung-vor-dem-Start/!5529540 | |
[2] /Soziologe-ueber-die-neue-Mittelklasse/!5523416 | |
[3] /Nancy-Fraser-ueber-Populismus/!5402332 | |
## AUTOREN | |
Georg Sturm | |
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